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MKL1888:Philologie der neuern Sprachen

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Philologie der neuern Sprachen“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Philologie der neuern Sprachen“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 12 (1888), Seite 10141015
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Philologie der neuern Sprachen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 12, Seite 1014–1015. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Philologie_der_neuern_Sprachen (Version vom 03.03.2022)

[1014] Philologie der neuern Sprachen. Wenn unter „Philologie“ diejenige berufsmäßig gelehrte Thätigkeit verstanden wird, welche die Erforschung der Litteratur- und Kunstschätze, namentlich aber auch die Erforschung und wissenschaftliche Darstellung der Sprache eines Volkes zum Gegenstand hat, und wenn wir unter „neuern Sprachen“ die noch gegenwärtig lebenden Sprachen, insbesondere die lebenden Kultursprachen, und unter diesen wieder vorzugsweise die dem indogermanischen Stamm angehörigen europäischen Sprachen verstehen, so ergibt sich der Begriff der P. sehr leicht. Nur werden wir denselben im Vergleich zu demjenigen der „klassischen Philologie“ etwas enger fassen und ihn auf die wissenschaftliche Erforschung und Darstellung der Sprachen und Litteraturen der modernen (europäischen Kultur-) Völker beschränken müssen, während die klassische Philologie außer den Sprachen und Litteraturen auch die Kunst, ja das gesamte Kulturleben des griechisch-römischen Altertums in den Kreis ihrer Forschung und Darstellung einbezieht. Eine derartige Ausdehnung der philologischen Wissenschaft würde in Bezug auf das ganz ungleich vielseitigere und ausgedehntere Geistesleben der modernen Kulturvölker geradezu unmöglich sein, selbst wenn auch nur diejenigen Europas berücksichtigt werden sollten. Es ist daher vollkommen berechtigt, wenn man nicht im allgemeinen von einer „modernen Philologie“, sondern lediglich von einer P. spricht. Indessen auch der Umfang der P. ist ein so bedeutender und so Verschiedenartiges in sich schließender, daß er niemals von einem Einzelnen in seiner Totalität zum Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung gemacht worden ist, noch je wird gemacht werden können. Es scheiden sich vielmehr aus dem Gesamtgebiet der P. große Einzelgruppen aus: die romanische, die germanische, die slawische Philologie, von denen sich eine jede dann wieder in Einzelphilologien (z. B. die französische, englische, deutsche, russische etc.) spaltet. Wissenschaftlich nicht berechtigt, aber im praktischen Leben sehr üblich ist es, die den drei modernen Hauptkultursprachen (der französischen, [1015] englischen und deutschen) gewidmeten Einzelphilologien unter dem Namen P. zusammenzufassen. – Die P. ist eine junge Wissenschaft, welche nicht nur, wie selbstverständlich, dem Altertum, sondern auch dem Mittelalter und sogar noch zum Teil der neuern Zeit unbekannt war. Es ist dies auch leicht erklärlich. Haben doch die modernen Sprachen erst in der neuern Zeit, nachdem sie die allseitig als solche anerkannten Trägerinnen der Nationallitteraturen und die Organe der nationalen Individualitäten geworden sind, diejenige innere Festigung und Ausbildung erlangt, welche sie befähigt, wissenschaftlich dargestellt zu werden. Auch ist zu berücksichtigen, daß, solange das Latein als die einzige für den höhern schriftmäßigen Gebrauch geeignete Sprache betrachtet ward, die neuern Sprachen gerade von den litterarisch Gebildeten eines wissenschaftlichen Studiums nicht für würdig gehalten wurden, sowie daß überhaupt das wirklich wissenschaftliche Studium der neuern Sprachen erst möglich ward, nachdem die vergleichende Sprachwissenschaft den Bau der ältern Sprachen, aus denen die neuern ja hervorgegangen, methodisch dargelegt und seine Gesetze darzulegen begonnen hatte. Dies aber ist bekanntlich erst im Beginn des 19. Jahrh. geschehen, und von da ab datiert denn auch das Entstehen und rasche Emporblühen der P., welche an Männern wie den Gebrüdern Grimm auf germanischem, Raynouard und Diez auf romanischem, Dobrowski und Schafarik auf slawischem Gebiet ihre ersten und grundlegenden Vertreter fand. Wesentliche Förderung erhielt die P. durch den in den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts allenthalben zu zeitweiliger Herrschaft gelangenden Romantizismus, welcher der Beschäftigung mit den ältern Perioden der modernen Sprachen und Litteraturen einen eigenartigen poetischen Reiz und ein auch von weitern Kreisen des gebildeten Publikums geteiltes Interesse verlieh. Als sodann aber die romantische Geistesrichtung von einer nüchternen und realistischen Weltanschauung verdrängt ward, war die junge Wissenschaft der P. bereits erstarkt genug, um sich, ohne fernerhin ästhetischer Reizmittel zu bedürfen, rüstig und gedeihlich weiter entwickeln zu können, und gegenwärtig wird gerade ihr Gebiet mit besonderm und sehr fruchtbringendem Eifer angebaut. Zahlreiche Gelehrte widmeten ihr die regste und förderndste Thätigkeit (wir nennen unter denen der neuesten Zeit beispielsweise G. Paris, P. Meyer, Ascoli, Caix, C. Michaelis-Vasconcellos, Tobler, Bartsch, Ebert für das romanische; Delius, Zupitza, Sweet, Skeat, Müllenhoff, Scherer, Zarncke, die beiden Wülcker für das germanische; Miklosich, Jagić, Leskien, Krek für das slawische Gebiet), und an allen bedeutendern Hochschulen Deutschlands wie des Auslandes sind ihr Lehrstühle errichtet. Zahlreiche Fachzeitschriften sind der P. mehr oder weniger ausschließlich gewidmet; ein „Neuphilologisches Zentralblatt“ gibt neuerlich Kasten heraus (Hannov., seit 1887). Es ist somit die P. eine würdige Nebenbuhlerin ihrer so viel ältern Schwester, der klassischen Philologie, geworden, wenn sie auch noch gar manches von ihr zu lernen hat. Keineswegs aber sollen beide in einem feindseligen Verhältnis zu einander stehen und sich gegenseitig bekämpfen; sie sind vielmehr berufen, sich einander zu ergänzen und zu durchdringen sowie in gemeinsamer Arbeit die Erkenntnis der Geistesgeschichte der Menschheit immer höhern Zielen zuzuführen.

Das Gesamtgebiet der P. scheidet sich nach seinem Inhalt in zwei Hauptteile: den grammatischen und den litterargeschichtlichen; der erstere hat die Erforschung und Darstellung der Sprachsysteme, der letztere die Erforschung und Darstellung der Entwickelung der Litteraturen der modernen Völker zu seinem Gegenstand. Auf beiden Einzelgebieten muß die Methode der Forschung die historische sein. Es muß also dargelegt werden, wie die modernen Sprachen in Bezug auf Laut-, Formen-, Wort- und Satzbildung aus den ältern ihnen zu Grunde liegenden Sprachen nach bestimmten Gesetzen entstanden sind (z. B. die romanischen Sprachen aus ihrer gemeinsamen Muttersprache, dem Lateinischen), und wie die modernen Litteraturen ebenfalls nach bestimmten, allerdings weniger leicht nachweisbaren Gesetzen und unter bestimmten äußern Einflüssen zu ihren gegenwärtigen individualen Gestaltungen sich entwickelt haben. Nicht also allein die Darstellung der gegenwärtigen Sprach- und Litteraturformen, sondern vor allem die Darstellung der genetischen Entwickelung der Sprach- und Litteraturformen ist Aufgabe der P. Darin liegt inbegriffen, daß die letztere nicht dazu bestimmt ist, direkt praktischen Zwecken (z. B. der Erlangung der Sprach- und Schreibfertigkeit) zu dienen, so sehr sie auch geeignet ist, die Erreichung derselben zu fördern, namentlich aber das praktischer Zwecke wegen betriebene Studium der neuern Sprachen zu vertiefen und wahrhaft geist- und verstandesbildend zu machen. Selbstverständlich bedarf die P., um die ihr gestellten Aufgaben zu lösen, der Mitwirkung zahlreicher Hilfswissenschaften, so für ihren grammatischen Teil vorzugsweise derjenigen der Lautphysiologie und der Logik, für ihren litterargeschichtlichen Teil aber derjenigen der Kritik (denn sowohl die nur handschriftlich als auch selbst die im Druck überlieferten Litteraturdenkmäler liegen meist nur in mehr oder weniger verderbter Gestalt vor), der Paläographie und der Psychologie. Eingehende Kenntnis der Geschichte, insbesondere der Kulturgeschichte der betreffenden Völker, sowie Vertrautheit mit Sprachphilosophie und allgemeiner Sprachvergleichung sind die unerläßlichen Vorbedingungen für das erfolgreiche Studium der P. Lehrbücher der P. in ihrem Gesamtumfang gibt es nicht und kann es nach dem oben Gesagten nicht geben; Schmitz’ „Versuch einer Encyklopädie des wissenschaftlichen Studiums der neuern Sprachen“ (2. Ausg., Leipz. 1875–76, 4 Tle.) beschränkt sich zudem auf das Französische und Englische.