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MKL1888:Nagetiere

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Nagetiere“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 11 (1888), Seite 979980
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Nagetiere. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 11, Seite 979–980. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Nagetiere (Version vom 15.09.2022)

[979] Nagetiere (Glires, Rodentia, hierzu Tafel „Nagetiere I u. II“), eine durch ihr Gebiß und die damit zusammenhängenden Besonderheiten in der Bildung des Schädels scharf umschriebene Ordnung der Säugetiere. Sie haben keine Eckzähne und meist nur wenige Backenzähne; auch die Schneidezähne sind an Zahl verringert (mit Ausnahme der Hasen, welche im Oberkiefer 4, im Unterkiefer 2 haben, sind in jedem Kiefer nur 2 vorhanden), dafür aber sehr stark und scharf, bogenförmig gekrümmt und von unbegrenztem Wachstum. Sie büßen daher trotz der raschen Abnutzung durch das Beißen auf die vielfach harte Nahrung nichts von ihrer Länge ein, wachsen aber, wenn die ihnen entgegenstehenden Zähne im andern Kiefer durch einen Zufall entfernt werden, im Bogen fort, so daß sie sogar die Nahrungsaufnahme unmöglich machen. Das Nagen mittels der Schneidezähne geschieht durch Vor- und Rückwärtsbewegung des Unterkiefers, während seitliche Bewegungen, wie sie die Wiederkäuer ausführen, durch die Bildung des Kiefergelenks fast ganz ausgeschlossen sind. Die Gliedmaßen sind bei den raschen und vielfachen Bewegungen, welche die N. machen (sie laufen, schwimmen, graben, springen und klettern meist vortrefflich), sehr stark gebaut; namentlich gilt dies von den Hinterbeinen, während die Vorderbeine meist zum Halten der Nahrung benutzt werden. Der Gang erfolgt auf der Sohle; die Zehen sind frei und meist mit Krallen bewaffnet. Ein Schlüsselbein ist vorhanden, obwohl mitunter nur schwach. Die Nahrung besteht meist aus pflanzlichen Stoffen, besonders aus Früchten, Körnern und Wurzeln; von einigen Gattungen werden Vorräte in besondern Backentaschen, die sich innerhalb oder außerhalb des Mundes öffnen können, untergebracht [980] und so in die Nester geschleppt. Der Magen ist häufig in zwei Teile geschieden und mit Blindsäcken versehen; am Darm fehlt der Blinddarm fast nie, ebenso ist fast immer eine Gallenblase vorhanden. Die Hoden liegen meist in der Bauchhöhle, rücken aber zur Brunstzeit in den Hodensack. Die Gebärmutter ist mehr oder weniger doppelt; bei einzelnen Gattungen sind sogar zwei Scheiden vorhanden. Die Zitzen, 2–14 an der Zahl, liegen meist in der Weichengegend, selten auch an der Brust. Die geistigen Fähigkeiten der N. sind im allgemeinen, entsprechend dem kleinen und windungslosen Gehirn, nur gering; indessen äußern einige Arten Kunsttriebe, indem sie Nester bauen, komplizierte Höhlungen und Wohnungen graben und Wintervorräte aufhäufen. Die Sinnesorgane sind stets entwickelt, nur bei einigen grabenden Formen fehlen die äußern Ohren und sind die Augen sehr klein. Einige N. verfallen zur kalten Jahreszeit in Winterschlaf, andre stellen in großen Scharen Wanderungen an. Sie sind sehr fruchtbar, und manche werfen im Jahr 4–6mal. Die N. sind über die ganze Erde verbreitet, vorzugsweise aber in Nordamerika zu Haus; einige Arten folgen als Kosmopoliten dem Menschen in alle Weltteile. Südamerika unterscheidet sich durch seine N. sehr bestimmt von Nordamerika, und auch Afrika weicht durch besondere Gattungen von den übrigen Teilen des alten Kontinents ab. In Australien sind nur einige Gattungen von Mäusen heimisch. Fossil treten N. schon sehr früh auf; sie erlangten zum Teil eine weit bedeutendere Größe als die noch lebenden, welche noch kein Meter an Länge und kaum ein halbes an Höhe erreichen, dagegen in ihren kleinsten Vertretern mit zu den kleinsten Säugetieren gehören. Die ältesten echten N. sind den Versteinerungen zufolge die Eichhörnchen gewesen. Die lebenden (über 700) Arten reiht man in etwa 100 Gattungen und in 6–16 Familien, resp. Unterfamilien ein. Am gebräuchlichsten ist jetzt die folgende Einteilung:

1. Familie. Hasen (Leporidae). Behaarung dicht, Ohren lang, Schwanz kurz, Hinterbeine länger als Vorderbeine, hinter den obern beiden Schneidezähnen stehen noch zwei andre, oben 12, unten 10 Backenzähne, Schlüsselbeine verkümmert, vorn 5, hinten 4 auch auf der Sohle behaarte Zehen, Blinddarm groß. Die Hasen sind schnelle Läufer. Die einzige Gattung, Lepus (Hase), mit 30–40 Arten, ist hauptsächlich in Nordamerika, Europa und Nordasien verbreitet, fehlt jedoch nur gänzlich in Australien, Polynesien und einigen andern Inselgruppen.

2. Familie. Pfeifhasen (Lagomyidae). Stehen den echten Hasen sehr nahe, haben jedoch kürzere Ohren und Hinterbeine, keinen Schwanz, nur 20 Backenzähne und vollständigere Schlüsselbeine. Sie leben in selbstgegrabenen Höhlen, in deren Nähe sie auch Wintervorräte aufhäufen, auf den Hochebenen Nordindiens und in Sibirien bis zur Wolga hin sowie im Felsengebirge Nordamerikas; bei Gefahr lassen sie einen starken Pfiff hören. Nur die Gattung Lagomys mit etwa 10 Arten.

3. Familie. Meerschweinchen (Caviidae), Halbhufer (Subungulata). Nägel stumpf, hufähnlich, Füße vorn mit 4, hinten meist mit 3 Zehen, Schlüsselbeine fehlen, Ohren gewöhnlich groß, Schwanz verkümmert, Haar grob und straff, nur 16 Backenzähne. Die lebenden 6 Gattungen mit etwa 30 Arten gehören Mittel- und Südamerika an, fossil sollen Cavia und Dasyprocta auch in Europa gefunden sein. Hierher unter andern Cavia (Meerschweinchen), Dasyprocta (Aguti), Dolichotis (Mare) und Hydrochoerus, das größte lebende Nagetier.

4. Familie. Stachelschweine (Hystricidae). Auf dem Rücken lange Stacheln, Zehen mit scharfen, starken Krallen, Beine und Schnauze kurz, nur 16 Backenzähne. Es sind nächtliche Tiere, die teils auf Bäumen, teils in selbstgegrabenen Löchern leben. Von den lebenden 6 Gattungen mit etwa 25 Arten sind die kletternden und mit langem Greifschwanz versehenen Baumstachelschweine (Cercolabina) nur in Amerika heimisch, während die Hystricina oder echten Stachelschweine (Tafel II) nur in Afrika, Südasien und Südeuropa vorkommen, jedoch fossil auch in Nordamerika gefunden sind.

5. Familie. Schrotmäuse (Echimyidae) oder Trugratten, ähneln den echten Ratten in der Form des Körpers sowie durch den langen, geringelten Schwanz, Haarkleid teils weich, teils straff und selbst mit Borsten und Stacheln versehen, Füße meist mit 5 Zehen, 16 oder auch nur 12 Backenzähne. Die 18 lebenden Gattungen mit etwa 50 Arten sind vorzugsweise in Südamerika heimisch, jedoch auch in Südeuropa und Afrika anzutreffen; fossil finden sie sich selbst in Mitteleuropa. Hierher unter andern Myopotamus (Sumpfbiber, Taf. II).

6. Familie. Hasenmäuse (Lagostomidae) oder Chinchillen (Chinchillidae). Schwanz buschig, lang, Pelz weich und wollig, Ohren lang, Hinterfüße länger als die Vorderfüße. Sie leben gesellig meist in den höhern Regionen (bis zu 5000 m) der Andes Südamerikas; 3 Gattungen mit 6 Arten. Hierher unter andern Lagostomus (Pampashase) u. Eriomys (Chinchilla, Taf. II).

7. Familie. Biber (Castoridae). Groß und plump, Beine kurz, mit 5 Zehen und starken Krallen, Hinterbeine mit Schwimmhäuten, Schwanz glatt, mit Schuppen bedeckt, Schneidezähne sehr stark, 16 Backenzähne; in die Vorhaut münden zwei Säcke ein, welche das Bibergeil absondern. Lebend nur die Gattung Castor (Biber), mit 2 Arten (Taf. I), in Nordamerika sowie in Mitteleuropa und Mittelasien; fossil in denselben Gegenden mehrere Arten Castor und auch andre Gattungen.

8. Familie. Sackmäuse (Saccomyidae). Mit eigentümlichen Backentaschen, die von außen gefüllt werden und innen behaart sind, Füße mit 5 Zehen, 16 Backenzähne. 6 Gattungen mit 25 Arten, in Nordamerika.

9. Familie. Springmäuse (Dipodidae). Hinterbeine sehr lang, Mittelfußknochen derselben wie bei den Vögeln zu einem einzigen Röhrenknochen verschmolzen, mit 3–5 Zehen, Vorderfüße sehr kurz, fünfzehig, Schwanz sehr stark, hilft zum Springen, 12–16 Backenzähne, Blinddarm groß. Lebend 3 Gattungen mit über 20 Arten, hauptsächlich in den Küstenländern des östlichen Teils des Mittelländischen Meers, jedoch auch in Ostindien, am Kap der Guten Hoffnung und in Nordamerika. Hierher unter andern Dipus (Springmaus, Taf. I). Fossil finden sich Springmäuse in den Alpen und in Frankreich.

10. Familie. Maulwurfmäuse (Spalacidae oder Georychidae). Gestalt ähnlich derjenigen der Maulwürfe, Ohren und Augen versteckt, Beine kurz und fünfzehig, zu Grabfüßen umgestaltet, Schwanz stummelförmig, 12–16 Backenzähne. Leben in selbstgegrabenen Gängen. 7 Gattungen mit fast 20 Arten, in Südosteuropa, West- und Südasien sowie in fast ganz Afrika.

11. Familie. Mäuse (Muridae). Schnauze spitz, Ohren lang, Schwanz lang und entweder behaart oder schuppig geringelt, Füße fünfzehig, jedoch an den Vorderfüßen der Daumen meist verkümmert, 8–14 Backenzähne. Hausen meist in selbstgegrabenen Gängen und fressen zum Teil auch Insekten und Fleisch. Lebend etwa 30 Gattungen mit über 250 Arten, fehlen nur auf den australischen Inseln und Polynesien. Hierher unter andern Mus (Taf. II, mit über 100 Arten, fehlt in Amerika), Maus und Ratte sowie Cricetus (Hamster, Taf. I).

12. Familie. Wühlmäuse (Arvicolidae). Schnauze stumpf, Ohren und Schwanz kurz, 12 Backenzähne. Hausen unterirdisch, vielfach in der Nähe des Wassers und schwimmen in diesem Fall gut. 6 lebende Gattungen mit etwa 60 Arten, deren Verbreitungsbezirk dem der vorigen Familie gleich ist. Hierher unter andern Arvicola (Wühlmaus), Myodes (Lemming) und Fiber (Bisamratte). S. Taf. II.

13. Familie. Schlafmäuse (Myoxidae). Gleichen äußerlich sehr den Eichhörnchen, stehen aber im Knochenbau den Mäusen nahe, vermitteln also zwischen beiden Familien. Hinterfüße mit 5, Vorderfüße mit 4 Zehen und einem verkümmerten Daumen, der einen Plattnagel trägt, Schwanz dicht behaart, 16 Backenzähne, Blinddarm fehlt. Sie sind nächtliche Tiere, leben von Früchten, Insekten, Eiern u. dgl. und verfallen bei Einbruch der Kälte in einen Winterschlaf. Nur die Gattung Myoxus mit 12 Arten, die in ganz Afrika und dem gemäßigten Europa und Asien verbreitet sind. Hierher unter andern der Siebenschläfer und Gartenschläfer (Taf. I).

14. Familie. Eichhörnchen (Sciuridae). Schwanz lang, dicht behaart, meist buschig, Gliedmaßen wie bei der vorigen Familie, 16–20 Backenzähne, Blinddarm vorhanden. Sie leben meist auf Bäumen, seltener in selbstgegrabenen Höhlen, und halten einen Winterschlaf. Die lebenden 8 Gattungen mit etwa 180 Arten fehlen nur auf Madagaskar, Westindien, Australien und Polynesien. Hierher unter andern Sciurus (Eichhörnchen), Spermophilus (Zieselmaus, Taf. I), Arctomys (Murmeltier, Taf. II) und Cynomys (Präriehund). Die fossilen Eichhörnchen sind die ältesten versteinert gefundenen N. und werden bereits im Eocän angetroffen.

[Ξ]

Nagetiere I.
[links:] Hamster (Cricetus frumentarius). 2/5. (Art. Hamster.) – Wüstenspringmaus (Dipus aegyptius). 1/2. (Art. Springmaus.) – Biber (Castor Fiber). 1/10. (Art. Biber.) – [rechts:] Siebenschläfer (Myoxus Glis) und Gartenschläfer (Eliomys Nitela). 1/2. (Art. Siebenschläfer.) – Zieselmaus (Spermophilus Citillus). 1/3. (Art. Zieselmaus.) – Eichhorn (Sciurus vulgaris). 1/3. (Art. Eichhörnchen.)

[Ξ]

Nagetiere II.
[obere Reihe:] Lemming (Myodes Lemmus). 1/2. (Art. Lemming.) – Feldmaus (Arvicola arvalis). 2/3. (Art. Wühlmaus.) – Brandmaus (Mus agrarius). 5/6. (Art. Maus.) – [Mitte:] Chinchilla (Eriomys Chinchilla). 1/3. (Art. Chinchilla.) – Sumpfbiber (Myopotamus Coypu). 1/5. (Art. Sumpfbiber.) – [unten:] Stachelschwein (Hystrix cristata). 1/6. (Art. Stachelschwein.) – Alpenmurmeltier (Arctomys Marmota). 1/6. (Art. Murmeltier.)