MKL1888:Pfahlbauten
[929] Pfahlbauten (hierzu Tafel „Pfahlbauten“), menschliche Ansiedelungen, welche in Seen oder Sümpfe, seltener in Flüsse hineingebaut sind und in der Regel auf Pfählen ruhen. Solche P. findet man noch heute bei den Papua auf Neuguinea, bei den Dajak auf Borneo, den Negern am Tsadsee und obern Nil etc., und auch Herodot berichtet von den in Seedörfern wohnenden Päoniern. Ausgrabungen im Züricher See ergaben 1853 eine Schicht, die in bestimmter Anordnung in den Seeboden eingerammte Pfähle und dazwischenliegende Geräte aus Stein, Knochen und Hirschhorn enthielt. Bereits 1866 waren 200 solcher durch ihre Lage im Wasser Schutz gegen feindliche Überfälle und Angriffe der Raubtiere bietender, vorgeschichtlicher Seedörfer (Stationen) aufgedeckt. Die Untersuchungen von Keller, Desor, Troyon, Schwab, V. Groß u. a. haben über die Kultur der Pfahlbauern Licht verbreitet; Rütimeyer hat die Fauna, O. Heer die Flora, deren Reste im Schlamm an der Stelle der Ansiedelungen angetroffen werden, erforscht. Die Ausdehnung der Seedörfer war zum Teil eine ganz beträchtliche; der Pfahlrost der Station Morges bedeckte eine Fläche von 60,000 qm. Im Robenhausener Pfahlbau fand man mehr als 100,000 Pfähle, und die im Neuenburger See aufgedeckten Ansiedelungen boten Raum für eine Bevölkerung von 5000 Seelen. Je nach der Konstruktion unterscheidet man 1) P. im engern Sinn, bei denen das Verdeck einfach auf in den Seeboden eingetriebenen Pfählen ruhte, und 2) Packwerkbauten, bei denen der Raum zwischen den Pfählen durch Erde, Steine und Knüttel ausgefüllt wurde. Die P. gehören in der Ostschweiz hauptsächlich der jüngern Steinzeit, in der Westschweiz [Ξ]
Pfahlbauten. |
[930] der Bronzezeit an. In einzelnen Stationen (Mörigen, Corcelettes) wurden neben Bronzewaffen und -Geräten Eisenobjekte aufgefunden, und die Fundobjekte der Station Sipplingen am Bodensee zeigen, daß dieselbe bis zur Römerzeit bewohnt war. Die P. der Bronzezeit waren gewöhnlich in größerer Entfernung (200–300 m) vom Ufer als die der Steinzeit errichtet. Beide waren durch hölzerne Stege mit dem Gestade verbunden. Die auf den Plattformen aus Holz und Lehm errichteten Hütten waren von einfachster Konstruktion. Eine unweit Schussenried (Oberschwaben) ausgegrabene Hütte eines steinzeitlichen Pfahlbaues ist 10 m lang, 7 m breit und enthält zwei Räume, von denen der eine durch den aus Steinen gebildeten Herd sich als Küche zu erkennen gibt. Die in den P. gefundenen Objekte beweisen, daß die Bewohner derselben Ackerbau und Viehzucht betrieben, zugleich aber auch (die ältern in überwiegendem Maß) der Jagd oblagen. Unter den Knochen des Wildes fanden sich am häufigsten solche vom Hirsch neben Reh-, Dachs-, Biber-, Igel- und vereinzelte Bären-, Wolfs-, Wisent- und Elenknochen. Das Schaf der P. ähnelt dem heutigen Gebirgsschaf. Neben Knochen des Hausschweins und des Wildschweins fanden sich Reste des Torfschweins (Sus palustris), welches an das in Afrika lebende Senaarschwein (Sus sennariensis) erinnert. Die durch die Züchtung am Schädel des Torfschweins hervorgerufenen Veränderungen, die nur ganz allmählich sich herausgebildet haben, deuten darauf hin, daß zwischen der Gründung der ältern und jüngern Ansiedelungen ein beträchtlicher Zeitraum verstrichen sein muß. Das Rind ist durch zwei wilde Spezies, den Urstier (Bos primigenius) und den Wisent (Bos bison), sowie durch vier zahme Varietäten, die Primigeniusrasse, die Trochokerosrasse, die Frontosusrasse und die Longifrons- (Brachykeros-) Rasse, vertreten. Die spärlich aufgefundenen Pferdeknochen gehören dem Pferde der Jetztzeit (Equus caballus) an. Ob dasselbe zur Zeit der steinzeitlichen P. bereits gezähmt war, ist ungewiß; in den bronzezeitlichen P. wurde es zum Reiten, vielleicht auch zum Ziehen benutzt. Unter den pflanzlichen Überresten der P. befinden sich drei Weizensorten, darunter eine mit dem Mumienweizen der ägyptischen Königsgräber (Triticum turgidum) genau übereinstimmende; mehrere Hirse- und Gerstearten, unter letztern die dichte sechszeilige Gerste (Hordeum hexastichon). Roggen und Hafer fehlen in den steinzeitlichen P. gänzlich. Man hat Gebäck aus zerriebenen Weizen- und Hirsekörnern gefunden, außerdem zerlegte und getrocknete Äpfel. Steine von Süßkirschen und Ahlkirschen, Reste der Schlehe, Himbeer- und Brombeerkerne, Haselnuß- und Bucheckernschalen, Stämme der wilden Pflaume etc. Auch sind Pastinake, Möhre, Erbse und Linse nachgewiesen. Flachs diente zur Herstellung grober Gewebe und Fischernetze. Das Vorkommen der Silene cretica, eines heutzutage in der Schweiz nicht mehr existierenden südeuropäischen Unkrauts, deutet auf Handelsverbindungen mit dem Süden unsers Erdteils.
Die Periode der jüngsten Gruppe der steinzeitlichen P. könnte auch als Kupferzeitalter bezeichnet werden, da in derselben das Kupfer als erstes bekanntes Metall Verwendung findet. Von Steingeräten der neolithischen P. sind noch besonders hervorzuheben Reib-, Mahl- und Schabsteine, mit der Hand leicht zu umfassende Kiesel, die als Hämmer Verwendung fanden, in Hülsen von Birkenrinde reihenförmig eingelagerte kleine Steine, die als Netzbeschwerer dienten, steinerne Gewichte zum Beschweren des Fadens beim Spinnen u. dgl. Hirschhorn diente zur Herstellung der Griffe von Messern, Schabsteinen sowie zur Anfertigung von Angelhaken, Harpunen, Bechern, Knöpfen, Nadeln etc. Ein aus Hirschgeweih hergestelltes, einer Spitzhaue ähnelndes Instrument diente bei den ersten Anfängen des Ackerbaues zur Auflockerung des Bodens. Zur Herstellung von Dolchen, Pfriemen, Nadeln, Lanzen- und Pfeilspitzen wurden vielfach spitzige und geschärfte Knochen verwendet. Ein Kamm aus zugespitzten Kuhrippen diente zum Aushecheln des Flachses. Von hölzernen Geräten der steinzeitlichen P. haben sich erhalten: Spindeln zum Spinnen des Flachses, Bogen und Pfeile, aus Buchsbaumholz hergestellte Kämme, ein zum Kanoe ausgehöhlter Baumstamm sowie ein Joch zum Anschirren von Zugochsen.
In den P. der Bronzezeit tritt uns eine weit fortgeschrittene Kultur entgegen. Geräte aus Stein, Horn und Knochen werden in dem Maß, wie der Gebrauch der Bronze sich ausbreitet, immer seltener. Daß ein großer Teil der Bronzeobjekte in der Schweiz selbst hergestellt wurde, beweisen die aufgefundenen Gußformen. Die geschmackvolle Ornamentation der Bronzeschwerter sowie die durch Mannigfaltigkeit der Form und Schönheit der Verzierung sich auszeichnenden Bronzemesser und -Dolche, die aus demselben Material hergestellten, schön verzierten Gürtel und Gürtelschnallen, Agraffen, Arm- und Halsbänder, die außerordentlich mannigfaltigen Schmuckgehänge, die Haarnadeln sowie kunstvoll gefertigte Bronzegefäße und Bronzebecher rechtfertigen vollkommen den Namen „le bel âge du bronze“, den die schweizerischen Gelehrten diesem Abschnitt der helvetischen Prähistorie beigelegt haben. Der Zeitpunkt der ersten Errichtung von P. in den Seen der Schweiz läßt sich auch nicht annähernd bestimmen. Die zwischen der Bronzekultur des Grabfeldes von Hallstatt (vgl. Metallzeit, S. 528) und derjenigen der jüngern P. bestehende Verwandtschaft gibt aber einen gewissen Anhaltspunkt für die Chronologie, so daß man das Ende der Bronzekultur der P. etwa in das 8.–10. Jahrh. der vorchristlichen Ära verlegen könnte. Eine Anzahl von Waffen und Geräten aus der Pfahlbautenzeit ist auf beifolgender Tafel abgebildet.
Die Schädel der P. gehören dem Typus der breitgesichtigen Langschädel (chamäprosop-dolichokephale Rasse) an; mit den übrigen Skelettresten kennzeichnen sie die Pfahlbauern als eine ziemlich kleine, aber körperlich wohlausgebildete und geistig hochstehende Bevölkerung. Daß die steinzeitlichen P. und diejenigen der Bronzezeit von einem und demselben Volk herstammen, ist zwar in hohem Grad wahrscheinlich, aber doch nicht mit Sicherheit festgestellt. Die Mehrzahl der Forscher ist geneigt, das Pfahlbautenvolk als einen Zweig der großen arischen (indogermanischen) Völkerfamilie zu betrachten.
Auch in den Seen Oberösterreichs und Kärntens, im Laibacher Moor (Krain), im Neusiedler See Ungarns, ferner in den Seen und Torfmooren der schwäbisch-bayrischen Hochebene (Chiemsee, Schliersee, Barmsee, Ammersee, auf der Roseninsel im Starnberger See etc.), in Torfbrüchen der bayrischen Pfalz, des Rhein- und Mainthals sind analoge Ansiedelungen nachgewiesen. Reste von P. fanden sich auch in Mecklenburg (Gägelow und Wismar), im Arrasch- und Czareysee Litauens sowie in den Seen und Torfmooren der östlichen Pyrenäen, Südfrankreichs, Savoyens und Oberitaliens. Auf dem Boden von London ist da, wo jetzt das Mansionhouse steht, ein Pfahlbau [931] aufgedeckt worden; ein solcher fand sich auch bei auf dem Markt zu Würzburg und in der Stadt Elbing (Westpreußen) vorgenommenen Ausgrabungen. Die in Pommern, Posen und in der Mark Brandenburg aufgefundenen Reste von P. werden mit den Erbauern der vorgeschichtlichen Burgwälle in Verbindung gebracht und waren wahrscheinlich von Slawen bewohnt. Die oberitalischen Terramaren-Ansiedelungen, welche vom Volk der Italiker in der zwischen Po und Apenninen gelegenen, von der Via Ämilia durchschnittenen sumpfigen Ebene hergestellt wurden, sowie die Crannoges oder Holzinseln Irlands, welche zum Teil noch der historischen Epoche angehören, stimmen mit den beschriebenen Packwerkbauten ziemlich genau überein. Vgl. Keller, Die keltischen P. in den Schweizer Seen (Zürich 1854–79, 8 Berichte); Jahn und Uhlmann, Die Pfahlbaualtertümer von Moosseedorf (Bern 1857); Troyon, Sur les habitations lacustres etc. (Laus. 1860); Rütimeyer, Untersuchungen der Tierreste aus den P. der Schweiz (Zürich 1861); Heer, Die Pflanzen der Pfahlbauten (das. 1865); Staub, Die P. in den Schweizer Seen (Fluntern 1864); v. Sacken, Der Pfahlbau im Gardasee (Wien 1865); Haßler, Die Pfahlbaufunde des Überlinger Sees (Ulm 1866); Desor, Die P. des Neuenburger Sees (Frankf. a. M. 1867); Groß, Les Protohelvètes ou les premiers colons sur les bords des lacs de Bienne et Neuchâtel (Berl. 1883); Lisch, Die P. in Mecklenburg (Schwerin 1865–67, 2 Hefte); Wagner, Das Vorkommen von P. in Bayern (Münch. 1867); His und Rütimeyer, Crania helvetica (Basel 1864); Frank, Die Pfahlbaustation Schussenried (Lindau 1877); Helbig, Die Italiker in der Poebene (Leipz. 1879).