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MKL1888:Schlangen

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Schlangen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 14 (1889), Seite 500502
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Schlangen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 14, Seite 500–502. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Schlangen (Version vom 16.11.2021)

[500] Schlangen (Ophidia Brongn., hierzu die Tafeln „Schlangen I und II“), Ordnung der Reptilien, beschuppte Tiere mit sehr verlängertem Körper, fast immer ohne Extremitäten und stets ohne Schultergürtel. Der Kopf ist häufig vom Rumpf nicht deutlich abgesetzt. Charakteristisch ist die Fähigkeit zu außerordentlicher Erweiterung des Rachens, der Speiseröhre und des Magens, welche die Beute unzerkleinert zu verschlingen gestattet. Die Verdickungen der Lederhaut sind teils dachziegelartig gelagerte Schuppen, teils aneinander stoßende Schilde; letztere finden sich namentlich am Bauch, aber auch am Kopfe vor und bieten im Verein mit den sehr verschieden gestalteten Schuppen gute Merkmale für die Bestimmung der Arten. Die Oberhaut wird in regelmäßigen Zeiträumen (bei den einheimischen S. allmonatlich) abgeworfen. Das Skelett zeichnet sich durch die große Anzahl der Wirbel (bis 300) aus. Von diesen tragen die des Rumpfes mit Ausnahme des ersten Halswirbels sämtlich Rippen, welche sich aber nicht an ein Brustbein anheften, sondern mit freien Enden nahe unter der Haut liegen und beim Kriechen zur Fortbewegung des Körpers dienen. Während ein Schultergürtel überall fehlt, finden sich bei einigen S. dicht vor dem After in den Seitenmuskeln Rudimente der Sitzbeine als einzige Überbleibsel des Beckens und meist noch kleine, nägeltragende Fingerrudimente. Die Oberkiefer und die ihnen naheliegenden Knochen der Mundhöhle sind bei fast allen S. untereinander und mit dem Schädel beweglich verbunden, die beiden Hälften des Unterkiefers haben ein dehnbares Band zwischen sich, so daß der Rachen sich im Verhältnis zum Gesamtkörper enorm erweitern kann. Die Zähne dienen stets nur zum Festhalten der Beute, sind sehr zahlreich, nach hinten gekrümmt und stehen in einer oder zwei Bogenreihen. Bei der Gattung Rhachiodon verlängern sich 31 Wirbel nach der Bauchseite zu bis in die Speiseröhre hinein und enden in ihr selbst mit zahnartigen Spitzen, die gleichfalls zum Festhalten der Beute benutzt werden. Außer diesen soliden Zähnen kommen im Oberkiefer zahlreicher S. Furchenzähne oder hohle, von einem Kanal durchbohrte Giftzähne vor, deren Basis mit dem Ausführungsgang einer Giftdrüse in Verbindung steht, das ausfließende Sekret derselben aufnimmt und

[Ξ]

Schlangen I.
[links:] Klapperschlange (Crotalus durissus). 1/6. (Art. Klapperschlange.) – Brillenschlange (Naja tripudians). 1/4. (Art. Brillenschlange.) – [rechts:] Kreuzotter (Pelias berus). 1/2. (Art. Kreuzotter.) – Buschmeister (Lachesis muta). 1/6. (Art. Lachesis.)

[Ξ]

Schlangen II.
[links:] Tigerschlange (Python molurus). 1/10. (Art. Tigerschlangen.) – Abgottschlange (Boa constrictor). 1/8. (Art. Riesenschlangen.) – [rechts:] Glatte oder Schlingnatter (Coronella laevis). Nat. Gr. (Art. Nattern.) – Ringelnatter (Tropidonotus natrix). 1/2. (Art. Nattern.)

[501] nach der Spitze fortleitet. Häufig enthält der Oberkiefer jederseits nur einen einzigen großen, durchbohrten Giftzahn; die Furchenzähne treten selten in größerer Zahl auf und sitzen entweder ganz vorn im Oberkiefer oder hinter einer Reihe von Hakenzähnen am hintersten Ende des Oberkiefers. Während aber die Furchenzähne in der Regel stark und unbeweglich befestigt sind, richten sich die durchbohrten Giftzähne samt dem Kiefer, welchem sie aufsitzen, beim Öffnen des Rachens auf und werden beim Biß in das Fleisch der Beute eingeschlagen. Gleichzeitig fließt das Sekret der zuweilen weit nach hinten und selbst bis in die Bauchhöhle sich erstreckenden Giftdrüse, durch den Druck der Schläfenmuskeln ausgepreßt, in die Wunde und veranlaßt, mit dem Blut in Berührung kommend, oft fast augenblicklichen Tod. Die Gefährlichkeit des Schlangenbisses richtet sich nach der Art und Größe der Schlange, nach der besondern Beschaffenheit und Stärke des verwundeten Individuums wie auch nach der Jahreszeit und dem Klima. Auf Warmblüter wirkt das Gift viel schneller und heftiger als auf Amphibien und Fische, in heißern Gegenden intensiver als in gemäßigten Klimaten und an kühlern Tagen (vgl. Schlangengift).

Die innere Organisation der S. hat sich überall der langgestreckten Körperform anpassen müssen. Der lange, dehnbare, dünnhäutige Schlund führt in den sackförmig erweiterten Magen; die Luftröhre ist sehr lang, die linke Lunge meist ganz rudimentär, während die um so mächtiger entwickelte rechte an ihrem Ende ein schlauchförmiges Luftreservoir bildet. Dem Gehörorgan fehlen schallleitende Apparate, dem oft sehr kleinen Auge bewegliche Lider. Der Augapfel mit der meist länglichen, vertikalen Pupille wird von einer durchsichtigen, uhrglasförmigen Haut bedeckt; die Nasenöffnungen liegen meist ganz an der Spitze oder am Seitenrand der Schnauze; die gabelig gespaltene, hornige Zunge dient als Tastorgan und steckt in einer Scheide, aus der sie selbst bei geschlossenem Rachen durch einen Einschnitt der Schnauzenspitze weit vorgestreckt werden kann. Die S. bewegen sich vornehmlich durch seitliche Krümmungen der hierzu außerordentlich befähigten Wirbelsäule, stützen sich jedoch hierbei auf die Rippenenden. Sie nähren sich ausschließlich von lebenden Tieren, die sie meist durch Umschlingen und Ersticken oder durch den Biß mit dem Giftzahn töten und ohne Zerstückelung unter gewaltigen Anstrengungen ihrer Muskeln verschlingen, selbst wenn sie den Durchmesser ihres eignen Körpers um das Mehrfache übertreffen. Dabei ergießen die Speicheldrüsen ein reichliches Sekret, welches die Beute schlüpfrig macht; der weit nach vorn gerückte Kehlkopf stülpt sich zwischen den Kieferästen zur Unterhaltung der Atmung hervor, und die Zähne haken sich, abwechselnd fortschreitend, immer weiter in die Beute ein, so daß sich gewissermaßen Rachen und Schlund allmählich über diese hinziehen. Nach Vollendung des Schlinggeschäfts tritt eine bedeutende Abspannung ein, und während einer Zeit träger Ruhe erfolgt die langsame, aber vollständige Verdauung. Die Nieren sind langgestreckt; die Harnleiter münden in die Kloake ein; eine Harnblase fehlt. Das Männchen hat zwei schlauchförmige, in der Ruhe im Körper liegende Ruten und vollführt damit die Begattung; später legen die Weibchen meist wenig zahlreiche, große Eier mit derber, lederartiger Schale, in denen die Embryonalentwickelung mehr oder minder weit vorgeschritten ist; einzelne Formen (Süßwasser- und Giftschlangen) gebären lebendige Junge. Nur in seltenen Fällen brütet das Weibchen die Eier aus.

Die S. sind am meisten in den Tropen verbreitet und nehmen an Zahl und Größe der Formen nach den Polen zu sehr rasch ab. Sie leben auf der Erde, besonders in waldigen Gebirgsgegenden, halten sich unter Steinen, Laub und Moos verborgen und gehen zum Teil häufig ins Wasser. Andre leben auf Bäumen, in flachen, sandigen Gegenden oder im Meer. In kalten Zonen verkriechen sich die S. im Winter und halten einen Winterschlaf, in heißen Gegenden fallen sie während der trocknen Sommer teilweise in Erstarrung und entfalten erst während der Regenzeit ein regeres Leben. S. auch Schlangendienst.

Fossile Reste von S. finden sich in geringer Menge in der Tertiärformation; sie gehören meist zu den Pythoniden (Riesenschlangen), doch trifft man auch Zähne von Giftschlangen an. Die Mosasaurier (s. Reptilien, S. 738) werden von einigen als Vorfahren der S. angesehen, von andern jedoch und zwar mit mehr Recht als schwimmende Eidechsen betrachtet. Jedenfalls sind die S. von einer ausgestorbenen Gruppe Reptilien abzuleiten, bei denen noch vier Extremitäten vorhanden waren. Man unterscheidet von lebenden S. etwa 250 Gattungen mit gegen 1000 Arten, bringt sie in 25 zum Teil sehr kleine Familien und ordnet diese zunächst nach der Weite des Rachens in zwei Abteilungen: A. Engmäuler (Stenostomata), mit unbeweglich verbundenen Gesichtsknochen; kleine, wurmförmige Tiere mit sehr kurzem Schwanz, ohne Giftzähne, häufig mit Rudimenten von Hinterbeinen; leben in selbstgegrabenen Gängen oder unter Steinen; Vaterland Südosteuropa, Südasien, Afrika, Australien. Hierher die Minierschlangen (Typhlopidae) u. a. B. Weitmäuler (Eurystomata), mit beweglich verbundenen Gesichtsknochen und daher sehr erweiterungsfähigem Rachen, die eigentlichen S. Sie zerfallen nach Bau und Anordnung der Zähne in 1) giftlose Nattern (Colubrina innocua, Colubriformes, Aglyphodontia und Opisthoglypha), fast ausnahmslos ohne Giftzähne (zuweilen im Oberkiefer ein gefurchter Zahn ohne oder in Verbindung mit einer Giftdrüse). Hierher die Tigerschlangen (s. d., Pythonidae), Riesenschlangen (s. d., Boidae) und Rollschlangen (Erycidae), alle mit Fußstummeln (daher auch Stummelfüßer, Peropoda, genannt), ferner die Nattern (s. d., Colubridae; über die ganze Erde verbreitet), Süßwasserschlangen (Homalopsidae, Asien, Amerika), Baumschlangen (Dendrophidae; Tropen), Wüstenschlangen (Psammophidae; Asien, Afrika) u. a.; 2) giftige Nattern (Colubrina venenosa, Proteroglypha), mit großen Giftzähnen im Oberkiefer und dahinter meist noch mit soliden Hakenzähnen; Kopf nach hinten nicht verbreitert; in Europa nicht vertreten. Hierher die Prunknattern (Elapidae mit der Brillenschlange) und Seeschlangen (Hydrophidae, Indischer und Großer Ozean); 3) Vipern (Röhrenzähner, Viperina, Solenoglypha), mit nur je einem Giftzahn im Oberkiefer ohne weitere Zähne dahinter; Kopf nach hinten verbreitert und vom Rumpf deutlich geschieden. Hierher die Grubennattern (Crotalidae; Amerika und Asien, s. Klapperschlange und Lachesis) und die Ottern (Vipern, Viperidae mit der Kreuzotter; Europa, Asien, Afrika). Vgl. Duméril und Bibron, Erpétologie générale (Par. 1834–54, 9 Bde.); Lacépède, Histoire naturelle des quadrupèdes ovipares et des serpents (das. 1788, 2 Bde.); Schlegel, Physiognomie des serpents (Haag 1837); Günther, Catalogue of colubrine snakes in the collection of the British Museum (Lond. 1858); Lenz, Schlangenkunde (2. Aufl., Gotha 1870); Schreiber, Herpetologia europaea (Braunschw. 1875).

[502] Schlangen, 30–40, zuweilen noch mehr Kaliber lange Geschütze im Gegensatz zu den Kartaunen; vgl. Feldschlange und Geschütz, S. 222.