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MKL1888:Sociologie

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Sociologie“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Sociologie“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 14 (1889), Seite 10461047
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Sociologie. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 14, Seite 1046–1047. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Sociologie (Version vom 24.11.2024)

[1046] Sociologie (lat.), s. v. w. Gesellschaftswissenschaft (s. Gesellschaft), aber nicht im Sinn einer Statistik, sondern einer „Physik“, besser gesagt Physiologie der menschlichen Gesellschaft. Eine solche ist unter jenem Namen zuerst von A. Comte (s. d.) aufgestellt und nach ihm von H. Spencer (s. d.) ausgeführt worden. Nach beiden bildet die S. die Spitze der von ihnen aufgebauten „Hierarchie“ der positiven Wissenschaften, von welchen jede vorangehende die Basis der folgenden ausmacht. Dieselbe umfaßt (nach Comte) in aufsteigender Rangfolge Mathematik, Astronomie, Physik und Chemie als Wissenschaften vom Unorganischen, Biologie und S. als solche vom Organischen. Von diesen behandelt die Biologie alles Lebendige, Pflanze, Tier und den Menschen, insofern er Individuum, die S. dagegen den letztern, insofern er mit andern seinesgleichen gesellt ist, die lebendige Menschheit, die als solche ihre besondern Lebens- und Entwickelungsgesetze besitzt. Wie die Physik des Himmels jener der Erde, die Physik des Unorganischen jener des Organischen, so müsse die „Physik des Individuums“ (die bisher sogen. Physiologie) der „Physik der Gattung“, insofern sie „gesellig“ (sociable) ist, d. h. der Sozialphysik oder S., vorausgehen. Von dieser Anordnung weicht die von Spencer aufgestellte insofern ab, als er zwischen die Biologie und S. die Psychologie einschiebt (welche bei Comte als Phrenologie mit der Physiologie zusammenfällt) und ihr die „Ethik“ nachfolgen läßt. Als natürliches Entwickelungsgesetz der Menschheit (dessen Darlegung den Inhalt der S. ausmacht und die Stelle einer „Philosophie der Geschichte“ vertritt) wird von Comte die notwendige Aufeinanderfolge der von ihm so genannten drei Kulturstufen der Menschheit, der theologischen, metaphysischen und positiven, von Spencer dagegen die Notwendigkeit der Evolution, des Fortschritts vom Niedern zum Höhern, betrachtet. [1047] Buckle, Lecky, Draper, Tylor, Lewes u. a. sind auf dieser Bahn fortgegangen. Die Verwandtschaft des Ziels, welches die S. als Versuch einer Darstellung des allgemeinen Gesetzes der menschlichen Kulturentwickelung sich steckt, mit der Aufgabe, welche die „Philosophie der Geschichte“ der deutschen Philosophie seit Lessing und Herder, von Kant bis Hegel sich stellte, obgleich diese dasselbe auf ganz anderm Weg (auf dem der Spekulation, wie jene auf dem der Induktion) zu erreichen sucht, ist von Comte in Bezug auf Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784) selbst anerkannt und dieser (neben Turgot und Condorcet) von ihm als sein „Vorläufer“ bezeichnet worden. Vgl. Rob. Zimmermann, Kant und die positive Philosophie (Wien 1874).