MKL1888:Spinōza
[157] Spinōza (eigentlich d’Espinosa), Baruch (Benedikt), berühmter Philosoph, geb. 24. Nov. 1632 zu Amsterdam als Sohn jüdischer Eltern portugiesischen Ursprungs, ward zum Rabbiner gebildet, aber seiner freien Religionsanschauungen wegen aus der Gemeinde ausgestoßen, verließ seine Vaterstadt und ließ sich nach wechselndem Aufenthalt im Haag nieder, wo er, um seine Unabhängigkeit zu bewahren, sich seinen Unterhalt durch Unterrichterteilung und durch Schleifen optischer Gläser erwarb. Eine ihm vom Kurfürsten von der Pfalz angebotene Professur zu Heidelberg sowie eine ihm von seinem Freund Simon de Vries zugedachte Erbschaft schlug er aus gleichem Grund aus und starb arm, unvermählt und unberühmt 21. Febr. 1677 in Scheveningen an der Lungenschwindsucht. Über die innere Entwickelung seines Gedankenkreises weiß man wenig. Einerseits ist die talmudistische Vorschulung, anderseits das Studium der Cartesianischen Schriften in Anschlag zu bringen. Die erste Jugendarbeit Spinozas war eine verhältnismäßig unselbständige Darstellung der Cartesianischen Prinzipien nach seiner Lieblingsmethode, der geometrischen des Eukleides. Hierauf folgte der „Theologisch-politische Traktat“ („Tractatus theologico-politicus“) und zwar anonym (1670). Das epochemachende Hauptwerk, die „Ethik“ („Ethica“), obgleich seinen Hauptzügen nach als ursprünglich in holländischer Sprache abgefaßter, erst neuerlich (durch van Vloten) wieder aufgefundener Traktat „Von Gott und dem Menschen“ in früher Zeit vollendet, wurde erst nach seinem Tod von seinem Freunde, dem Arzt Ludwig Mayer, herausgegeben. Zwei unvollendete, ebenfalls nachgelassene Schriften, der „Politische Traktat“ u. die „Abhandlungen über die Verbesserung des Verstandes“ („De intellectus emendatione“), kamen hinzu. Spinozas epochemachende „Ethik“ ist der Form nach, im Gegensatz zu der analytischen (regressiven, von den Folgen auf die Gründe zurückgehenden) Denkweise des Descartes, in synthetischer (progressiver, von dem ersten Grund zu den äußersten Folgerungen fortschreitender) Darstellung und nach der Methode des Eukleides in Grundbegriffen, Axiomen, Theoremen, Demonstrationen und Korollarien abgefaßt, wodurch sie (gleich ihrem Vorbild) den Anschein unumstößlicher Gewißheit empfängt. Dem Inhalt nach stellt dieselbe gleichfalls einen Gegensatz zum Cartesianismus dar, indem an die Stelle der dualistischen eine monistische Metaphysik tritt. Spinozas Philosophie knüpft daher zwar an die des Descartes (s. d.) an, aber nur, um dessen System der Form und dem Inhalt nach aufzuheben. Dieselbe ist mit ihrer Vorgängerin zwar darüber einverstanden, daß Geist, dessen Wesen im Denken, und Materie, deren Wesen in der Ausdehnung besteht, einen (qualitativen) Gegensatz bilden, jener ohne das Merkmal der Ausdehnung, diese ohne das des Denkens gedacht werden kann. Aber S. leugnet, daß derselbe ein Gegensatz zwischen Substanzen (Dualismus) sei, sondern setzt ihn zu einem solchen zwischen bloßen „Attributen“ einer und derselben Substanz (Monismus) herunter. Da nämlich aus dem Begriff der Substanz, d. h. eines Wesens, das seine eigne Ursache (causa sui) ist, folgt, daß es nur eine einzige geben kann, so können Geist und Materie (die zwei angeblichen Substanzen des Cartesianismus, zwischen welchen ihres Gegensatzes halber keine Wechselwirkung möglich sein soll) nicht selbst Substanzen, sondern sie müssen Attribute einer solchen (der wahren und einzigen Substanz) sein, welche an sich weder das eine noch das andre ist. Diese (einzige) Substanz, welche als solche mit Notwendigkeit existiert, und zu deren Natur die Unendlichkeit gehört, nennt S. Gott (deus), dasjenige, was der Verstand (intellectus) von derselben als deren Wesen (essentia) ausmachend erkennt, Attribut, die Substanz selbst bestehend aus unendlichen Attributen, deren jedes (nach seinem Wesen) deren ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt. Zwei derselben (die einzigen, deren S. Erwähnung thut) sind nun Denken und Ausdehnung (dieselben, welche, nach Descartes, als Wesen des Geistes und der Materie diese zu zweierlei entgegengesetzten Substanzen machen sollten); unter dem erstern aufgefaßt, erscheint die Substanz dem Intellekt als das unendliche Denkende (als unendliche Geisteswelt), unter dem zweiten aufgefaßt, als das unendlich Ausgedehnte (als unendliche Stoffwelt); beide sind, da außer Gott keine andre Substanz existiert, der Substanz nach identisch (keine qualitativ entgegengesetzten Substanzen mehr, daher der Cartesianische Einwand gegen die Möglichkeit der Wechselwirkung zwischen Geist und Materie, Seele und Leib, beseitigt erscheint). Das unendliche (als solches unbestimmte) Denken zerfällt durch (inhaltliche) Bestimmung in unzählig viele Gedanken (Ideen); die unendliche (als solche unbegrenzte) Ausdehnung zerfällt durch (räumliche) Begrenzung in unzählig viele Stoffmassen (Körper), die sich untereinander ebenso gegenseitig ausschließen, als sich (in stetiger Reihenfolge) gegenseitig berühren. S. bezeichnet dieselben als Modi, d. h. als Affektionen der Substanz, die Ideen als solche, insofern die Substanz unter dem Attribut der denkenden, die Körper als solche, insofern sie unter dem Attribut der ausgedehnten Wesenheit vorgestellt wird. Da beide Attribute der Substanz nach identisch sind, das unendliche Denken aber der Summe aller einzelnen Denkbestimmungen (Ideen), die unendliche Materie der Summe aller einzelnen begrenzten Stoffteile (Körper) gleich ist, so müssen auch diese beiden in ihrer stetigen Reihenfolge untereinander (der Substanz nach) identisch und kann zwischen der (idealen) Gesetzmäßigkeit des Ideenreichs und der (mechanischen) Gesetzmäßigkeit der Körperwelt kein Gegensatz vorhanden sein. S. stellt daher nicht nur den Satz auf, daß aus dem unendlichen Wesen Gottes (als natura naturans) Unendliches auf unendlich verschiedene Weise folge (als natura naturata), sondern auch den weitern, daß die Folge und Verknüpfung der Ideen (die ideale) und jene der Sachen (die reale Weltordnung) eine und dieselbe (ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum) seien. Folge des erstern ist, daß die Gesamtsumme der Wirkungen Gottes (die Welt der Erscheinungen) ihrer Beschaffenheit sowohl als ihrer Verknüpfung nach als eine unabänderliche, von Ewigkeit her feststehende, weil in der ewigen und unwandelbaren Natur Gottes (der all-einen Substanz) als Ursache begründete, angesehen werden muß. Folge des zweiten ist, daß die im Reich des Geistes waltende (sittliche) von der das Reich der Materie regelnden (mechanischen) Gesetzlichkeit nicht verschieden, das die Erscheinungen der Natur ausnahmslos beherrschende Kausalgesetz daher auch das die Erscheinungen des Geistes bestimmende sei. So wenig in der Körperwelt eine Wirkung ohne (zwingende) Ursache, so wenig ist in der Geisteswelt ein Willensentschluß ohne (nötigendes) Motiv (und daher keine indeterministische Willensfreiheit) möglich. Die (geistigen wie körperlichen) Erscheinungen selbst als Entfaltung der (all-einen) Substanz sind weder das Werk einer Vorsehung (da die Substanz als solche [158] weder Intelligenz noch Willen besitzt, von einem „Weltplan“ oder gar einer „Wahl“ zwischen mehreren Weltplänen nicht die Rede sein kann) noch eines blinden Verhängnisses (da die Substanz Ursache ihrer selbst und von nichts außer ihr abhängig ist). Die Beschaffenheit und Reihenfolge derselben sind nicht durch Zweck-, sondern lediglich durch wirkende Ursachen bestimmt; dieselben sind weder nützlich (gut) noch schädlich (schlecht), sondern einfach notwendig. Als solche ist die Welt weder die beste noch die schlechteste unter (mehreren) möglichen, sondern die einzig mögliche. Die Erkenntnis dieser unabänderlichen Weltordnung ist es, welche den Weisen vom Thoren scheidet. Während der letztere vom Weltlauf die Erfüllung seiner Wünsche hofft oder deren Gegenteil fürchtet, erkennt der erstere, daß jener unabhängig von diesen unabänderlich feststeht und daher weder Hoffnung noch Furcht einzuflößen vermag. Die philosophische Erkenntnis besteht darin, die Dinge zu schauen, wie Gott sie schaut (unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit, sub specie aeternitatis, gleichsam „aus der Vogelperspektive“), d. h. jedes Einzelne (Idee, Körper, Ereignis) im Zusammenhang als Glied des (unendlichen) Ganzen. Die philosophische Gemütsstimmung besteht einerseits in der Resignation, d. h. in der Ergebung, welche aus der Erkenntnis der Notwendigkeit, anderseits in der (intellektuellen) Liebe zu Gott, welche aus der Erkenntnis der (ursprünglichen) Göttlichkeit des Weltlaufs entspringt. Da die eine wie die andre Wissen, d. h. Erkenntnis des (metaphysischen) Wesens der Welt (als Entfaltung Gottes), voraussetzt, so bildet die (pantheistische, richtiger akosmistische) Metaphysik die unentbehrliche Vorbedingung zu der (affekt- und leidenschaftslosen) Ethik Spinozas. Sowohl um dieses ihres echt philosophischen Ergebnisses in praktischer wie um ihres auf den Zusammenhang des Ganzen als Weltorganismus gerichteten Blicks (den übrigens Leibniz zum mindesten im gleichen Grad besaß) in theoretischer Hinsicht halber hat die Philosophie Spinozas, die anfänglich nur in Holland einen kleinen Kreis von Anhängern fand (de Vries, Mayer u. a.), ein Jahrhundert später bei Größen ersten Ranges, wie Lessing, Jacobi, Herder, Goethe u. a., Bewunderung, bei Fichte, Schelling, Hegel mehr oder weniger eingestandene Nachahmung gefunden. Am 14. Sept. 1880 ist ihm im Haag ein Denkmal (von Hexamer) errichtet worden. Für die Erläuterung seiner (selbst von seinen Freunden oft mißverstandenen) Lehre ist sein ziemlich umfangreicher Briefwechsel wichtig. Eine vollständige Ausgabe der Werke Spinozas wurde von Paulus veranstaltet (Jena 1802, 2 Bde.); eine andre von Gfrörer im „Corpus philosophorum optimae notae“, Bd. 3 (Stuttg. 1830), enthält sämtliche Werke ohne die hebräische Grammatik. Korrekter als die erstgenannte, aber ohne die Biographie des Colerus ist die Ausgabe von Bruder (Leipz. 1843–46, 3 Bde.); die neueste ist die von J. van Vloten und Land (Haag 1882, 2 Bde.). Deutsche Übersetzungen lieferten B. Auerbach (2. Aufl., Stuttg. 1871, 2 Bde.), welcher die französische von Saisset (2. Aufl., Par. 1861, 3 Bde.) vorzuziehen ist, und neuerlich Kirchmann und Schaarschmidt in der „Philosophischen Bibliothek“. Den „Tractatus de deo et homine“ (hrsg. von van Vloten, Amsterd. 1862, und mit Einleitung von Ginsberg, Leipz. 1877) hat Sigwart (Tübing. 1870) ins Deutsche übersetzt und erläutert. Über die S. betreffende Litteratur vgl. van der Linde, S. (Göttingen 1862); über dessen Philosophie: Sigwart, Der Spinozismus, historisch und philosophisch erläutert (Tübing. 1839); Thomas, S. als Metaphysiker (Königsb. 1840); Saintes, Histoire de la vie et des ouvrages de S. (Par. 1842); Trendelenburg, Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. 2 und 3 (Berl. 1855–67); K. Fischer, Geschichte der neuern Philosophie (Bd. 1, Abt. 2); Camerer, Die Lehre Spinozas (Stuttg. 1877); Baltzer, Spinozas Entwickelungsgang (Kiel 1888); Ginsberg, Briefwechsel des S. (Leipz. 1876, mit der Biographie von Colerus). B. Auerbach behandelte das Leben Spinozas in einem Roman.