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MKL1888:Volksküchen

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Volksküchen“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Volksküchen“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 16 (1890), Seite 265
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Volksküchen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 16, Seite 265. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Volksk%C3%BCchen (Version vom 18.04.2024)

[265] Volksküchen, Wohlthätigkeitsanstalten, in denen arme Leute mit nahrhafter Suppe entweder unentgeltlich oder gegen geringe Entschädigung versorgt werden. Die V. traten besonders 1813 und in dem Hungerjahr 1816/17 ins Leben, obgleich die Idee derselben schon gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts von Rumford ausgesprochen worden war, und fanden in den letzten 15 Jahren besonders durch die Thätigkeit der Frauenvereine (s. d., S. 629) allgemeinen Eingang. Die erste größere, auf dem Prinzip der Selbsterhaltung beruhende Anstalt wurde 1849 in Leipzig gegründet (die zweite daselbst 1871); ihr folgten Dresden 1851, Berlin 1866 (das daselbst in den 50er Jahren gegründete Institut von Ravené bestand nur kurze Zeit), Prag, Brüssel, Breslau 1868, Graz und Hamburg 1869, Straßburg 1870, Wien 1873 etc. Einem großen Teil der deutschen (auch einigen ausländischen) V. haben die Einrichtungen der Leipziger Anstalt als Vorbild gedient. In allen V. wird durchschnittlich 1 Lit. Gemüse in Bouillon gekocht und ca. 1/12 kg Fleisch gegeben, die Preise dafür schwanken zwischen 15 und 25 Pf. In manchen Gegenden muß man sich durch Mehrlieferung (Abgabe von weitern halben Portionen) den betreffenden Gewohnheiten anfügen. Die Berliner V., von Lina Morgenstern gestiftet, vermochten einen Unterstützungsfonds anzusammeln. Die Erfahrungen derselben lehrten, daß sogen. halbe Portionen für Frauen und Kinder zur Ernährung vollkommen ausreichen. Näheres über V. enthält der als Manuskript gedruckte Bericht von Jul. Häckel über das 25jährige Bestehen der Leipziger Volksküche (3. Aufl. 1886).


Jahres-Supplement 1891–1892
Band 19 (1892), Seite 955956
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[955] Volksküchen. In den 14 Berliner V. wurden 1890 verabreicht: Mittags 111,397 ganze Portionen à 25 Pf., 1,721,605 halbe Port. à 15 Pf., 312,852 Tassen Kaffee à 5 Pf., außerdem unentgeltlich an Arme 5296 ganze und 34,174 halbe Portionen. Abends wurden verabreicht 89,773 Portionen à 10 Pf., 160,775 Portionen à 6 Pf., 65,485 Portionen à 5 Pf., 113,098 Portionen à 8 Pf., im ganzen 2,614,455 Portionen. Zur Beurteilung der Leistungen und der wirtschaftlichen Bedeutung der V. dient in erster Linie das Mengenverhältnis der verabreichten Nährstoffe. Voit fordert für den Arbeiter 59 g Eiweiß, 34 g Fett und 160 g Kohlehydrate. Man kann allenfalls für Eiweiß auch 48 und für Fett 26 g als zulässig erachten, diese Minimalgrenze darf aber nicht überschritten werden, ohne den Organismus dauernd zu schädigen, denn ein geringeres Kostmaß ist nicht im stande, den durch schwere Arbeit bedingten Stoffverlust genügend zu ersetzen. Nach Meinert enthält die Portion (25 Pf.) der V. in Dresden im Mittel 37 g Eiweiß, 10 g Fett [956] und 100 g Kohlehydrate; in den Berliner V. kommen auf die Portion (25 Pf.) 38–47 g Eiweiß, 9–23 g Fett und 142–193 g Kohlehydrate. Die Hamburger Volksküche liefert für 30 Pf. ein Mittagsessen mit durchschnittlich 50 g Eiweiß, 11 g Fett und 187 g Kohlehydraten, die Bremer 44,85 g Eiweiß, 40,07 g Fett und 128,14 g Kohlehydrate. Hiernach leistet Bremen am meisten, und besonders zu rühmen ist der hohe Fettgehalt der Kost, der in den meisten V. recht niedrig ist. Nach Pettenkofer und Voit steigt bei der Arbeit der Fettverbrauch erheblich, und zwar bei Nahrungsenthaltung um 77 Proz., während er bei gleichzeitiger Nahrungsaufnahme 2,66 mal so groß ist als in der Ruhe. Nach Voit werden bei intensiver Arbeit pro Stunde 8,2 g Fett mehr als bei Ruhe zerstört, und mithin muß der angestrengt thätige Mensch wesentlich mehr Fett aufnehmen als der ruhende. Findet diese Zufuhr von Fett nicht statt, so verarmt der Körper an Fett, und hiermit geht alsbald auch eine Steigerung des Eiweißverbrauches Hand in Hand. Die Kohlehydrate sind nur bis zu einem gewissen Grade im stande, das Nahrungsfett zu ersetzen und einen Verlust an Körperfett zu verhüten. Dazu kommt, daß 100 Teilen Fett 240 Teile Kohlehydrate gleichwertig sind, und daß einem angestrengten Arbeiter neben Eiweiß für den Tag mindestens 700 g Kohlehydrate gereicht werden müßten, um den erhöhten Fettverbrauch zu paralysieren. Eine derartige Ernährung würde daher den Darmkanal auf die Dauer außerordentlich belasten und schädigen. Hiernach muß man einen hinreichend hohen Fettgehalt der Kost in V. fordern, und wenn sich dadurch die Ausgaben erhöhen, so ist zu beachten, daß dies im Interesse der Diätetik geschieht, und daß keine Kost leichter und nachhaltiger sättigt als eine fette. Die verschiedenen Rezepte, welche für V. gegeben worden sind, haben mehr oder weniger nur lokalen Wert, denn es ist eine der wesentlichsten Aufgaben der V., sich der Geschmacksrichtung der jeweiligen Gegend anzupassen. Soll in V. auch Abendbrot verabreicht werden, so sind für dieses vom Tagesbedarf etwa 28 Proz. Eiweiß, 26 Proz. Fett und 29 Proz. Kohlehydrate oder 33 g Eiweiß, 16 g Fett und 145 g Kohlehydrate zu verwenden.

Seit etwa 10 Jahren hat in England die Bewegung für Gründung von Volkskaffeehäusern zum Zweck der Bekämpfung des Alkoholgenusses große Ausdehnung gewonnen. Selbst in kleinen und kleinsten Orten Englands findet man derartige Einrichtungen. In den größern Städten haben meist Aktiengesellschaften die Gründung von Volkskaffeehäusern übernommen, und in England allein, ohne Schottland und Irland, gibt es 76 Gesellschaften mit einem nominalen Kapital von 426,000 Pfd. Sterl., welche Dividende bis zu 10 Proz. verteilen. Auch in Deutschland hat man derartige Einrichtungen geschaffen, welche, auf sicherer kaufmännischer Grundlage beruhend, Kaffee und andre Getränke, außer Branntwein, und Eßwaren jeder Art zu billigsten Preisen verabfolgen und möglichst behagliche, für Männer und Frauen gesonderte Räumlichkeiten darbieten. Ein großes Unternehmen in Hamburg hat die günstigsten Erfolge erzielt und in vielen Städten Deutschlands Nachahmung gefunden. Eine in Berlin 1889 gegründete Volkskaffee- und Speisehallen-Gesellschaft entwickelte sich sehr zufriedenstellend und verabreichte 1890 in ihrer vorläufig noch einzigen Halle unter anderm 306,500 Tassen Kaffee à 5 Pf., 27,300 Gläser Milch à 5 Pf., 17,400 Seidel Bier à 10 Pf., 83,700 Seidel à 5 Pf. Frühere Einrichtungen, welche speziell den Zweck verfolgen sollten, den Arbeiter vom Alkoholgenuß abzuhalten und ihm als Ersatz Kaffee und Thee für wenig Geld zu liefern, haben keinen Erfolg gehabt. Man mußte einsehen, daß ein mäßiger Genuß von Bier zu gestatten sei, falls man überhaupt Gäste in den Räumen sehen wolle, als aber einmal dem Alkohol der Zugang gestattet war, da schwand das Interesse an diesen Unternehmungen, deren Gründer vollständige Enthaltsamkeit verlangten. Vgl. Meinert, Armee- und Volksernährung (Berl. 1880); Derselbe, Fliegende Volks- und Arbeiterküchen (das. 1882); Munk und Uffelmann, Die Ernährung des gesunden und kranken Menschen (2. Aufl., Wien 1891); Voit, Untersuchung der Kost in öffentlichen Anstalten (Münch. 1877); Lina Morgenstern, Die Berliner V. (Berl. 1870); Dieselbe, Rezepte der Berliner V. (4. Aufl., das. 1883); Jentsch, Das Kaffee-, Thee- und Speisehaus in Berlin (das. 1879).