MKL1888:Wahrscheinlichkeit
[332] Wahrscheinlichkeit (Probabilitas), der Grad der Zuverlässigkeit, mit welchem man den Eintritt oder den Nichteintritt eines Ereignisses erwartet. Im gewöhnlichen Leben bezeichnet man etwas als wahrscheinlich, wenn die für eine Annahme sprechenden Gründe die Gegengründe überwiegen oder auch nur zu überwiegen scheinen; das Gegenteil hält man dann für wenig wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Unter mathematischer W. eines Ereignisses versteht man einen Bruch, dessen Zähler gleich der Anzahl der dem Eintreten dieses Ereignisses günstigen Fälle und dessen Nenner gleich derjenigen aller möglichen Fälle ist, vorausgesetzt, daß alle Fälle gleich möglich sind. Fragt man z. B. nach der W., auf einen Wurf mit 2 Würfeln 9 Augen zu werfen, so ist die Anzahl der günstigen Fälle 4; denn man erhält 9 Augen, wenn man mit dem ersten Würfel 6 und mit dem zweiten 3, oder mit jenem 5 und mit diesem 4, oder mit jenem 4 und mit diesem 5, oder mit jenem 3 und mit diesem 6 wirft. Die Anzahl der mit 2 Würfeln möglichen Würfe ist aber , denn jeder der 6 Würfe des ersten Würfels kann mit jedem der 6 Würfe des zweiten zusammen vorkommen. Sonach ist die gesuchte W. . In solchen und ähnlichen Fällen, namentlich wenn es sich um W. beim Spiel handelt, ist die Ermittelung der Anzahl der günstigen und der möglichen Fälle Sache der Kombinationslehre. Im Versicherungswesen wird die W., welche den Rechnungen zu Grunde gelegt werden soll, aus einer sehr großen Anzahl von Beobachtungen bestimmt. Je größer diese Zahl und je größer die Zahl der Fälle ist, für welche die Rechnung angestellt wird, um so zuverlässiger ist das Ergebnis der letztern. Nach der deutschen Sterbetafel erreichen von 54,454 Männern von 30 Jahren 48,775 das 40. Lebensjahr. Daher ist für einen 30jährigen die W., noch 10 Jahre zu leben, . Von vielen Tausenden wird auch dieser Bruchteil nach 10 Jahren annähernd noch am Leben sein. Man spricht von einer einfachen W., wenn nur ein Ereignis in Frage kommt; von einer zusammengesetzten W., wenn es sich um das Zusammentreffen mehrerer Ereignisse handelt. Ist die einfache W. für einen Mann, noch 10 Jahre zu leben, gleich 0,7, die einfache W. für seine Gattin, bis dahin noch zu leben, gleich 0,8, so ist die zusammengesetzte W., daß beide am Leben bleiben werden . Die weitere Entwickelung der im Begriff der W. liegenden Aufgaben fällt der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu, deren erste Anfänge sich in dem Briefwechsel von Fermat und Pascal finden, und die dann von Huygens, Jak. Bernoulli, Moivre, Laplace u. a. weiter entwickelt worden ist. Vgl. Cantor, Historische Notizen über die Wahrscheinlichkeitsrechnung (Halle 1874); Laplace, Théorie analytique des probabilités (Par. 1812) und „Essai philosophique sur les probabilités“ (das. 1814; deutsch von Schwaiger, Leipz. 1886); Littrow, Wahrscheinlichkeitsrechnung in ihrer Anwendung (Wien 1832); Hagen, Grundzüge der Wahrscheinlichkeitsrechnung (3. Aufl., Berl. 1882); Meyer, Vorlesungen über Wahrscheinlichkeitsrechnung (deutsch von Czuber, Leipz. 1879); Kries, Die Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung (Freib. i. Br. 1886).
Ein besonders wichtiger Teil der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist die Methode der kleinsten Quadrate, [333] welche aus Beobachtungen, die mit Fehlern behaftet sind, die wahrscheinlichsten Werte berechnen lehrt. Der wahrscheinlichste Wert ist derjenige, für welchen die Summe der Quadrate der Beobachtungsfehler am kleinsten wird, wobei jeder einzelne Fehler mit dem Gewicht der betreffenden Beobachtung zu vervielfachen ist. Darf angenommen werden, daß während der Untersuchungen keine Änderung in der Grundwahrscheinlichkeit eingetreten ist, so ist, wie z. B. bei Messung von Winkeln, Linien etc., die wahrscheinlichste Größe gleich dem arithmetischen Mittel aus allen Beobachtungen. Dieses Prinzip ist zuerst von Gauß (1795) entdeckt worden, dem auch die Methode ihre weitere Entwickelung verdankt; doch ist Legendre (1805) ihm in der Veröffentlichung des Prinzips zuvorgekommen. Vgl. Encke im „Berliner astronomischen Jahrbuch“, Jahrg. 1834–36; Dienger, Ausgleichung der Beobachtungsfehler (Braunschw. 1857); Jordan, Handbuch der Vermessungskunde (3. Aufl., Stuttg. 1888, 2 Bde.); Vogler, Grundzüge der Ausgleichungsrechnung (Braunschw. 1883); Gauß, Abhandlungen zur Methode der kleinsten Quadrate (deutsch von Börsch und Simon, Berl. 1887).