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MKL1888:Orpheus

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Orpheus“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Orpheus“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 12 (1888), Seite 454455
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Orpheus. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 12, Seite 454–455. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Orpheus (Version vom 26.08.2022)

[454] Orpheus, griech. Sängerheros der mythischen Vorzeit, den man zugleich für den Repräsentanten einer eignen, nach Thrakien eingewanderten Dichterschule hält, war nach der gewöhnlichen Sage ein Sohn des Apollon und der Muse Kalliope und wurde nebst Thamyris und Herakles von Linos im Gesang unterrichtet. Der ursprüngliche Sitz der Sagen über ihn war Pierien mit den alten Musenquellen und das thrakische Hebronthal. Die Macht seines Gesanges zur siebensaitigen Leier war so gewaltig, daß er selbst Bäume und Felsen bewegte und die wildesten Tiere zähmte. Als er seine Gattin Eurydike durch den Biß einer Schlange verloren hatte, erfüllte er mit seinen Klagen Berge und Thäler, stieg endlich in den Hades hinab, um die Geliebte zurückzuholen, und rührte durch seinen Gesang und sein Saitenspiel das Herz Persephones so sehr, daß sie der Eurydike gestattete, dem Gemahl zur Oberwelt zu folgen, unter der Bedingung, daß er nicht eher nach ihr umblicke, als bis sie dieselbe erreicht hätten. Aber der Ungeduldige hielt diese Bedingung nicht, und so mußte die Gattin in den Hades zurückkehren. Eine vorzügliche antike Darstellung dieser erneuten Trennung der Liebenden durch den Seelenführer Hermes ist uns erhalten in einer Reliefkomposition, die in verschiedenen Exemplaren (in der

Hermes, Eurydike und Orpheus (Relief der Villa Albani in Rom).

Villa Albani zu Rom, s. Abbildung; im Neapeler Museum, in Paris etc.) auf uns gekommen ist. Ganz thrakisch gekleidet erscheint O. mehrfach auf Vasenbildern, die ihn leierspielend oder von den thrakischen Frauen verfolgt vorführen. O. soll auch die Argonauten begleitet haben. Seinen Tod fand er auf dem Hämos, wo er nächtlich während der Dionysosfeier von den rasenden Bacchantinnen zerrissen ward. Das Haupt aber und die Leier des Sängers schwammen auf den Wellen des Hebros und durch das Meer nach der Sängerinsel Lesbos, wo man beides in einem Grabe bei Antissa beisetzte. In späterer Zeit, besonders seit Peisistratos, bildete man O. zu einem Weihe- und Sühnepriester um, der fortan von dem Sänger O. ganz getrennt erscheint. Er galt als der Stifter und das Haupt der Orphiker, einer seit etwa 600 v. Chr. entstandenen mystischen Sekte, die in dem mystischen Kult des Dionysos Zagreus ihren Mittelpunkt hatte und eine eigentümliche spekulative Theologie mit pantheistischen Anschauungen sowie einer auf asketischen Lehren beruhenden Lebensweise ausbildete. Diese Sekte schrieb dem O. allerlei Sühngebräuche, Weihungen, wie sie bei den Mysterien üblich waren, sowie zahlreiche Dichtungen und Schriften zu, welche in ihrer Mitte, zum Teil erst ziemlich spät, entstanden waren. Die frühsten Anfänge dieser Orphischen Litteratur lassen sich in dem Zeitalter der Peisistratiden nachweisen, in dem Onomakritos (s. d.) die Orphischen Lieder und Sagen sammelte (zum Teil auch fälschte) und das Hauptwerk: „Orphische Theologie“, schrieb. Letztere bearbeiteten außerdem die Peripatetiker Eudemos und Hieronymos sowie der Stoiker [455] Chrysippos, später der Neuplatoniker Proklos u. a.; am meisten aber blühte sie in Alexandria, wo sie sich mit ägyptischen Elementen so verschmolz, daß O. auch in Ägypten als Begründer der Mystik galt. Die noch jetzt erhaltene Orphische Litteratur umfaßt drei (noch bis um die Mitte des 18. Jahrh. für echt gehaltene) Werke: die „Argonautica“, ein episches Gedicht mythologischen Inhalts, vielleicht im 4. Jahrh. n. Chr. entstanden (hrsg. von Schneider, Jena 1803; deutsch von Voß, Heidelb. 1806); 88 Weihungslieder oder Hymnen, aus der Zeit der Neuplatoniker (deutsch von Dietsch, Erlang. 1822), und die „Lithica“, Gedicht über die magischen Kräfte der Steine, wahrscheinlich aus dem 4. Jahrh. n. Chr. (hrsg. von Tyrwhitt, Lond. 1781; von Abel, Berl. 1880). Die besten Ausgaben sämtlicher Werke besorgten G. Hermann („Orphica“, Leipz. 1805) und Abel („Orphica“, Prag 1885); die sorgfältigste Sammlung der zerstreuten Fragmente der Orphischen Dichter Lobeck im „Aglaophamus“ (Königsb. 1829, 2 Bde.). Vgl. Bode, De Orpheo (Götting. 1824); E. Gerhard, O. und die Orphiker (in den Abhandlungen der Berliner Akademie 1859). – Die Gestalt des O. ging übrigens auch in die altchristliche Malerei über, wo er Christus darstellt, zumal die Verwandtschaft mit dem „guten Hirten“ nahelag und sein Hinabsteigen in die Unterwelt als Vorbild für Christi Höllenfahrt galt. So z. B. in den Calixtus-Katakomben in Rom, wo O. zwischen Lämmern erscheint, und in denen der Domitella, wo er mit der Leier einen Löwen, Kamele und Vögel anlockt. Vgl. Martigny, La représentation d’Orphée sur les monuments chrétiens (Par. 1857).