MKL1888:Phantasīe
[984] Phantasīe (griech.), im Gegensatz zum Erinnerungsvermögen, d. h. der reproduzierenden Einbildungskraft, welche schon dagewesene sinnlich anschauliche Vorstellungen erneuert, das Vermögen, neue dergleichen zu bilden, also die produzierende und zwar ästhetisch und logisch schöpferische Einbildungskraft. Dieselbe unterscheidet sich von der gemeinen (banalen) Einbildungskraft dadurch, daß ihre Erfindungen den ästhetischen Normalgesetzen, von der phantastischen (z. B. des Traums) Einbildungskraft dadurch, daß dieselben den logischen Denkgesetzen gemäß sind. Ersterm Umstand verdanken die Schöpfungen der P. ihre Schönheit (Neuheit, Frische, Lebendigkeit, Anschaulichkeit, Mannigfaltigkeit, Einheit und Übereinstimmung), letzterm ihre Denkbarkeit (Widerspruchslosigkeit), formale Wahrheit (Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit), keineswegs auch materiale Wahrheit (Wirklichkeit). Von der letztern, welche der Inhalt des wissenschaftlichen Denkens (Wissens) ist, können die Schöpfungen der P., des ästhetischen Denkens (Dichtens), sich so weit entfernen, wie der Gegenstand des erstern, die wirkliche (beste oder schlechteste) Welt, von dem Gegenstand des letztern, dem ästhetischen Weltideal (der Welt des Schönen), entfernt ist. Jenes erkennt die gegebene, die P. schafft eine neue Welt, wobei sie zwar die Elemente der erstern, die durch die ursprünglich empfangenen Eindrücke gegebenen Vorstellungen, als Bausteine verwertet, aber durch neue und originale Verbindungen derselben neue, originale Vorstellungsgebilde hervorbringt. Durch ihre ursprünglichen Eindrücke hängt jede individuelle P. mit ihrer äußern Umgebung zusammen und ihren elementaren Stoffbestandteilen nach von dieser ab. Die P. gestaltet sich anders im hohen Norden als unter den Tropen, im Morgen- als im Abendland. Ihre Neuheit und schöpferische Originalität aber liegt nicht im verbundenen Stoff, sondern in den verbindenden Formen. Als produktives Vermögen ist sie die eigentliche Geburtsstätte einer ästhetisch-logischen Vorstellungswelt, welche je nach der Beschaffenheit dieser entweder eine Welt musikalischer, oder bildnerischer, oder poetischer Gedanken ist, deren erzeugende P. infolgedessen als musikalische, bildnerische, poetische P. unterschieden wird. Diese drei Arten weichen so sehr untereinander ab, daß sie als Anlagen selten oder nie in gleichem Grad nebeneinander in demselben Individuum aufzutreten pflegen. Hauptsächlich ist es die musikalische Anlage, welche die bildnerische, seltener die poetische, von sich ausschließt oder doch beschränkt. Als Begabung angesehen, macht die P. die eigentliche künstlerische Befähigung aus, deren höherer Grad künstlerisches Talent, deren höchster Kunstgenie heißt. Vgl. unter andern Frohschammer, Die P. als Grundprinzip des Weltprozesses (Münch. 1876), welcher jedoch dieses Wort nicht bloß im ästhetischen, sondern in einem viel weitern Sinn als unbewußt schaffende Kraft überhaupt versteht.
In der Musik bezeichnet P. (Phantasiestück) als Name für Instrumentalstücke nicht eine bestimmte Form, sondern im Gegenteil freie Gestaltung ohne Anschluß an feststehende Formen. So treten viele der ersten ausdrücklich für Instrumente komponierten Stücke (G. Gabrieli, H. Vecchi u. a.) unter dem Namen Fantasia auf, ohne daß es möglich wäre, dieselben formell zu unterscheiden von Ricercar, Sonata, Toccata etc. Die gemeinsame Eigenart dieser zunächst noch unbestimmten Bildungen bestand darin, daß sie einen musikalischen Gedanken frei imitierend oder fugenartig durchführten, ohne dabei, wie die nachherige Quintfuge, ein bestimmtes Schema innezuhalten. Als die Fuge sich zu festen Formen entwickelt hatte, bedeutete der Name P. etwas der Fuge Entgegengesetztes (vgl. J. S. Bachs „P. und Fuge“ in A moll); auch von der Sonate unterschied sie sich durch die Abweichung von strenger cyklischer Gestaltung (vgl. Mozarts „P. und Sonate“ in C moll). Die Befreiung der Sonate vom Schematismus der Drei- oder Viersätzigkeit und der stereotypen Sonatenform des ersten Satzes führte Sonate und P. einander wieder näher (vgl. Beethovens „Sonata quasi Fantasia“, Op. 27, 1 und 2); diese Überschrift hätte er aber auch Op. 78, 90 und den „fünf letzten“ geben können. Vielfach werden heute auch potpourriartige Zusammenstellungen von Opernmelodien u. dgl. für Pianoforte oder Orchester mit dem Namen P. belegt; besser paßt derselbe für Paraphrasen einzelner Melodien.
[709] Phantasie, in der Psychologie die Fähigkeit, reproduzierte Vorstellungen (s. d.) zu solchen Komplexen zusammenzusetzen, wie sie bisher dem Individuum noch nicht in der Wahrnehmung geboten waren, also auch nicht durch eine bloße Erinnerungsleistung gebildet werden können. Die P. in diesem allgemeinsten Sinne ist dem Manne der Wissenschaft wie dem Künstler gleicherweise unentbehrlich, und sie arbeitet besonders lebhaft, wenn entweder ein bestimmter Zweck das Hinausgehen über die Erfahrung erfordert, z. B. in der Aufstellung von Hypothesen, oder die geringe Anzahl von Erfahrungen dem Thätigkeitsbedürfnis der Seele nicht genügt, z. B. beim Kinde. Die Erklärung der P. muß auf die Thatsache der fortwährenden Einwirkung unterbewußter psychischer Zuständlichkeiten auf oberbewußte und auf die Veränderungsfähigkeit der Wahrnehmungsresiduen zurückgehen (s. Bewußtsein und Vorstellung). Im einzelnen unterscheiden wir drei Arten der P.: 1) Die reproduktive P., mittels deren wir eine bisher noch nie im Bewußtsein vorhandene Verbindung zwischen zwei Vorstellungen vollziehen, etwa die Vorstellungen „golden“ und „Berg“ zu dem in Wahrnehmung und Erinnerung nicht gegebenen Vorstellungskomplex eines „goldenen Berges“ verknüpfen. 2) Die produktive P., mittels deren die ästhetische Welt geschaffen wird. Sie kann nach den Hauptgruppen künstlerischer Veranlagung in musikalische, poetische, bildnerische P. gegliedert werden. Diese drei Klassen weichen so sehr voneinander ab, daß sie als Anlagen selten oder nie im gleichen Grade nebeneinander in demselben Individuum aufzutreten pflegen; hauptsächlich ist es die musikalische Produktivphantasie, welche die bildnerische, seltener die poetische von sich ausschließt oder doch beschränkt. 3) Die deutende P., mittels deren die Metapher des Dichters, die mythologische Naturauffassung, das Spiel des Kindes u. dgl. zu stande kommt. Sie folgt dem Gesetz der Substitution (s. Vorstellung), indem sie auf ein neues Objekt Eigenschaften bezieht, die in Wirklichkeit bloß mit ähnlichen Gegenständen verknüpft sind. Überhaupt aber lassen sich alle Formen der P. auf Associationsgesetze zurückführen, insoweit die intellektuelle Seite der P. in Betracht kommt, und es ist falsch, ihre Wirksamkeit als ein regelloses Ungefähr zu betrachten, denn wo thatsächlich ein solches Spiel ohne Zusammenhang herrscht, wie z. B. in wilden Träumen, im Fieber oder in pathologischen Zuständen der Ideenflucht, da sprechen wir zwar populär von „Phantasieren“, aber nicht wissenschaftlich von einer Leistung der P.