MKL1888:Reichstag
[687] Reichstag, Bezeichnung für die Ständeversammlung eines Reichs, wie sie im gegenwärtigen Deutschen Reich (s. unten), in Dänemark (s. d., S. 506), Schweden (s. d.) und Ungarn (s. d.) üblich ist, während die Volksvertretung des cisleithanischen Teils der Österreichisch-Ungarischen Monarchie „Reichsrat“ heißt. R. hieß im frühern Deutschen Reich die Versammlung der Reichsstände, d. h. der reichsunmittelbaren Mitglieder des Reichs, und später ihrer Bevollmächtigten (s. unten), und auch die 1848 in Frankfurt a. M. zusammenberufene deutsche Nationalversammlung wurde R. genannt (s. Deutschland, Geschichte, S. 889 ff.), eine Bezeichnung, die mit der Gründung des Norddeutschen Bundes auf die Gesamtvolksvertretung der verbündeten deutschen Staaten übertragen ward.
Der Ursprung der deutschen Reichstage ist auf die Versammlungen der geistlichen und weltlichen Großen zurückzuführen, welche im fränkischen Reich teils gleichzeitig mit den Volks- und Heerversammlungen der März- und Maifelder, teils von diesen gesondert zur Beratung wichtiger Reichsangelegenheiten stattfanden. Diese Versammlungen erlangten nach der Abtrennung Deutschlands vom fränkischen Reich durch die Goldene Bulle, die Wahlkapitulationen und den Westfälischen Frieden eine geregelte Verfassung. Der R. versammelte sich auf Einladung des Kaisers an dem von ihm bestimmten, wechselnden Ort. Zu erscheinen berechtigt waren die Bischöfe, Reichsäbte, Herzöge, Grafen und andre edle Herren und Ministerialen, welche der Kaiser berief; später (zuerst 1255) erschienen auch Abgeordnete der Reichsstädte. Seit dem 15. Jahrh. traten die Kurfürsten vermöge ihrer bevorzugten Stellung zu abgesonderter Beratung zusammen; dem gegebenen Beispiel folgten die weltlichen und geistlichen Reichsfürsten, und so teilte sich der R. in die drei Kollegien der Kurfürsten, unter denen Kurmainz, der Reichsfürsten, unter denen abwechselnd Salzburg und Österreich, und der Reichsstädte, unter denen diejenige Stadt den Vorsitz führte, in welcher der R. stattfand. Im 17. Jahrh. stellte sich der Grundsatz fest, daß im Fürstenkollegium nur diejenigen, welche den R. von 1582 besucht hatten, Virilstimmen haben, neu erhöhte fürstliche Häuser aber solche nur mit Bewilligung der Mitstände erlangen sollten, wonach nun zwischen alt- und neufürstlichen Häusern unterschieden ward; zugleich wurde bestimmt, daß die 1582 geführten Stimmen als am Territorium haftend angesehen werden sollten, so daß nach der Teilung eines Fürstentums die Teilhaber zusammen nur eine Stimme führten. In der letzten Zeit des Reichs wurden im Fürstenrat, welcher in eine geistliche und eine weltliche Bank zerfiel, 94 Virilstimmen, 33 geistliche und 61 weltliche, letztere von 40 regierenden Herren, geführt. Daneben führten die Prälaten 2 Kuriatstimmen, nämlich die schwäbische und die rheinische Prälatenbank, jene mit 22, diese mit 18 Mitgliedern, je eine. Die Grafen und Herren hatten, in die wetterauische und schwäbische Bank geteilt, 2 Kuriatstimmen; eine dritte erhielt 1640 die fränkische und 1653 die westfälische Bank; alle 4 Körperschaften zusammen zählten zuletzt 103 Mitglieder. Das reichsstädtische Kollegium teilte sich seit 1474 in die rheinische Bank mit 14 und in die schwäbische mit 37 Städten. Als der 1663 in Regensburg zusammengetretene R. sich in die Länge zog und zuletzt dortselbst permanent wurde, ließen sich die Stände insgesamt nur noch durch Gesandte vertreten. Der Kaiser sandte einen Fürsten als Prinzipalkommissar zu seiner persönlichen Vertretung mit einem staatsrechtskundigen Kommissar. Das allgemeine Direktorium führte Kurmainz als Reichserzkanzler, bez. dessen Gesandter. Nur ein übereinstimmender Beschluß aller drei Kollegien konnte als Reichsgutachten (s. Reichsgesetze) an den Kaiser gebracht werden, welcher dasselbe durch ein Ratifikationsdekret zum Reichsschluß erhob, aber auch die Zustimmung verweigern konnte. Zu wichtigen Geschäften wurden vom R. Reichsdeputationen (s. d.) eingesetzt, deren Beschlüsse teilweise die gleiche Geltung wie die des Reichstags selbst hatten. Je mehr die kaiserliche Macht abnahm und die staatliche Thätigkeit aus den Zentralorganen sich in die einzelnen Territorien zurückzog, [688] desto mehr verlor der R. selbst an Bedeutung und sank schließlich zu einer Gesandtenkonferenz mit ungemein schleppendem Geschäftsgang herab, so daß die Auflösung des Reichs (1806) wenig mehr als eine leere, bedeutungslose Form beseitigte.
(Hierzu Textbeilage: „Geschäftsordnung des deutschen Reichstags“.)
Der R. (397 Mitglieder) geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor. Die Reichstagsabgeordneten sind Vertreter des gesamten Volkes, also nicht etwa nur der Interessen ihres jeweiligen Wahlkreises, und an Aufträge und Instruktionen der Wähler nicht gebunden. (Reichsverfassung, Art. 20 ff.). Die früher dreijährige Wahl- und Legislaturperiode ist durch Reichsgesetz vom 19. März 1888 in eine fünfjährige umgewandelt. Das Wahlverfahren ist durch das Wahlgesetz vom 31. Mai 1869 und das Wahlreglement vom 28. Mai 1870 geregelt. Der R. übt mit dem Bundesrat (s. d.) zusammen die Reichsgesetzgebung aus, indem die Mitglieder und Kommissare des Bundesrats das Recht haben, im R. zu erscheinen und den Standpunkt der verbündeten Regierungen oder der betreffenden Einzelregierung darzulegen und zu vertreten. Der R. hat, ebenso wie der Bundesrat, das Recht der Initiative, d. h. die Befugnis, innerhalb der Kompetenz des Reichs Gesetze vorzuschlagen. Die Feststellung des Haushaltsetats des Reichs erfolgt unter Mitwirkung und Zustimmung des Reichstags durch Reichsgesetz. Über die Verwendung aller Einnahmen des Reichs muß dem R., ebenso wie dem Bundesrat, alljährlich durch den Reichskanzler Rechnung gelegt werden. In dem Budgetrecht des Reichstags liegt auch das Recht der Zustimmung zur Erhebung von Zöllen und Verbrauchssteuern und zu der Aufnahme einer Anleihe oder der Übernahme einer Garantie. Staatsverträge, welche sich auf Gegenstände beziehen, welche in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, bedürfen der Genehmigung des Reichstags. Die Beratungen des Reichstags werden entweder durch Vorlagen des Bundesrats oder durch Anträge der Mitglieder veranlaßt, auch durch Petitionen, welche der R. verfassungsmäßig entgegennehmen und dem Reichskanzler oder dem Bundesrat überweisen kann. Der R. kann Interpellationen an den Bundesrat und an den Reichskanzler und Adressen an den Kaiser richten. Die Zusammensetzung des Reichstags seit 1867 ist aus nachstehender Tabelle ersichtlich:
[Die Tabelle folgt am Schluss des Artikels.]
Über die Wahl und die Rechte der Reichstagsabgeordneten s. Deutschland S. 837; die Geschäftsordnung des Reichstags s. in der Textbeilage. Vgl. Wiermann, Der deutsche R. (Leipz. 1886, 2 Bde.); Freyer, Der deutsche R. (Berl. 1888); Frieß, Statistik der Wahlen zum deutschen R. seit 1871 (Frankf. 1886); Hirth, Deutscher Parlaments-Almanach (16. Ausg., Münch. 1887).[WS 1]
[Ξ]Nach der revidierten Geschäftsordnung vom 10. Febr. 1876 treten bei dem Eintritt einer neuen Legislaturperiode die Mitglieder des Reichstags zunächst unter dem Vorsitz ihres ältesten Mitglieds (des Alterspräsidenten) zusammen, welch letzterer dies Amt auf das ihm im Lebensalter zunächst stehende Mitglied übertragen kann. Zur Präsidentenwahl wird geschritten, sobald das Haus beschlußfähig, d. h. die Mehrheit (199) der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder (397) anwesend ist. Es werden ein Präsident und zwei Vizepräsidenten sowie acht Schriftführer gewählt. Für das Kassen- und Rechnungswesen ernennt der Präsident zwei Quästoren. Der Präsident hat die Konstituierung des Reichstags und die Zusammensetzung des sogen. Büreaus dem Kaiser anzuzeigen. Die 3 Präsidenten, 8 Schriftführer, 2 Quästoren und die 7 Vorsitzenden der Abteilungen (s. Ziffer II) bilden den Gesamtvorstand des Reichstags. Die Wahl der Präsidenten erfolgt nach absoluter, die der Schriftführer nach relativer Stimmenmehrheit. Hat sich im erstern Fall eine absolute Majorität nicht ergeben, so sind diejenigen fünf Kandidaten, welche die meisten Stimmen erhalten hatten, auf eine engere Wahl zu bringen; nötigen Falls ist auch noch eine zweite engere Wahl zwischen denjenigen beiden Kandidaten, welche alsdann die meisten Stimmen erhielten, vorzunehmen, und im Notfall muß das Los entscheiden. Die Präsidenten werden beim Anfang der Legislaturperiode das erste Mal nur auf vier Wochen, dann aber für die übrige Dauer der Session gewählt; in den folgenden Sessionen einer Legislaturperiode erfolgt die Wahl sofort für die ganze Dauer der Session. Dem Präsidenten liegt die Leitung der Verhandlungen, die Handhabung der Ordnung und der Vertretung des Reichstags nach außen ob; er hat auch das Recht, den Sitzungen der Abteilungen und Kommissionen mit beratender Stimme beizuwohnen. Er beschließt über die Annahme und Entlassung des Verwaltungs- und Dienstpersonals sowie über die Ausgaben zur Deckung der Bedürfnisse des Reichstags. Der Präsident eröffnet und schließt die Plenarsitzungen und verkündigt Tag und Stunde der nächsten. Ihm liegt es ferner ob, mit zwei Schriftführern das Protokoll jeder Sitzung zu vollziehen. Will er sich an der Debatte beteiligen, so muß er den Vorsitz so lange abtreten. Er ist ferner berechtigt, die Redner auf den Gegenstand der Verhandlung zurückzuweisen und zur Ordnung zu rufen. Ist das eine oder das andre in der nämlichen Rede zweimal ohne Erfolg geschehen, und fährt der Redner fort, sich vom Gegenstand oder von der Ordnung zu entfernen, so kann die Versammlung auf Antrag des Präsidenten, und nachdem der Redner von jenem auf diese Folge aufmerksam gemacht worden, demselben das Wort entziehen. Bei allen Diskussionen erteilt der Präsident demjenigen Mitglied das Wort, welches nach Eröffnung der Diskussion oder nach Beendigung der vorhergehenden Rede zuerst darum nachsucht. Doch kann sofortige Zulassung zum Wort nur verlangt werden, wenn der Redner „zur Geschäftsordnung“ sprechen will. Persönliche Bemerkungen sind am Schluß der Debatte oder im Fall der Vertagung am Schluß der Sitzung, thatsächliche Ausführungen aber alsdann überhaupt nicht mehr zulässig. Wenn ein Mitglied die Ordnung verletzt, so ist es vom Präsidenten mit Nennung des Namens darauf zurückzuweisen. Das betreffende Mitglied kann hiergegen schriftlich Einspruch thun, worauf der Reichstag in der nächstfolgenden Sitzung und ohne Diskussion darüber entscheidet, ob der Ordnungsruf gerechtfertigt war. Ferner kann der Präsident, wenn in der Versammlung störende Unruhe entsteht, die Sitzung auf bestimmte Zeit aussetzen oder ganz aufheben. Kann er sich in solchem Fall kein Gehör verschaffen, so bedeckt er sich das Haupt, womit die Sitzung auf eine Stunde unterbrochen ist. Sodann steht dem Präsidenten die Handhabung der Polizei im Sitzungsgebäude zu, er kann einzelne Ruhestörer von der Tribüne entfernen oder dieselbe ganz räumen lassen. Der Präsident ist befugt, Reichstagsmitgliedern bis zu acht Tagen Urlaub zu geben. Endlich ist derselbe jedesmaliger Vorsitzender der behufs Einreichung einer Adresse an den Kaiser zusammentretenden Kommission, auch Mitglied und Sprecher einer jeden Deputation. Die Schriftführer haben für die Aufnahme des Protokolls und den Druck der Verhandlungen zu sorgen, daher auch die Revision der stenographischen Berichte zu überwachen. Sie lesen die Schriftstücke vor, halten den Namensaufruf, vermerken die Stimmen etc.
Das erste Geschäft des Reichstags soll die Prüfung der Wahlen sein. Zu diesem Zweck wird die Versammlung durch das Los in sieben Abteilungen von möglichst gleicher Mitgliederzahl geteilt, welchen wiederum eine möglichst gleiche Zahl der einzelnen Wahlverhandlungen durch das Los zuzuteilen ist. Findet die Abteilung ein wesentliches Bedenken, oder liegt eine Wahlanfechtung oder von seiten eines Reichstagsmitglieds Einsprache vor, so ist der Sachverhalt dem Reichstag zur Entscheidung vorzulegen. Wahlanfechtungen und Einsprachen, welche nach Ablauf von zehn Tagen von Eröffnung der Session, resp. bei Nachwahlen von Feststellung des Wahlergebnisses an erhoben werden, bleiben unberücksichtigt. Von der Abteilung sind die Wahlverhandlungen, wenn eine rechtzeitig erfolgte Wahlanfechtung oder Einsprache vorliegt, oder wenn von der Abteilung die Gültigkeit der Wahl durch Mehrheitsbeschluß für zweifelhaft erklärt wird, oder wenn 10 anwesende Mitglieder der Abteilung einen aus dem Inhalt der Wahlverhandlungen abgeleiteten, speziell zu bezeichnenden Zweifel erheben, an eine im besondere Wahlprüfungskommission von 14 Mitgliedern abzugeben. Findet die Abteilung sonstige erhebliche Ausstellungen, ohne daß die Voraussetzungen für Abgabe an die Wahlprüfungskommission vorliegen, so ist von der Abteilung an den Reichstag selbst Bericht zu erstatten. Bis zur Ungültigkeitserklärung einer Wahl hat der Gewählte Sitz und Stimme im Reichstag.
Außer den Wahlprüfungen liegt den Abteilungen die Wahl der Kommissionen ob, welche zur Vorberatung der an den Reichstag gelangenden Sachen bestimmt sind, sofern eine solche Vorberatung erforderlich. Jede Abteilung wählt durch Stimmzettel eine gleiche Anzahl von Mitgliedern der Kommission. Besteht diese aus 7 Mitgliedern, so wählt jede Abteilung ein Mitglied, während je 2, 3 oder 4 Mitglieder zu wählen sind, je nachdem die Kommission aus 14, 21 oder 28 Mitgliedern bestehen soll. Thatsächlich werden übrigens die Mitglieder der Kommissionen von den Fraktionen, den Parteigenossenschaften des Reichstags, erwählt, indem durch den sogen. Seniorenkonvent, der aus den Vertrauensmännern der einzelnen Fraktionen besteht, im voraus festgesetzt ist, wieviel Mitglieder eine jede Fraktion jeweilig in die Kommissionen entsenden soll. Die Wahl durch die Abteilungen ist daher in der That nur eine leere Form. Außer der Petitions- und der Wahlprüfungskommission werden noch Kommissionen für den Reichshaushaltsetat (Budgetkommission), für die Rechnungslegung (Rechnungskommission) und überhaupt nach Maßgabe des Bedürfnisses, so oft ein Gesetzentwurf oder ein sonstiger Antrag vom Reichstag an eine Kommission verwiesen wird, konstituiert. Die Kommissionen wählen ihren Vorsitzenden und ihren Schriftführer aus ihrer Mitte; sie sind beschlußfähig, sobald mindestens die Hälfte der Mitglieder anwesend ist. Wird einer Kommission die Vorberatung eines von einem Reichstagsmitglied gestellten Antrags überwiesen, so nimmt der Antragsteller, resp. das unter dem Antrag zuerst unterzeichnete Mitglied jedenfalls mit beratender Stimme an den Kommissionssitzungen teil. Die Mitglieder des Bundesrats und die Kommissare desselben können diesen Sitzungen ebenfalls mit beratender Stimme beiwohnen. Nach geschlossener Beratung wählt die Kommission aus ihrer Mitte einen Berichterstatter, der die Ansichten und Anträge der Kommission in einem Bericht für den Reichstag zusammenstellt. Die Kommissionen sind aber auch befugt, durch ihren Berichterstatter mündlichen Bericht im Plenum des Reichstags erstatten zu lassen. Doch kann der Reichstag in solchen Fällen schriftlichen Bericht verlangen und zu diesem Behuf die Sache an die Kommission zurückverweisen.
Eine bestimmte Reihenfolge in der Beratung der einzelnen Gegenstände ist nicht vorgeschrieben; insbesondere besteht die Vorschrift, welche sich in andern Verfassungsurkunden findet, [Ξ] und wonach Regierungsvorlagen stets vorgehen sollen, für den Reichstag nicht. In der Regel findet aber in jeder Woche an einem bestimmten Tag (bis auf weiteres am Mittwoch) eine Sitzung statt, in welcher an erster Stelle die von den Mitgliedern des Reichstags gestellten Anträge und die zur Erörterung im Plenum gelangenden Petitionen erledigt werden (sogen. Schwerinstag). Die Vorlagen des Bundesrats bedürfen einer dreimaligen Beratung (Lesung). Anträge von Reichstagsmitgliedern, welche von mindestens 15 Mitgliedern unterzeichnet und mit der Eingangsformel: „Der Reichstag wolle beschließen“ versehen sein müssen, erfordern nur dann eine dreimalige Lesung, wenn sie Gesetzentwürfe enthalten; außerdem genügt eine einmalige Lesung. Die dreimalige Lesung beginnt mit der ersten Beratung, welche sich auf eine allgemeine Diskussion (Generaldebatte) über die Grundsätze des Entwurfs beschränkt und mit dem Beschluß darüber endigt, ob der Entwurf einer Kommission zur Vorberatung zu überweisen sei oder nicht. In diesem ersten Stadium der Verhandlung dürfen Abänderungsvorschläge (Amendements) seitens der Reichstagsmitglieder nicht eingebracht werden. Die zweite Lesung erfolgt frühstens am zweiten Tag nach Abschluß der ersten Beratung und, wenn eine Kommission eingesetzt ist, frühstens am dritten Tag nach Verteilung der gedruckten Kommissionsanträge an die Mitglieder des Hauses. Sie besteht in einer Diskussion (Spezialdebatte) über jeden einzelnen Artikel der Vorlage, in der Regel der Reihenfolge nach, woran sich dann die Abstimmung über die einzelnen Artikel anschließt. Nach Schluß der ersten bis zum Schluß der zweiten Lesung können von den Reichstagsmitgliedern Amendements eingebracht werden. Am Schluß der zweiten Beratung stellt der Präsident mit Zuziehung der Schriftführer die gefaßten Beschlüsse zusammen, falls durch dieselben Abänderungen der Vorlage stattgefunden haben, und ebendiese Zusammenstellung bildet die Grundlage für die dritte Lesung, als welche außerdem die Vorlage selbst dient. Ist jedoch der Entwurf in zweiter Lesung in allen seinen Teilen abgelehnt worden, so findet eine weitere Beratung überhaupt nicht statt. Die dritte Beratung erfolgt frühstens am zweiten Tag nach Abschluß der zweiten Lesung, resp. nach Verteilung der erwähnten Zusammenstellung; sie vereinigt nochmals eine General- und eine Spezialdiskussion in sich. Bei der dritten Lesung bedürfen Abänderungsvorschläge der Unterstützung von 30 Mitgliedern. Die dritte Lesung endigt mit der Schlußabstimmung über Annahme oder Ablehnung der Vorlage, wie sie sich im Lauf der Verhandlungen gestaltet hat. Handelt es sich um Anträge von Reichstagsmitgliedern, über welche nur einmal beraten wird, so müssen Abänderungsvorschläge ebenfalls von 30 Mitgliedern unterstützt sein.
Für die Reichstagsverhandlungen gilt das Prinzip der Diskontinuität, d. h. die Verhandlungen einer jeden Session erscheinen als etwas Selbständiges, wenn sie auch thatsächlich freilich vielfach an Vorhergegangenes anknüpfen. Es müssen daher Vorlagen des Bundesrats, welche in einer Session nicht zur Beratung kamen (hierfür ist die Redewendung „unter den Tisch des Hauses gefallen“ üblich), in der nächsten Session von neuem wieder eingebracht werden, wofern sie überhaupt zur Verhandlung kommen sollen. Dasselbe gilt von Anträgen und von Petitionen, die ebenfalls zu erneuern sind, wofern eine Verhandlung darüber gewünscht wird. Ebenso sind Beschlüsse und Berichte einer Kommission, welche in der einen Session dem Plenum nicht unterbreitet wurden, für die andre Session nicht maßgebend.
Der Präsident hat die Fragen so zu stellen, daß sie einfach durch „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden können. Unmittelbar vor der Abstimmung ist die Frage zu verlesen. Ist vor einer Abstimmung infolge einer darüber gemachten Bemerkung der Präsident oder einer der fungierenden Schriftführer darüber zweifelhaft, ob eine beschlußfähige Anzahl von Mitgliedern anwesend sei, so erfolgt der Namensaufruf. Erklärt dagegen auf die erhobene Bemerkung oder den von einem Mitglied gestellten Antrag auf Auszählung des Hauses der Präsident, daß kein Mitglied des Büreaus über die Anwesenheit der beschlußfähigen Anzahl zweifelhaft sei, so sind damit Bemerkung und Antrag erledigt. Die Abstimmung geschieht nach absoluter Mehrheit durch Aufstehen und Sitzenbleiben. Ist das Ergebnis nach der Ansicht des Präsidenten oder eines der fungierenden Schriftführer zweifelhaft, so wird die Gegenprobe gemacht. Liefert auch diese noch kein sicheres Ergebnis, so erfolgt die Zählung des Hauses und zwar in folgender Weise: Der Präsident fordert die Mitglieder auf, den Saal zu verlassen. Sobald dies geschehen, sind die Thüren zu schließen, mit Ausnahme einer Thür an der Ost- und einer an der Westseite. An jeder dieser beiden Thüren stellen sich zwei Schriftführer auf. Auf ein vom Präsidenten mit der Glocke gegebenes Zeichen treten diejenigen Mitglieder welche mit „Ja“ stimmen wollen, durch die Thür an der Ostseite, rechts vom Büreau, diejenigen, welche mit „Nein“ stimmen wollen, durch die Thür an der Westseite, links vom Büreau, in den Saal ein. Die an jeder der beiden Thüren stehenden zwei Schriftführer zählen laut die eintretenden Mitglieder. Demnächst gibt der Präsident ein Zeichen mit der Glocke, schließt das Skrutinium und läßt die Thüren des Saals öffnen. Jede nachträgliche Stimmabgabe ist ausgeschlossen; nur der Präsident und die dienstthuenden Schriftführer geben ihre Stimmen nachträglich öffentlich ab. Der Präsident verkündigt das Resultat der Zählung. Auf namentliche Abstimmung kann beim Schluß der Beratung vor der Aufforderung zur Abstimmung angetragen werden, der Antrag muß von wenigstens 50 Mitgliedern unterstützt werden. Der Präsident erklärt die Abstimmung für geschlossen, nachdem der namentliche Aufruf sämtlicher Mitglieder des Reichstags erfolgt und nach Beendigung desselben durch Rekapitulation des Alphabets Gelegenheit zur nachträglichen Abgabe der Stimme gegeben ist. Bei allen nicht durch Namensaufruf erfolgten Abstimmungen hat jedes Mitglied des Reichstags das Recht, seine von dem Beschluß der Mehrheit abweichende Abstimmung kurz motiviert schriftlich dem Büreau zu übergeben und deren Aufnahme in die stenographischen Berichte, ohne vorgängige Verlesung in dem Reichstag, zu verlangen.
Da die Zahl der an den Reichstag gelangenden Petitionen eine sehr große, und da nur ein geringer Teil derselben zu Verhandlung im Plenum geeignet ist, so besteht die Vorschrift, daß alle Petitionen zunächst an die Petitionskommission gehen; auch können Petitionen, welche mit einem Gegenstand in Verbindung stehen, welcher bereits an eine andre Kommission verwiesen ist, dieser letztern durch Verfügung des Präsidenten überwiesen werden. Der Inhalt der eingehenden Petitionen ist von der Kommission allwöchentlich durch eine in tabellarischer Form zu fertigende Zusammenstellung zur Kenntnis der einzelnen Mitglieder des Reichstags zu bringen. In der Plenarsitzung des Reichstags gelangen alsdann nur diejenigen Petitionen zur Erörterung, bei welchen dies von der Kommission oder von 15 Mitgliedern des Reichstags ausdrücklich beantragt wird.
Interpellationen an den Bundesrat müssen, bestimmt formuliert und von 30 Mitgliedern unterzeichnet, dem Präsidenten des Reichstags überreicht werden. Dieser teilt sie dem Reichskanzler abschriftlich mit und fordert denselben oder seinen jeweiligen Vertreter in der nächsten Sitzung des Reichstags zur Erklärung darüber auf, ob und wann er die Interpellation beantworten wolle. Erklärt sich der Reichskanzler zur Beantwortung alsbald oder in einer andern Sitzung bereit, so wird alsdann zunächst der Interpellant, d. h. derjenige, von welchem die Interpellation ausgeht, zum Wort und zu einer nähern Ausführung derselben zugelasen. Hierauf folgt die Beantwortung vom Tisch des Bundesrats aus, und an diese oder an eine etwanige Ablehnung der Interpellation kann sich eine sofortige Besprechung des Gegenstandes der letztern anschließen, wenn mindestens 50 Mitglieder des Hauses darauf antragen. Was die Adressen anbetrifft, so sind Adressen an den Bundesrat zwar prinzipiell nicht ausgeschlossen; üblich sind aber nur Adressen an den Kaiser, und nur von solchen handelt die Geschäftsordnung. Wird die Vorberatung einer solchen Adresse einer Kommission übertragen, so wird diese aus dem Präsidenten des Reichstags als Vorsitzendem und aus 21 Mitgliedern des letztern zusammengesetzt. Ebenso ist der Präsident jedesmal Mitglied und alleiniger Wortführer der Deputation, welche die Adresse überreichen soll. Die Zahl der übrigen Mitglieder wird auf Vorschlag des Präsidenten vom Reichstag festgestellt; die einzelnen Mitglieder werden durch das Los bestimmt.
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Fraktionen | 1867 | 1868 | 1871 | 1874 | 1877 | 1878 | 1879 | 1880 | 1881 (Febr.) | 1881 (Nov.) | 1884 (März) | 1884 (Dez.) | 1887 | 1888 (März) | 1888 (Nov.) |
Nationalliberale | 79 | 82 | 116 | 150 | 126 | 97 | 85 | 85 | 62 | 45 | 45 | 50 | 98 | 100 | 97 |
Liberale Gruppe (Schauß-Völk) | – | – | – | – | – | – | – | 15 | 15 | – | – | – | – | – | – |
Freie liberale Vereinigung | 14 | 10 | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – |
Linkes Zentrum | 27 | 16 | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – |
Liberale Reichspartei | – | – | 29 | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – |
Bundesstaatl.-konstitutionelle Verein. | 18 | 21 | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – |
Deutsche Fortschrittspartei | 19 | 30 | 44 | 49 | 35 | 26 | 23 | 26 | 28 | 60 | – | – | – | – | – |
Liberale Vereinigung (Sezessionisten) | – | – | – | – | – | – | – | – | 21 | 47 | – | – | – | – | – |
Deutsche freisinnige Partei¹ | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | 100 | 64 | 32 | 36 | 36 |
Volkspartei | – | – | – | – | – | – | – | – | – | 8 | 9 | 7 | – | – | 1 |
Freie konservative Vereinigung | 39 | 34 | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – | – |
Konserv. (seit 1877 Deutschkonserv.) | 59 | 62 | 50 | 21 | 40 | 59 | 59 | 58 | 58 | 48 | 52 | 76 | 78 | 77 | 75 |
Deutsche Reichspartei | – | – | 38 | 31 | 38 | 56 | 54 | 48 | 49 | 26 | 24 | 28 | 41 | 39 | 39 |
Zentrum | – | – | 57 | 94 | 96 | 103 | 102 | 101 | 102 | 107 | 106 | 108 | 101 | 101 | 99 |
Polen | 13 | 11 | 13 | 13 | 14 | 14 | 14 | 14 | 14 | 18 | 18 | 16 | 13 | 13 | 13 |
Sozialdemokraten | 2 | 5 | 2 | 9 | 12 | 9 | 8 | 10 | 10 | 12 | 13 | 24 | 11 | 11 | 10 |
Bei keiner Fraktion² | 26 | 25 | 27 | 30 | 35 | 33 | 48 | 37 | 37 | 24 | 27 | 24 | 23 | 20 | 20 |
Erledigte Mandate | 1 | 1 | 6 | – | 1 | – | 4 | 3 | 1 | 2 | 3 | – | – | – | 7 |
Zusammen: | 297 | 297 | 382 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 | 397 |
¹ Im März 1884 durch die Fusion der Fortschrittspartei und der liberalen Vereinigung entstanden. | |||||||||||||||
² Mit Einschluß der Elsaß-Lothringer. |
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Siehe auch Reichstag, deutscher (Band 17).