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MKL1888:Statístik

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Statístik“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Statístik“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 15 (1889), Seite 241243
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Statístik. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 15, Seite 241–243. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Stat%C3%ADstik (Version vom 02.02.2022)

[241] Statístik (v. lat. status oder ital. stato, Staat), ursprünglich die beschreibende Darstellung von Staat (Verfassung, Verwaltung) und Bevölkerung nach ihren bemerkenswerten Seiten. Solche Darstellungen, einem praktischen Bedürfnis für militärische und finanzielle Zwecke entsprungen, kamen bereits im Altertum vor. In China, Ägypten und bei den Juden wurden schon frühzeitig regelmäßige Volkszählungen vorgenommen. Dann hatte Rom einen entwickelten Zensus aufzuweisen, während das Mittelalter für eine S. und deren Ausbildung keine Gelegenheit bot. Erst nach dem 15. Jahrh. macht sich wieder das Bedürfnis geltend, die eigne und die fremde Lage kennen zu lernen, welchem in Frankreich unter Sully durch Schaffung einer Art statistischen Büreaus genügt wurde. Die wissenschaftliche Behandlung der S. nahm ihren Anfang in der Mitte des 17. Jahrh. In Deutschland entwickelte sich zuerst die beschreibende Schule der S., welche dieselbe in dem oben genannten Sinn auffaßte. Als Schöpfer derselben gilt H. Conring (1606–81, s. d.), welcher [242] 1660 den üblichen Universitätsvorlesungen eine neue, aus Geographie, Geschichte und Politik abgesonderte Disziplin als Notitia rerum publicarum hinzufügte, in welcher er die Staatszustände zusammenhängend darstellte. Achenwall (1719–72), ein fleißiger Sammler, stellt den Begriff genauer fest und führt auch die Bezeichnung S. als Kenntnis der Staatsmerkwürdigkeiten ein. Auf gleichem Boden steht sein Schüler Schlözer (1735–1809), welcher der damaligen Heimlichkeit in Staatssachen gegenüber mit einem gewissen Freimut die politischen Ereignisse zum Gegenstand der Besprechung in Vorlesungen machte. Von ihm stammt die bekannte Definition: „S. ist stillstehende Geschichte, Geschichte ist fortlaufende S.“ Gegenüber der ethnographischen Methode der S., welche jedes Volk für sich behandelte, führte Büsching (1724–93) die vergleichende Methode ein, indem er bei sachlicher Gliederung des Stoffes zwischen den entsprechenden Zuständen verschiedener Länder eine Parallele zog. Bald machte sich das Bedürfnis geltend, die gesammelten Zahlen der S. übersichtlich in Tabellenform zu ordnen und dieselben auch durch graphische Darstellung zu veranschaulichen (Crome, 1782). Dies führte zu einem lebhaften Streit zwischen der Göttinger Schule (Anhänger Schlözers) auf der einen und den von denselben so betitelten Linear- oder Tabellarstatistikern auf der andern Seite. Der Kampf war insofern ein verfehlter, als für statistische Darstellungen weder die Größenangabe (Zahl) noch der Wortausdruck entbehrt werden kann. Von jeher waren die Ansichten über das Gebiet der S. geteilt gewesen. Die einen beschränkten es auf den Staat und staatliche Verhältnisse (Staatsverfassung, Darstellung der Staatskräfte), andre dehnten es auf alle gesellschaftliche Thatsachen (faits sociaux) aus, wieder andre überhaupt auf alle Erscheinungen, an denen ein Dasein, Entstehen und Vergehen wahrnehmbar sei (also auch Naturerscheinungen). Verlangten die einen, daß die S. sich nur auf Schilderung der Erscheinungen der Gegenwart beschränken solle, daß jedes statistische Datum neu sein müsse, da sich die Vergangenheit nicht beobachten lasse, so gingen sie zum Teil selbst wieder von dieser Forderung ab, indem sie auch Einsicht in die Zustände bieten, den jetzigen Zustand aus dem frühern begreiflich machen wollten (pragmatische S. nach Achenwall). Man verwechselte hierbei die einfache Beobachtung, Erhebung und Aufzeichnung des statistischen Materials mit der wissenschaftlichen Verarbeitung desselben. Die Beobachtung kann nur die Gegenwart erfassen, die Zusammenstellung der durch eigne oder (meist) fremde Beobachtung gewonnenen Ergebnisse erstreckt sich bereits auf die Vergangenheit, und für die wissenschaftliche Verwertung kann es ganz gleichgültig sein, welcher Zeit das Material angehört. Eine weitere Streitfrage war früher die, ob die S. sich auf solche Thatsachen zu beschränken habe, welche sich durch Zahlen wiedergeben lassen (nach M. de Jonnés: faits sociaux, exprimés par des termes numériques). Die moderne S. befaßt sich allerdings vorzüglich mit Größen und deren Vergleichung, auch erblickt das gewöhnliche Leben allgemein in der S. eine Wissenschaft, welche es mit Zahlen und zwar mit Massen von Zahlen zu thun hat, wobei freilich nicht zu übersehen, daß Größenangaben in allen Gebieten der Natur und des gesellschaftlichen Lebens möglich sind.

Die heutige Richtung der S. hat ihren Ausgangspunkt in England, und zwar entwickelte sie sich aus der politischen Arithmetik, d. h. derjenigen Wissenschaft, welche mathematische Rechnungen auf das Finanzwesen anwandte. Anlaß zur Förderung derselben gaben vorzüglich das Versicherungswesen und die im 17. Jahrh. in Aufnahme gekommenen Glücksspiele. Letztere gaben ihrerseits Anstoß zur Entstehung und Ausbildung der Wahrscheinlichkeitsrechnung (Huygens, Fermat, Pascal, Bernoulli), welche eine unentbehrliche Grundlage für wichtige Zweige der politischen Arithmetik und der S. wurde. Letztere begann sich bald von der erstern abzuzweigen, ohne daß jedoch, sofern nicht unter der politischen Arithmetik lediglich die Zins- und Arbitragerechnung verstanden wird, eine scharfe Scheidung überhaupt möglich ist. Nachdem Graunt (1660), dann Pettey, Halley, Kerseboom, Deparcieux sich mit Berechnung der Sterblichkeit und mit Aufstellung von Sterblichkeitstafeln befaßt hatten, gab Süßmilch (1707–67) in seiner „Göttlichen Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts“ (1742) überhaupt dem Gedanken Ausdruck, daß im gesellschaftlichen Leben gewisse Regelmäßigkeiten beobachtet werden könnten, welche freilich nicht in einzelnen, sondern in einer großen Zahl von Fällen hervortreten. Diesen Gedanken verfolgte Quételet weiter, und es wird jetzt an Stelle der frühern einfachen Beschreibung die S. zu einer Wissenschaft der umfassenden Durchzählung verwandter Fälle und Vorgänge, um aus derselben Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Dieselbe erstreckt sich auf alle diejenigen Gebiete, auf welchen im einzelnen eine bunte individuelle Mannigfaltigkeit in Erscheinung tritt, während durchschlagende Ursachen und Beweggründe erst aus einer großen Zahl von Fällen erkennbar sind. So kann in wenigen Familien eine verhältnismäßig große Zahl von Totgeburten eintreten, während in andern gar keine vorkommt. Faßt man aber eine große Zahl zusammen, so nähert man sich einer Mittelzahl (Prozent), von welcher die zu einer andern Zeit oder in einem andern Gebiet für große Zahlen gewonnenen Ergebnisse nur wenig abweichen werden. Voraussetzung hierfür ist, daß die verglichenen Zustände nicht wesentlich voneinander verschieden sind. Solche durchschlagende Einflüsse, mögen sie nun das Bestreben haben, einen Zustand der Beharrung zu bewirken oder Veränderungen zu veranlassen, können nicht allein da festgestellt werden, wo der menschliche Wille keine Rolle spielt, sondern auch in der Welt der sittlichen Thatsachen, in welcher ebenfalls nachgewiesen werden kann, daß bei aller Freiheit des Willens die menschlichen Handlungen doch wesentlich durch Naturumgebung, gesellschaftliche Verhältnisse, Erziehung etc. beeinflußt werden, indem je nach gegebenen äußern Verhältnissen solche Handlungen eben als die vernünftigen erscheinen.

Eine richtige Ermittelung der Wirkung jener durchschlagenden Ursachen und damit dieser selbst ist ohne mathematische Behandlung nicht möglich und darum die mathematische S. unentbehrlich. Letztere ist insbesondere in der neuern Zeit in ihrer Anwendung auf Versicherungs- und Bevölkerungswesen durch Wittstein, Zeuner, Knapp, Lexis gefördert worden. Je nach den Gebieten, welche einer statistischen Betrachtung unterworfen werden, unterscheidet man Ackerbau-, Forst-, Gewerbe-, Handels-, Post-, Eisenbahn-, Medizinal-, Kriminal-, Moral-, Bevölkerungsstatistik etc. Im engern Sinn wird heute auch oft die S. als eine auf die gesellschaftlichen Erscheinungen (Volk und Staat) beschränkte Disziplin aufgefaßt (vgl. Demographie), während die Methode der S. in allen Gebieten, auch in denen der Naturwissenschaften (Meteorologie), anwendbar sei. Die Sammlung des statistischen Materials ist nun Einzelnen selten in [243] genügendem Umfang möglich (Privatstatistik), sie bildet vorzüglich eine Aufgabe von Staat und Gemeinden und in zweiter Linie als Ergänzung von Vereinen. Infolgedessen ist denn die S. vorwiegend amtliche S. Die erste Organisation derselben erfolgte 1756 in Schweden, wo eine „Tabellenkommission“ jährlich Nachweisungen über die Bewegung der Bevölkerung lieferte. Ferner wurden eigne mit der Ansammlung, Ordnung und Veröffentlichung des statistischen Materials betraute Stellen (statistische Büreaus) errichtet in: Frankreich (1796 vorübergehend, dann 1800), Bayern (1801, Hermann, Mayr), Italien (1803, Bodio), Preußen (1805 von Stein gegründet, Krug, J. G. Hoffmann, Dieterici, Engel, Blenck), Österreich (1810, Czörnig, Ficker), Belgien (1831), Griechenland (1834), Hannover, Holland (1848), Sachsen (1849, von Engel gegründet, Petermann, Böhmert), Kurhessen, Mecklenburg (1851), Braunschweig (1853), Oldenburg (1855), Rumänien (1859), in der Schweiz (1860), im Großherzogtum Hessen (1861), in Serbien (1862), den vereinigten thüringischen Landen (in Jena, 1864, jetzt Weimar) etc. Das 1872 ins Leben gerufene „Statistische Amt des Deutschen Reichs“ verarbeitet die Erhebungen der einzelnen Landesbüreaus und der Reichs- und Zollvereinsbehörden. Meist sind die Büreaus Zentralstellen, welchen in mehreren Ländern für Beratungen über die Art der auszuführenden Arbeiten noch eigne aus Mitgliedern verschiedener Verwaltungszweige, Volksvertretern und Theoretikern bestehende statistische Zentralkommissionen beigegeben sind. Seit neuerer Zeit haben auch die meisten Großstädte eigne statistische Büreaus errichtet. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts wurden die Arbeiten der statistischen Büreaus ziemlich geheim gehalten; seitdem hat man überall mit regelmäßigen amtlichen statistischen Veröffentlichungen in Form von Zeitschriften, Jahrbüchern etc. begonnen, neben welchen als private Unternehmungen das „Journal of the Statistical Society“ (London) und das „Journal de la Société de statistique“ (Paris) zu nennen sind. Eine internationale S. ist schwer durchführbar, insbesondere deswegen, weil die Begriffe, welche den Gegenstand statistischer Ermittelung bilden, nicht überall die gleichen sind. Volle Gleichheit läßt sich auf vielen Gebieten wegen der Verschiedenartigkeit in den Verwaltungseinrichtungen, Volksleben, Gebräuchen etc. nicht erzielen. Die besonders auf Quételets Anregung geschaffenen internationalen statistischen Kongresse, welche stattgefunden haben in Brüssel (1853), Paris (1855), Wien (1857), London (1860), Berlin (1863), Florenz (1867), Haag (1869), St. Petersburg (1872), Pest (1876), hatten es sich zur Aufgabe gemacht, Einheit in die amtlichen Statistiken der verschiedenen Staaten zu bringen und gleichförmige Grundlagen für die statistischen Arbeiten zu erlangen. 1885 wurde in London ein „internationales[WS 1] Institut der S.“ mit dem Sitz in Rom gegründet, welches das „Bulletin de l’Institut international de statistique“ herausgibt. Weiteres s. in den Artikeln: Bevölkerung, Gewerbe-, Handels-, Kriminal-, Moralstatistik und Statistische Darstellungsmethoden.

Vgl. Fallati, Einleitung in die Wissenschaft der S. (Tübing. 1843); A. Quételet, Sur l’homme (Par. 1835; deutsch, Stuttg. 1838); Derselbe, Physique sociale (Brüssel 1869, 2 Bde.); Knies, Die S. als selbständige Wissenschaft (Kassel 1850); Jonak, Theorie der S. (Wien 1856); Rümelin, Reden und Aufsätze (Tübing. 1875); Ad. Wagner (in Bluntschlis „Staatswörterbuch“); M. Haushofer, Lehr- und Handbuch der S. (2. Aufl., Wien 1882); Block, Traité théorique et pratique de statistique (Par. 1878; deutsch von v. Scheel, Leipz. 1879); Wappäus, Einleitung in das Studium der S. (das. 1881); Meitzen, Geschichte, Theorie und Technik der S. (Berl. 1886); Gabaglio, Teoria generale della statistica (2. Aufl., Mail. 1888); John, Geschichte der S. (Stuttg. 1884 ff.); R. Böckh, Die geschichtliche Entwickelung der amtlichen S. des preußischen Staats (Berl. 1863); Puslowski, Das königlich preußische Statistische Büreau (das. 1872); Klinckmüller, Die amtliche S. Preußens im vorigen Jahrhundert (Jena 1880); Mayr, Die Organisation der amtlichen S. (Münch. 1876). Als Sammlungen wichtiger statistischer Thatsachen sind zu erwähnen: der „Gothaische Genealogische Hofkalender“ und O. Hübners „Statistische Tafel“ (Frankf. a. M., jährlich erscheinend); Kolb, Handbuch der vergleichenden S. (8. Aufl., Leipz. 1879); Brachelli, Die Staaten Europas (4. Aufl., Brünn 1884).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: internationa-|nales