MKL1888:Musiktheoretische Litteratur
[643] Musiktheoretische Litteratur. Für die Theorie der Musik, die praktische Kunstlehre, könnte ein Jahresbericht wie die Übersicht über die musikalische Litteratur der letzten Jahre (Bd. 18, S. 628) kaum mehr sein als die Aufzählung der Titel einer Anzahl neuer Bücher, die sich hauptsächlich durch die Namen ihrer Verfasser, inhaltlich dagegen nur sehr wenig unterscheiden. Besonders bringt jedes Jahr eine Reihe sogen. Harmonielehren, d. h. Generalbaßlehren im alten Stile, und einige ebenso stereotype allgemeine Musiklehren oder Elementarmusiklehren, über die schlechterdings nichts zu sagen ist, als daß sie der stabil gewordene Ausdruck der verbreitetsten Unterrichtsmethode sind, die sich seit Anfang des Jahrhunderts kaum irgendwie geändert hat. Werfen wir dagegen einen schnellen Blick auf die letzten 50 Jahre, so wird allerdings ersichtlich, daß es im Gebiete der musikalischen Kunstlehre gärt, und daß neue Ideen nach neuen Formen ringen; anerkennenswerte Anläufe lassen die Hoffnung wach werden, daß es in nicht allzu ferner Zeit zu einem wirklich zeitgemäßen Ausbau der Unterrichtsmethode kommen kann, welcher den seit länger als 100 Jahren bestehenden und seit mehr als 50 Jahren beklagten Zwiespalt zwischen Theorie und Praxis aufhöbe und die musikalische Schule mit dem musikalischen Leben wieder in innigern Zusammenhang brächte.
Es sind nun mehr als 50 Jahre verstrichen, seit A. B. Marx mit seiner „Musikalischen Kompositionslehre“ (1837, Bd. 1) entschlossen einen Weg betrat, den H. G. Nägeli in seinen „Vorlesungen über Musik“ (1826) so vorgezeichnet hatte: „Die musikalische Kompositionslehre hat Anleitung zu geben, wie Rhythmus und Melodie elementarisch und kombinatorisch zu einem Kunstganzen verbunden werden können. Sie hat dies von unten herauf methodisch zu leisten.“ Das Auffallende und Charakteristische dieses Programms war, daß es nur von den beiden Disziplinen sprach, welche bis dahin in unverantwortlicher Weise vernachlässigt worden waren: Melodik und Rhythmik, und die in der vorausgehenden, über 100 Jahre zählenden Epoche fast ausschließlich in Betracht gezogene Harmonielehre absichtlich nicht nennt. Nicht als ob Nägeli oder Marx die Harmonielehre für ein unwesentliches Accidens gehalten hätten (wie umgekehrt der um die Bekämpfung veralteter Kunstregeln so hochverdiente Gottfried Weber vom Rhythmus geradezu sagte, er sei „nichts Wesentliches“); es galt aber, mit aller Schärfe zum Bewußtsein zu bringen, daß man von musikalischer Gestaltung reden könne, ohne der Harmonie zu gedenken, deren Erkenntnis und Lehre erst das Ergebnis jahrhundertelanger Kultur mehrstimmiger Musik ist, während die Tonkunst schon Perioden hoher Blüte erlebt hatte, ehe man auch nur in der primitivsten Weise mehrstimmig musizierte.
Und doch war die andauernde einseitige Beschränkung auf das Studium der Harmonielehre erklärlich genug. Es liegt immerhin etwas Wahres in dem von Marx an den Pranger gestellten Satz Albrechtsbergers (1790): „Der Generalbaß gestattet uns einen Einblick in das entschleierte innerste Heiligtum, zeigt den ganzen geheimnisvollen Bau eines Kunstwerkes im Skelett etc.“ Der Generalbaß (nur in dieser Gestalt kannte man ja zunächst Harmonielehre) war gewiß eine Offenbarung für jene Zeit hoher Kunstblüte, in der man die wunderbaren Verschlingungen des polyphonen Satzes nicht anders zu definieren gewußt hatte denn als eine Verkettung mehrerer Melodien, deren jede sich innerhalb einer andern Tonart, resp. Tonleiter bewegte (Glarean, 1547). Sowie einmal erst die Aufmerksamkeit vom Verfolg der Einzelmelodien auf die Betrachtung der Zusammenklänge hingeleitet war, konnte es nicht ausbleiben, daß ein stets [644] wachsendes Interesse tiefer und tiefer in die Geheimnisse der harmonischen Beziehungen der Töne einzudringen versuchte, um schließlich darüber Melodik und Rhythmik gänzlich zu vergessen. Das erste Jahrhundert nach Erfindung des Generalbasses (1600–1700) verstrich im glücklichen Genuß des neuen Darstellungsmittels, das äußerlich ja nur die Notenschrift anzugehen schien, aber gar bald einen großen Einfluß auf die tonschöpferische Thätigkeit ausübte. Es ist nicht zu bezweifeln, daß der Abklärungsprozeß, welcher sich im Verlauf des 17. Jahrh. vollzog, und dessen Endresultat die Herausbildung der modernen Tongeschlechter Dur und Moll war, zum mindesten unterstützt wurde durch die bei Anwendung des Generalbasses gebotene Beziehung aller Stimmen auf eine Fundamentalstimme. Das wäre nicht zu beklagen. Daß die „herrschende Melodie“, d. h. die Unterscheidung einer eigentlichen Melodiestimme von dem sogen. Akkompagnement, dem Basse nebst den durch die Generalbaßbezifferung nur angedeuteten Mittelstimmen, sogar eine direkt auf den Generalbaß zurückführende Errungenschaft ersten Ranges ist, sei nicht vergessen. Ein bedauerlicher Rückschritt war dagegen die Kehrseite dieses Fortschritts, die Verkümmerung der Begleitstimmen zu trocknen Akkorden. Eine italienische Opernarie mit ihrem überaus ärmlichen Akkompagnement möchte wohl einem Palestrina, Lasso oder gar Josquin als der Kunst unwürdig erschienen sein. Doch die Traditionen des polyphonen Stiles erhielten sich in der Kirchenmusik und wiesen da dem Generalbaß nur eine untergeordnete Stellung an; die gewaltigen Meister Bach und Händel lösten sogar das Problem der Verschmelzung der Stilprinzipien zweier grundverschiedener Kunstepochen und paralysierten den nachteiligen Einfluß der harmonischen Konzeption durch das von ihren nächsten Vorgängern vorgebildete neue Kunstmittel der Figuration. Sie schufen damit Typen, welche für jede kommende Epoche mustergültige Vorbilder bleiben werden; wir streben ja heute, da eine neue Periode stark überwiegender Homophonie zur Neige geht, nur nach einer neuen, ähnlichen Verselbständigung der Begleitstimmen. Vermutlich wird sich dieser Prozeß noch öfters wiederholen unter steter Bereicherung der harmonischen, figurativen und instrumentalen Mittel.
Während die Praxis diese bedeutsamen Wandlungen durchmachte und uns Kunstschätze von allerhöchster Bedeutung in unerschöpflicher Fülle aufspeicherte, hat sich die Theorie vergeblich abgemüht, der Praxis zu folgen. Sie hat, wie bereits angedeutet, sich beinahe gänzlich darauf beschränkt, die immer gewaltiger in den Vordergrund tretende Macht der Harmonie zu bewundern und ihr Wesen zu ergründen. Die Geschichte der Musiktheorie der letzten Jahrhunderte ist thatsächlich nur eine Geschichte der Harmonielehre, und erst seit den ersten Dezennien des 19. Jahrh. fängt die musikalische Formenlehre an, eine Rolle in den Lehrbüchern zu spielen. Seltsamerweise bilden die sogen. Kompositionslehren, welche versuchen, der Melodik und Rhythmik die gebührende Beachtung zu schenken und ex nuce die musikalischen Formen zu entwickeln, eine eigne Litteratur, neben der als immer noch reichste die der Generalbaßschulen im Stile des vorigen Jahrhunderts mit mehr oder minder gründlicher Abhandlung der Harmonielehre und die der Kontrapunktlehre (inkl. Kanon und Fuge) im Stile des 14.–15. Jahrh. sich unbeirrt weiter entwickeln. Wir haben also die seltsame Erscheinung der gleichzeitigen Vertretung der drei verschiedenen Epochen angemessenen Lehrmethoden. Die Kontrapunktlehre war die einzig mögliche Unterweisungsmethode einer Zeit, welche den vielstimmigen Satz als das Produkt mehrerer melodischer Bildungen ansah; die Harmonielehre mußte das Verständnis der gekennzeichneten neu sich herausbildenden Auffassungsweise vermitteln, und endlich mußte die Kompositionslehre erstehen, um die Unterlassungssünden der vorausgehenden Jahrhunderte gut zu machen. Der universelle Charakter der Kompositionslehre zeigt sich darin, daß die Harmonielehre und die Lehre von den strengen Formen der Nachahmung (doppelter Kontrapunkt, Kanon, Fuge) als Glieder in der Kette der von ihr begriffenen Disziplinen erscheinen. Der Grundgedanke der Kompositionslehre aber, wie ihn Marx klar und (wie man meinen sollte) ohne Möglichkeit des Mißverstehens aufgestellt hat, ist leider bisher gar nicht derart verstanden worden, daß die damit angestrebte Reform der Unterrichtsmethode perfekt geworden wäre. Gerade dieses Übersehen des Grundgedankens (oder vielleicht das absichtliche Nichtverstehenwollen, das freilich nach Marx’ etwas zu weit gehenden Ausfällen gegen die Herrschaft des Generalbasses und Kontrapunktes in der Schrift „Die alte Musiklehre im Streite mit unsrer Zeit“ [1841] einigermaßen erklärlich war) gibt aber den Schlüssel für das Rätsel, wie es geschehen konnte, daß jene beiden Lehrfächer nicht von der Kompositionslehre vollständig absorbiert wurden. Generalbaß wie Kontrapunkt operieren mit gegebenen Stimmen und sind für die Erfindungskraft keine eigentliche Schule, zumal der Generalbaß nicht, bei dem nicht nur eine Stimme (der Baß) oder gar zwei (Melodie und Baß), sondern auch der ganze harmonische Gehalt aller andern noch verlangten Stimmen gegeben ist. Die Generalbaßschulen hatten ehedem (noch im vorigen Jahrhundert) eine hohe praktische Bedeutung, nämlich die, aufsteigend vom Leichtern zum Schwerern die Fertigkeit im Ablesen der solchergestalt abgekürzt notierten Begleitungen auszubilden, d. h. sie wären jetzt etwa zu vergleichen einem Lehrgang des Partiturspiels; heute, wo keine Generalbässe mehr gespielt werden und alte Tonwerke nur noch äußerst selten in ihrer Originalgestalt mit Begleitung am Klavier oder der Orgel zur Aufführung gelangen, hat jene Lehre keine Bedeutung mehr. Daß man in ihr die Grundlage für die Ausbildung der Komponisten sehen konnte, ist vielleicht so zu erklären, daß man durch die Ausbildung im Generalbaßspiel die angehenden Künstler befähigte, die Werke der besten Meister gründlich kennen zu lernen, ebenso wie durch das Partiturspiel, nur in viel einfacherer, leichterer Weise. Daß die Harmonielehre derart mit dem Generalbaß verwuchs, daß es heute als kühne Neuerung erscheinen kann, wenn man beide auseinander zu reißen versucht, ist auf die historische Entwickelung zurückzuführen, daß der Generalbaß die erste Form war, in welcher die Zusammenklänge der Auffassung einigermaßen bequem sich darboten. Unerklärt bleibt es dagegen, warum man noch heute jahrelang dem Kompositionsschüler die Flügel bindet und ihn geistlose Generalbaßbeispiele ausarbeiten läßt, ehe er daran denken darf, selbst erfinden zu wollen. Dabei ist er derart von negativen Vorschriften eingeschränkt, daß ihm kaum irgend welche Entfaltung freien Willens oder künstlerischen Instinkts übrigbleibt, vielmehr die einmal begonnene Arbeit sich schablonenmäßig selbst fortspinnt. Etwas besser steht es um den Kontrapunkt. Da ist nur Eine Stimme gegeben, und der Schüler soll lernen, zu ihr eine zweite frei zu erfinden; keinerlei Harmonie ist zum voraus bestimmt, [645] soweit sie nicht das gegebene Thema als seiner Natur einzig angemessen fordert. Freilich ist die Methode, nach welcher Kontrapunkt gelehrt wird, wiederum gar nicht geeignet, ein gutes Fundament zu legen. Anstatt vom Schüler zu fordern, daß er den harmonischen Gehalt des Themas ergründe und im Vollgefühl desselben eine angemessene Gegenstimme schreibe, verlangt man vielmehr nach den für unsre Zeit durchaus veralteten Satzregeln der Zeit der Niederländer (14.–15. Jahrh.) möglichst viele, möglichst verschiedenartige Gegenstimmen, deren jede dem Thema eine andre harmonische Physiognomie gibt. So nützlich und übend ein solches Vorgehen auf höherer Stufe der Entwickelung ist, so wenig kann es doch als zweckmäßiger Ausgangspunkt der Studien angesehen werden. Ganz korrekt folgt daher jetzt in der Unterrichtspraxis gewöhnlich der Kontrapunkt nach der Harmonielehre. Der so nahe liegende Gedanke, die Erfindungskraft zunächst an einfacher Melodiebildung zu üben, welcher den Ausgangspunkt der Kompositionslehre von Marx bildet, bleibt aber noch heute fast allgemein unbeachtet, und man steckt statt dessen die Schüler jahrelang in die Zwangsjacke der Generalbaßarbeiten und ertötet so systematisch die freie Konzeption, anstatt sie zu wecken und zu fördern. Leider ist es Thatsache, daß diese Übelstände heute noch wenig gebessert sind, obgleich das Marxsche Werk großen Eindruck gemacht und zahlreiche Auflagen erlebt hat. Es scheint, daß dasselbe besonders dem Privatstudium gedient hat, und so mag es manches gut gemacht haben, was der reguläre Studiengang an den tonangebenden Konservatorien zu verderben geeignet war.
Das Marxsche Werk blieb freilich auch in mancher Beziehung hinter dem guten Willen des Autors zurück. Eine Lehre von der Melodiebildung hat doch auch Marx immerhin nur skizziert, und es hat sie auch nach ihm noch niemand geschrieben, was darin seinen Grund hat, daß eine befriedigende Theorie der Melodiebildung nur auf Grund einer befriedigenden Theorie der Rhythmik möglich ist, zu der aber die ersten Ansätze erst aus allerneuester Zeit datieren. Der Nägeli-Marxsche Grundgedanke, aus den einfachsten melodisch-rhythmischen Gestaltungen allmählich die ganze Formenlehre zu entwickeln, aber nicht dozierend, sondern in steter Kunstübung, steter praktischer Aneignung von Fertigkeiten statt Kenntnissen (Marx sagt: die Kompositionslehre soll nicht Lehre, sondern Erziehung sein!), ist als unzweifelhaft maßgebend festzuhalten. Dagegen bedarf die Marxsche Fassung der Lehre vom Rhythmus einer wesentlichen Umgestaltung und Vervollständigung auf Grund der neuesten Spezialstudien über die Natur des Rhythmus (s. unten III.).
Wenden wir uns nach diesem wenig erfreulichen, aber immerhin der Hoffnung Raum lassenden allgemeinen Ausblick zu einer kurzen Betrachtung dessen, um was nach Marx die theoretische Litteratur bereichert worden ist, so wollen wir die drei Abteilungen festhalten, die wir oben unterscheiden mußten: Generalbaßschulen- oder Harmonielehren, Kontrapunktlehren und Kompositionslehren.
Auf keinem Gebiet der Musiktheorie, ja auch auf dem der Musikgeschichte nicht, ist so viel gearbeitet worden wie auf dem der Harmonielehre; wie jeder Kalligraph eine eigens von ihm konstruierte Schreibfeder für unentbehrlich hält, so konstruiert heute jeder Harmonieprofessor an einem halbwegs bemerkenswerten Konservatorium, ja jeder einigermaßen beschäftigte Privatlehrer der Musik ein eignes Lehrbuch der Harmonie. Um die freilich nur selten belangreichen Unterschiede völlig zu verstehen, welche dabei zu Tage treten, müssen wir unsre Blicke noch einmal zurückwenden auf die historische Entwickelung der Harmonielehre. Daß die mittelalterlichen Theoretiker alle Zusammenklänge, auch die von vier und mehr Tönen, nach den Intervallen beurteilten, welche je zwei und zwei Töne derselben bildeten, also ohne einheitliche Zusammenfassung zu Akkorden, deuteten wir bereits an. Die ersten Anfänge eigentlicher Harmonielehre, d. h. die Annahme von mehrstimmigen Bildungen, denen eine hervorragende Bedeutung zukomme, finden sich in den „Istituzioni harmoniche“ (1558) des berühmten Zarlino, der zuerst den Durakkord und Mollakkord einander gegenüberstellt, und zwar in einer Form, die wir bei Tartini (1754) und seit M. Hauptmann (1853) bei einer größern Zahl neuerer Theoretiker wiederfinden; Zarlino sieht den Mollakkord als das vollständige Gegenbild des Durakkords an, indem er letztern auf die harmonische Teilung der Saite 1 : 1/2 : 1/3 : 1/4 : 1/5 : 1/6, erstern dagegen auf die arithmetische Teilung 6/6, 5/6, 4/6, 3/6, 2/6, 1/6 bezieht oder einfacher auf 1/4 : 1/5 : 1/6 und 6 : 5 : 4. Obgleich Zarlino es nicht ausdrücklich sagt, scheint es doch, daß er diese beiden Gebilde als allein die harmonische Auffassung bestimmend ansieht, und es liegt eine seltsame Ironie darin, daß wir nach 325 Jahren wieder auf demselben Punkte angekommen sind, von dem aus eine rationelle Behandlung der Harmonielehre so leicht ist und unfehlbar schnell zu einer befriedigenden Lösung hätte geführt werden müssen, wäre nicht der Generalbaß wenige Jahrzehnte später dazwischen gekommen. Die eminente praktische Bedeutung des Generalbasses als summarischer Bezeichnung aller Zusammenklänge nach der Entfernung der einzelnen Töne vom Baßton führte schnell eine Nomenklatur ein, welche die eigentliche Harmonielehre gar nicht aufkommen lassen konnte, da sie die Aufmerksamkeit von deren Prinzipien geradezu weglenkte. Erst nach mehr als einem Jahrhundert schuf der große französische Theoretiker J. Ph. Rameau („Traité de l’harmonie“, 1722; andre zahlreiche Schriften folgten bis 1760) einen neuen Ausgangspunkt für die Fortentwickelung der Theorie mit der Lehre von der Umkehrung der Akkorde. Was heute jedem musikalischen Abcschützen selbstverständlich erscheint, daß der Sextakkord und Quartsextakkord Umkehrungen des Dreiklanges sind, war vor 150 Jahren eine wahrhaft epochemachende Entdeckung! Freilich die Generalbaßbezifferung verriet z. B. von der harmonischen Identität des Sekundquartsextakkords und Quintsextakkords nichts. Im Grunde war freilich diese Entdeckung nichts andres als ein Wegziehen des durch die Generalbaßnomenklatur über die Akkordlehre geworfenen Schleiers; man bekam wieder zu sehen, was Zarlino längst gesehen und die vorausgehende Zeit wohl wenigstens instinktiv gefühlt hatte. Die Lehre von der Umkehrung der Akkorde wurde nun ein ständiges Kapitel aller Generalbaßschulen, so gut in Italien, Deutschland und England wie in Frankreich. Dabei trat schnell hervor, daß die als Grundformen anzusehenden Akkordgebilde (Dreiklang, Septimenakkord) die Töne terzenweise übereinander geordnet aufweisen (c : e : g, g : h : d : f), und seltsamerweise wurde nun der Terzenaufbau als eine Art Naturgesetz angesehen und daher jeder aus übereinander gestapelten Terzen aller Art konstruierte Akkord als ein Gebilde von grundlegender Bedeutung, als Stammakkord, angesehen. Rameau [646] ist für diese Verirrung nicht verantwortlich zu machen, die schließlich in dem System von J. H. Knecht („Elementarwerk der Harmonie“, 1792–98, 4 Teile) mit seinen Legionen von Urakkorden bis hinauf zu den Terzdezimenakkorden (oder umständlicher: Terzdezimundezimnonseptimenakkorden) gipfelte. Das zweifelhafte Verdienst, die Lehre in diese Bahnen gelenkt zu haben, gebührt den Italienern Calegari (1732), Vallotti (1779) und Sabbatini (1789–99), den Deutschen Sorge (1745), Marpurg (1755), Kirnberger (1773) und Abt Vogler (1776–78). Das monotone Ergebnis dieser Betrachtungsweise ist die Konstruktion von Dreiklängen und Septimenakkorden (bei den schlimmsten Schematikern auch noch Nonenakkorden oder gar Undezimen- und Terzdezimenakkorden) auf allen Stufen der Tonleiter in Dur und Moll, wie sie sich in Friedrich Schneiders „Elementarbuch der Harmonie und Tonsetzkunst“ (1820) festsetzte und ohne prinzipielle Abweichungen in allen seither erschienenen Generalbaßschulen fortlebt, vor allem auch noch in E. F. Richters so weitverbreiteter „Harmonielehre“ (1853, 15. Aufl. 1882), desgleichen in Jadassohns „Lehrbuch der Harmonie“ (2. Aufl. 1887), auch in der mit so viel Pomp angekündigten und so prachtvoll ausgestatteten und doch inhaltlich nur dürftigen „Harmonielehre“ von Kaspar Jakob Bischoff (1890), in Frankreich unter anderm in Jelenspergers „L’harmonie au commencement du XIX. siècle“ (1830). Rameau selbst hatte aber ganz andre Wege für den Ausbau der Theorie gewiesen, die leider nur von wenigen Einsichtigen bemerkt und von keinem seiner direkten Nachfolger weitergeführt wurden. Der Terzenbau war für Rameau nicht das eigentliche Prinzip; vielmehr ist der Grundgedanke seines Systems die Auffassung aller Zusammenklänge im Sinne von Dur- und Mollakkorden, und die Lehre von der Umkehrung der Akkorde war nur eine der Formen, in welchen sich dieser Gedanke darthat (h : d : g wird im Sinne des G dur-Akkords verstanden, erscheint daher als ein G dur-Akkord, dessen Baßton nicht der Hauptton, sondern die Terz ist); daß man auch Akkorde im Sinne des G dur-Akkords verstehen könnte, welche beim terzenweisen Aufbau der Töne einen andern Grundton zeigten als g, ja sogar Akkorde, die g gar nicht enthalten, wollte den Zeitgenossen nicht recht einleuchten, da sie zufolge der hundertjährigen Gewöhnung an den Generalbaß sich nicht davon losreißen konnten, anderswo als im tiefsten Ton (wenn auch allenfalls im tiefsten Ton des durch Umkehrung gefundenen Stammakkords) den Hauptton zu sehen. Rameau verstand aber z. B. (wenn auch nicht immer) h : d : f im Sinne des G dur-Akkords (mit ausgelassenem Hauptton) und d : f: a : c im Sinne des F dur-Akkords (mit Sexte). Selbst Marpurg, der im übrigen Rameaus System verstand und adoptierte, erwies sich in dieser Hinsicht kurzsichtig und behandelte den verminderten und übermäßigen Dreiklang, wie den Dur- und Mollakkord, als einfache Dreiklänge, während sogar der sonst so konservative Kirnberger in dieser Hinsicht Rameau beistimmte. Nur der Italiener Ristori (1767) übernahm Rameaus System vollständig, und der Franzose Abbé Roussier (1764) suchte es fortzuentwickeln, wozu er leider nicht musikalisch genug war; übrigens wurde letzterer später (1775) abtrünnig und negierte gänzlich die Terzverwandtschaft der Töne, indem er zum System des Pythagoras, der Tonbestimmung nur nach Quintenschritten, zurückkehrte (dasselbe that in neuerer Zeit K. E. Naumann mit seiner Dissertation „Über die verschiedenen Bestimmungen der Tonverhältnisse und die Bedeutung des pythagor. oder reinen Quintensystems für unsre Musik“, 1858).
Gottfried Weber (1817) hielt den Terzenbau fest, anerkannte aber wenigstens die Auffassung des verminderten Dreiklanges als unvollständigen Septimenakkords und die des verminderten Septimenakkords als unvollständigen kleinen Nonenakkords. Im übrigen war er einer von Marx’ wackersten Vorgängern in der Bekämpfung veralteter und unhaltbarer Gesetze, ohne jedoch als Äquivalent seiner Negationen etwas andres, Positiveres als zusammenhangslose Einzelheiten bieten zu können. Vom Generalbaß kam er nicht los, hat aber das Verdienst, den Grund zu einer neuen Art der Akkordbezifferung gelegt zu haben, welche die Natur des Akkords selbst scharf kennzeichnet ohne Beeinflussung durch die Tonartvorzeichnung, d. h. ohne Verschmelzung großer und kleiner oder übermäßiger und verminderter Intervalle (C7 = c.e.g.b, C7 = c.e.g.h, c7 = c.es.g.b, 0c7 = c.es.ges.b etc.). Diese Art der Bezifferung wurde s. Z. von E. F. Richter vervollständigt und in den letzten Auflagen seiner „Harmonielehre“ zur Bezifferung von Sopranmelodien (ohne gegebenen Baß) angewendet, in noch reicherm Maße aber von seinem Sohne Alfred Richter in dem „Aufgabebuch zu E. F. Richters Harmonielehre“ (1880). Als eine Weiterbildung von Webers Akkordbezeichnung ist H. Riemanns „Klangschlüssel“ anzusehen (in der „Skizze einer neuen Methode der Harmonielehre“, 1880, 2. Aufl. erweitert als „Handbuch der Harmonielehre“, 1886, u. a). Eine besondere Gruppe bilden diejenigen Harmonielehren, welche eine kleine Zahl wesentlicher Akkorde annehmen und alle andern als durch Bindung (Liegenbleiben), Durchgang, chromatische Veränderung (Alteration) oder Antizipation entstanden darstellen; das erste derartige Beispiel war Daubes „Generalbaß in drei Akkorden“ (1756), ein für seine Zeit höchst beachtenswertes Werk, das übrigens offenbar auf Rameau fußte. Daubes drei Akkorde sind: der Dreiklang der Tonika, der Oberdominantakkord mit Septime und der Unterdominantakkord mit Sexte (!). Es sind das in der That auch nach der heutigen Auffassung die wesentlichen Gebilde der tonalen Harmonik. Ein ähnliches System gab der Franzose Catel („Traité d’harmonie“, 1802), betrachtete aber als wesentliche Akkorde außer den Dreiklängen (auch den verminderten rechnete er dazu) den Dominantseptimenakkord, den verminderten Dreiklang mit kleiner Septime, den verminderten Septimenakkord und den großen und kleinen Nonenakkord auf der Dominante. Catels System steht in Frankreich noch heute in Ansehen. Ähnlich unterscheidet noch S. W. Dehn in seiner „Harmonielehre“ (1840) den Dominantseptimenakkord und den verminderten Dreiklang mit kleiner und verminderter Septime als Hauptseptimenakkorde von andern Septimenakkorden, während bei Richter und andern Neuern der Dominantseptimenakkord allein als Hauptseptimenakkord bezeichnet wird und alle andern als (übrigens ziemlich gleichberechtigte) Nebenseptimenakkorde erscheinen. Nur das in vielen Einzelheiten sehr interessante und beherzigenswerte, in seiner Totalanlage aber verfehlte „Harmoniesystem“ von Karl G. P. Grädener (1877) kommt noch zu einem ähnlichen Resultat wie Catels Lehre. Grädener hält es für nicht angemessen, dissonante Akkorde von konsonanten abzuleiten (!), und nimmt daher als Basis für die Entwickelung seiner wesentlichen Septimenakkorde den verminderten Dreiklang an, von [647] dem aus er durch Ansetzung von Terzen oben oder unten den Dominantseptimenakkord, kleinen Septimenakkord (h.d.f.a), verminderten Septimenakkord und großen und kleinen Nonenakkord gewinnt. Da auf diesem Wege Gebilde wie d.f.a.c nicht zu finden sind, werden dieselben als nebensächliche, zufällige Bildungen angesehen. Ein Unikum ist auch Grädeners Ableitung der diatonischen Tonleiter aus der chromatischen (einen Auszug aus Grädeners System gab sein Schüler Max Zoder: „Kurzgefaßte Harmonielehre“, 1881). Mit solchen Haarspaltereien ist viel Zeit und Arbeit vergeudet worden, gar nicht zu gedenken der aus der Kontrapunktlehre entstandenen Streitigkeiten über die Dissonanz oder Konsonanz der Quarte, die auch noch in Dehns System spuken. Da war es doch eine dankbarere Aufgabe, der sich einige andre Theoretiker ebenfalls im Anschluß an Rameaus nach so vielen Seiten anregenden Ideen unterzogen, nämlich der Versuch, die Gesetze der Akkordverbindung, der Klangfolge, zu ergründen. Rameaus Zurückführung der Akkorde auf ihre Stammformen (in Terzenaufbau etc.) legte den Gedanken nahe, die Intervalle zu verfolgen, in welchen die Grundtöne dieser Stammformen einander gewöhnlich folgen, und dabei stellte sich heraus, daß die Quint- (resp. Quart-) Schritte in dieser (fingierten) Fundamentalstimme (der sogen. Basse fondamentale) eine besonders hervortretende Rolle spielen, während in zweiter Linie Terzschritte (doch meist nur von Dur- zu Mollakkorden oder umgekehrt) in Betracht kommen. Diese Beobachtung führte nun aber zu seltsamen Auswüchsen, da man Sekundschritte des Fundaments einfach negieren zu müssen glaubte; zwei neuere Werke, in denen dieser Satz festgehalten ist, sind Simon Sechters „Grundsätze der musikalischen Komposition“ (1853–54) und K. Mayrbergers „Lehrbuch der musikalischen Harmonik“ (1878). Um sich eine rechte Vorstellung zu machen, wozu eine solche Prinzipienreiterei führen kann, sei nur erwähnt, daß nach beiden Werken das Fortschreiten vom Unterdominant- zum Oberdominantakkord (z. B. F dur – G dur) nur begreiflich und statthaft erscheint, indem man zwischen beiden als Hilfsfundament die kleine Unterterz der Unterdominante ergänzt (d), und daß ebenso nach beiden Werken die natürlichste Fortschreitung vom Unterdominantakkord aus die in dem verminderten Dreiklang auf der siebenten Stufe ist (h.d.f). Jeder unbefangene Anfänger oder jedes musikalisch beanlagte Kind würde aber eher zu jeder andern Harmonie der Tonart als gerade zu dieser weitergehen. Das Irrige der in beiden Werken als Hauptlehrsatz hervortretenden Annahme, daß alle Quint- und Quartschritte des Fundaments gleich gut oder ähnlich gut seien wie der entsprechende Schritt von der Dominante zur Tonika, hat zuerst Fétis (s. unten) schlagend bewiesen, indem er darauf hinwies, daß jener Irrtum der Liebhaberei für Sequenzen entstammt, die aber gar nicht harmonische, sondern melodische Bildungen sind. Wenn auch nicht zu einem geschlossenen System von eiserner Logik und Konsequenz (was nützt dieses, wenn das Fundament schlecht ist?), wohl aber zu höchst wertvollen Beobachtungen und für die Praxis direkt nutzbaren Anweisungen brachte es der braunschweigische Kammermusiker Ad. Jos. Leibrock in seiner „Musikalischen Akkordlehre“ (1875). Ein wenig mehr Ökonomie und eine etwas systematischere Anordnung, und das Werk hätte großes Aufsehen erregen müssen, anstatt als eine litterarische Sonderbarkeit belächelt und beiseite gelegt zu werden. Leibrock hat ein so intensives Gefühl für die tonale Logik, daß er wahre Goldkörner in Fülle in alle Kapitel seines Buches verstreut, die nur leider gesucht sein wollen, um gefunden zu werden. Direkt ins Auge springend sind nur die hervorragende Bedeutung, welche Leibrock der Unterdominante beimißt, und das fortwährende Festhalten des Bewußtseins der Stellung der Akkorde in der Kadenzbildung, während andre Theoretiker sich immer gleich in Sequenzen verlaufen. Goldne Wahrheiten sind aber auch seine Andeutungen über die Dissonanz des Quartsextakkords, über die häufige Scheinkonsonanz der Mollakkorde in Dur etc. Eine Analyse des Buches ist hier unmöglich, man muß es lesen. Die Darstellung Leibrocks hat manches Verwandte mit Riemanns „Musikalische Logik“ (1873) und „Musikalische Syntaxis“ (1877), welch letztere Schrift ausdrücklich als „Grundriß einer harmonischen Satzbildungslehre“ bezeichnet ist. Ein speziell die modulierende Modulation untersuchendes, leider nicht systematisches, sondern nur praktisch routiniertes und etwas einseitiges Schriftchen von Felix Dräseke, „Anweisung zum kunstgerechten Modulieren“ (1876), sei gleich hier angeschlossen (dasselbe Urteil gilt für die „Modulationsbeispiele“ von B. Rollfus, 1889); die „Schule des Harmonisierens, Modulierens und Präludierens im Kirchenstil“, von Otto Tiersch (1889), soll einem Spezialzweck dienen, verzettelt sich aber in Allgemeines. Sehr viel wertvoller, wenn auch nicht als System, so doch als überaus reiche und interessante Beispielsammlung ist Bernhard Ziehns „Harmonie- und Modulationslehre“ (1889). Fétis’ „Traité de la théorie et de la pratique de l’harmonie“ (1844, 12. Aufl. 1879) hat überall das größte Aufsehen gemacht, nur nicht in Deutschland, vermutlich darum, weil bei uns zunächst Marx das Feld beherrschte und sodann Hauptmann in noch intensiverer Weise das Interesse gefangen nahm. Fétis hat aber das große Verdienst, den ewigen Spiegelfechtereien um Stamm- und Nebenakkorde, erlaubte und unerlaubte Harmoniefortschreitungen definitiv ein Ziel gesetzt zu haben, indem er den ganzen Apparat der Harmonielehre in beispielloser Weise vereinfachte und als selbständige Bildungen nur noch den Dur- und Mollakkord und den Dominantseptimenakkord anerkannte. Seine Aufstellung des Prinzips der Tonalität (Auffassung der Akkorde im Sinne der Tonika, nach ihrer Stellung zu dieser) ist eine wahrhaft große Enthüllung, deren Tragweite noch heute nur von wenigen voll erkannt ist. Streift man noch die letzte Schlacke ab, die an Fétis’ System als Erinnerung an die Irrwege der ältern Theorie hängen geblieben ist, nämlich das Festhalten des Dominantseptimenakkords als einer Grundharmonie (die Septime ist natürlich ebensogut ein Zusatz zum Durakkord, wie es die Sexte sein würde), so ist der Läuterungsprozeß thatsächlich vollzogen und das Prinzip des musikalischen Hörens klargelegt, d. h. die alleinige Bedeutung des Durakkords und des Mollakkords als wirklicher Grundharmonien, wie solche schon Zarlino angedeutet hatte, aufgewiesen, und man könnte höchstens noch wünschen, die Fassung in der Art verändert zu sehen, daß Moll und Dur konsequent auch in allen Folgerungen als Gegensätze festgehalten werden.
Dieser letzte Schritt sollte nicht auf sich warten lassen. Der Mann, welchem es beschieden war, mit der Aufstellung des polaren Gegensatzes von Dur und Moll einen großen Erfolg zu erringen, ist Moritz Hauptmann. Dem Erscheinen seines bedeutenden Werkes: „Die Natur der Harmonik und der Metrik“ [648] (1853), ging eine kleine Schrift eines seiner Schüler, Otto Kraushaar, voraus: „Der akkordliche Gegensatz und die Begründung der Mollskala“ (1852), die übrigens in der Entwickelung der Konsequenzen des leitenden Grundgedankens weiter ging als Hauptmann selbst. Die Zarlinosche Erklärung der Mollkonsonanz und Durkonsonanz durch die beiden Reihen der ganzen Zahlen und der einfachen Brüche (s. oben) war bereits 1754 von dem berühmten Geiger G. Tartini („Trattato di musica“) in vervollkommter Gestalt erneuert worden. Auch schon Rameau hatte, als er die Durkonsonanz durch das Phänomen der Obertöne (sons harmoniques) begründete, versucht, für die Mollkonsonanz ein gegensätzliches Phänomen als Erklärung aufzuweisen. Seine Bemerkung, daß durch das sogen. Mittönen alle die Saiten in Schwingung geraten, von denen ein angegebener Ton Oberton ist, und daß diese Saiten von dem erregenden Ton aus eine Reihe darstellen, welche der der Obertöne als vollkommener Gegensatz entspricht:
(Obertöne) | (Untertöne) |
und den Mollakkord ergibt, wurde durch d’Alembert, den gelehrten Physiker und Kommentator der Lehre Rameaus („Éléments de musique théorique et pratique, suivant les principes de M. Rameau“, 1752; übersetzt von Marpurg 1757), dahin berichtigt, daß jenes Mitschwingen nur den erregenden Ton verstärkt, nicht aber die Eigentöne der tiefen Saiten hervorruft. Rameau mußte sich daher begnügen, den Mollakkord als einen Zusammenklang nächstverwandter Töne zu bezeichnen, der dem Durakkord gegensätzlich sei. Tartini fand aber ein wirkliches Phänomen, das geeignet schien, die vermißte natürliche Begründung des Mollakkords zu geben, in den Kombinationstönen, die er bereits 1714 entdeckt hatte. Der Hauptkombinationston eines Intervalls ist nach Tartinis rektifizierter Aufstellung in der Schrift „De’ principj dell’ armonia“ (1767) der erste gemeinsame Unterton der beiden Töne. Tartini stellte daher, wie Zarlino, die beiden Reihen der Ober- und Untertöne einander gegenüber und betonte ausdrücklich, daß es verkehrt sei, den Mollakkord als einen Akkord mit kleiner Terz anzusehen; er habe eine große Terz wie der Durakkord, aber man müsse sich den Akkord von oben herunter denken: . Dieser Gedanke erlebte nun 300 Jahre nach Zarlino und 100 Jahre nach Tartini die dritte Geburt im System Moritz Hauptmanns. Hauptmann kennt, wie Tartini, nur eine Art der Terz, die große; die kleine Terz ist nur der Zusammenklang des Quinttons mit dem Terzton. Die vollendete, bis dahin unerhörte philosophische Form, in die Hauptmann seine Lehre kleidete, verhinderte einerseits eine allgemeine Verbreitung derselben und täuschte anderseits über ihre Schwächen hinweg. Der Hauptfehler des Hauptmannschen Systems ist die Inkonsequenz in dem Ausbau der Theorie der Molltonart; hatte er den Mollakkord als strikten Gegensatz des Durakkords definiert, so verbaute er sich selbst eine glückliche Fortführung durch die unlogische Definition der Molltonart (S. 36): „Der Mollakkord als geleugneter Durakkord wird diesen selbst, dessen Negation er ist, erst wirklich voraussetzen müssen (als Dominante); denn es kann etwas Wirkliches nicht vom Negativen ohne positive Voraussetzung ausgehen. Es kann aber das Moment der Negation als Hauptbestimmung gesetzt werden … als Tonika.“ Das ist falsch. Seit Fétis wissen wir, daß Tonart oder Tonalität die Auffassung von Klängen nach ihrer Stellung zu einem das Zentrum bildenden Hauptklang ist; dieser letzte Einigungspunkt der Beziehungen kann aber doch unmöglich ein Gebilde sein, das selbst wieder etwas Bezogenes, eine bloße Negation ist. Aber auch abgesehen von diesem logischen Fehler, ist die Definition verhängnisvoll; die Duroberdominante als conditio sine qua non schneidet der Molltonart die Beziehungen zu den durch steigende Quint- und Terzschritte zu erreichenden Molltonarten ab. Die Lehre von der Verwandtschaft der Molltonarten ist daher wieder ein wunder Fleck im System. Eine fernere Sonderbarkeit in Hauptmanns System ist seine Lehre von der Verbindung der Akkorde; dieselbe steht in ganz unbegreiflicher Weise außer Zusammenhang mit dem Grundgedanken seines Systems. Es erscheint da mit einemmal die Gemeinschaftlichkeit von Tönen als Zeichen der Klangverwandtschaft (S. 78): „Es kann immer nur gleichzeitig zusammengefaßt werden, was eine harmonische Einheit, d. h. ein gemeinschaftliches Intervall, hat, d. h. zwei Dreiklänge, die in zwei Tönen verwandt sind; denn es ist eben nur der Übergang in das Nächste die unmittelbar verständliche Folge.“ Hauptmann vermittelt die Folge der Akkorde g.h.d und g.c.e durch g.h.e und die Folge f.a.c – g.h.d durch f.a.d und f.h.d. Das ist ja noch schlimmer als Sechters Hilfsfundamente. Daß Klänge, die im Verhältnis von Tonika und Dominante stehen, keiner Vermittelung bedürfen, sondern selbst die allernächst verwandten sind, ist so sehr Überzeugungssache jedes Unbefangenen, daß die Aufstellung derartiger komplizierten Erklärungen nur abschreckend wirken kann. Auch Hauptmanns Definition der Septimenakkorde als Ineinanderliegen zweier Dreiklänge, z. B. g.h.d.f als g.h.d und h.d.f, ist nicht annehmbar. Und Hauptmann vergißt zu bald, daß nach seinem Fundamentalsatz h.f keine Quinte und h.d keine Terz ist.
Die persönlichen Schüler Hauptmanns haben nichts gethan, um diese Schäden zu bessern; sie stehen ohne Ausnahme so im Banne der Worte ihres Meisters, daß sie es über Kommentare und kleine Ergänzungen nicht gebracht haben. Das gilt in erster Linie von O. Paul („Die Lehre von der Harmonik“ [nachgelassenes Werk Hauptmanns] und „Lehrbuch der Harmonik“, 1880), auch von W. A. Rischbieter („Über Modulation, Quartsextakkord und Orgelpunkt“, 1879; „Die Gesetzmäßigkeit der Harmonik“, 1888). Einzig und allein Otto Bähr hat es gewagt, dies und jenes auszusetzen in seinem Buch „Das Tonsystem unsrer Musik“ (1882); leider trifft er aber nicht die Hauptpunkte und verunglückt gänzlich mit dem Versuch, das Hauptmannsche System mit dem Helmholtzschen auseinanderzusetzen (zu gunsten des erstern). Louis Köhler ist zwar nicht Hauptmanns persönlicher Schüler, hat aber seine Lehre zweimal buchstabengetreu wiedergegeben („Systematische Lehrmethode für Klavierspiel und Musik“, 2. Bd.: „Musiklehre“ [Tonschriftwesen, Metrik, Harmonik], 1858, und „Allgemeine Musiklehre“, 1883). Auch Felix Dräsekes „Lehre von der Harmonik, in lustige Reimlein gebracht“ (1884), gehört hierher. Das geistvolle „System der Tonkunst“ von Eduard Krüger (1866), in seiner Totalität mehr eine scharfsichtige Übersicht als ein ausgeführtes Lehrbuch, enthält eine Reihe wohlbegründeter Bedenken gegen Hauptmanns Lehrsätze, [649] unter andern auch (S. 122) gegen seine Lehre von der Akkordverwandtschaft. Eine fast erschöpfende Kritik des Hauptmannschen Systems und eine konsequente Weiterführung des von demselben im Prinzip neu aufgestellten harmonischen Dualismus unternahm Arthur v. Öttingen („Harmoniesystem in dualer Entwickelung“, 1866). Der Mollakkord ist bei ihm nicht nur von oben nach unten konstruiert, sondern auch nach seinem obersten Ton benannt; die Tonika der Molltonart (in Öttingens Terminologie „Phonika“) ist nicht ein geleugneter Durakkord, sondern ein Mollakkord als prima ratio; die Molltonart hat nicht stereotyp eine Duroberdominante, vielmehr zunächst eine Molloberdominante und erst als Mischgeschlecht (halbphonisch, Hauptmann müßte sagen „Durmoll“) eine Duroberdominante, wie auch Dur eine Mollunterdominante haben kann (Hauptmanns „Molldur“); zudem werden noch einige weitere mögliche Mischgeschlechter entwickelt. Die Verwandtschaftslehre ist zu größter Klarheit entwickelt, überhaupt ein ganz neuer Ausbau der Theorie angedeutet. Das Werk ist epochemachend. Öttingens Arbeit nahm H. Riemann auf und ergänzte sie durch Ausarbeitung einer neuen Bezifferung (s. oben); derselbe versuchte auch in seiner „Systematischen Modulationstheorie“ (1887) und dem „Katechismus der Harmonielehre“ (1890), das Modulationswesen auf eine sichere Basis zu stellen (als Lehre von den Funktionen der Harmonie [Tonika, Unter- und Oberdominante] und deren Umdeutungen). Weiter schlossen sich mehr oder minder eng an: Adolf Thürlings („Die beiden Tongeschlechter und die neuere musikalische Theorie“, 1877) und Ottokar Hostinsky („Die Lehre von den musikalischen Klängen“, 1879). Ein eigentümlicher Versuch, Hauptmanns Theorie des Moll zu retten und doch die Öttingensche Konsequenz der Durchführung zu wahren, ist Anton Krispers „Die Kunstmusik in ihrem Prinzip, ihrer Entwickelung und ihrer Konsequenz“ (1882); Krisper ermöglicht das, indem er dem Moll mit Duroberdominante das Dur mit Mollunterdominante als „vollkommenen Durbestimmungsausdruck“ gegenüberstellt. Auch Julius Klausers „The septonate and the contralization of the tonal system“ (1889) steht auf dem Boden der neuesten Fortschritte, hält aber wie Hauptmann die Duroberdominante für Moll fest und hat die besondere Eigentümlichkeit, als Melodiengrundlage nicht eine Oktavenskala, sondern eine Septimenskala mit der Tonika in der Mitte anzunehmen, was zunächst eine befremdende Vertauschung der Namen der Ober- und Unterdominante ergibt, übrigens aber ein guter Gedanke ist. Wenigstens könnte man Klausers plagale Septimenskala neben Dräsekes authentischer („Die Beseitigung des Tritonus“, 1878; nämlich: als zweite Melodiengrundlage) gelten lassen. Ebenfalls erwähnenswert, weil originell und nicht ungereimt, ist Friedrich Mertens „Harmonische Klangbildung aus dem Grundakkord“ (1891). Das Buch bringt die ärgerliche Neuerung, daß es a c e den C moll-Akkord nennt; der Gedanke selbst aber, die beiden Akkorde, welche dieselbe große Terz haben, als einander besonders nahestehend zu behandeln, ist sicher gut. Die Musikbeispiele des Buches lassen übrigens auf die musikalischen Eigenschaften des Verfassers keine günstigen Schlüsse zu.
Mit besonderer Auszeichnung müssen wir Helmholtz’ „Lehre von den Tonempfindungen“ (1863, 4. Aufl. 1877) gedenken, welche einen großen Einfluß auf die neuere Musik ausgeübt hat, sofern sie die Rameausche Idee der Begründung der Harmonielehre durch akustische Phänomene wieder aufnahm und mit allen Mitteln der fortgeschrittenen Naturforschung im einzelnen ausführte. Die Lehre von der Tonverwandtschaft hat damit wohl für alle Zeiten eine feste wissenschaftliche Grundlage erhalten; die von einigen andern Theoretikern (Marx, Hauptmann) geahnte und mehr oder minder deutlich ausgesprochene Terzverwandtschaft der Klänge und Tonarten (und zwar auch der gleichgeschlechtigen, z. B. C dur und E dur oder As dur, A moll und F moll oder Cis moll) ist zu einem unumstößlichen Lehrsatz geworden. Ganz verfehlt ist freilich Helmholtz’ Erklärung der Mollkonsonanz und die Unterscheidung von Konsonanz und Dissonanz, welche von Öttingen und Lotze („Geschichte der Ästhetik in Deutschland“, 1868) treffend kritisiert und, wie bereits angedeutet, von ersterm durch bessere Ausführungen ersetzt wurde. Moll ist eben kein verdorbenes Dur, sondern selbst etwas dem Dur vollkommen Gleichberechtigtes und in manchen Epochen sogar Vorgezogenes; Dissonanz aber ist nicht Übelklang, sondern Zwieklang – es gibt musikalische Dissonanzen in Fülle, für welche die Theorie der Schwebungen keine Erklärung bringt. Auch die angezogenen Schriften von Hostinsky und Riemann beschäftigen sich näher mit diesen Problemen, und der letztere hat versucht, die Dissonanzlehre auszubauen und nachzuweisen, daß das Musikhören ein Vorstellen, nicht aber ein passives Aufnehmen von Gehörseindrücken ist. Eine Reihe theoretischer Schriften von Otto Tiersch („System und Methode der Harmonielehre“, 1868; „Kurze praktische Generalbaß-, Harmonie- und Modulationslehre“, 1876; „Kurzes praktisches Lehrbuch für Kontrapunkt und Nachahmung“, 1879; „Kurzes praktisches Lehrbuch für Klaviersatz und Akkompagnement“, 1881) ist von ihrem Autor in der Absicht verfaßt, eine Verschmelzung der Lehren Hauptmanns und Helmholtz’ zu bewirken (vgl. sein Vorwort), eine teils unmögliche, teils sehr schwere Aufgabe. Wenn dem Verfasser auch zuerkannt werden muß, daß er richtigen musikalischen Instinkt, ingleichen Verständnis für die Ergebnisse der Helmholtzschen Untersuchungen offenbart, so fehlt ihm doch die Gabe, die einfachsten Formen für die Mitteilung seines in sich übrigens konsequenten Systems zu finden. Tiersch ist harmonischer Dualist, aber im engen Anschluß an Hauptmann, d. h. Moll kommt auch bei ihm zu kurz, was im Hinblick auf die Beziehung zu Helmholtz freilich nur um so erklärlicher ist. Tiersch kennt in Wirklichkeit nur die Beziehungen der Töne auf einen Grundton, wie auch Hauptmann trotz des Scheines des Gegenteils nur sie kennt (vgl. „Natur der Harmonik etc.“, § 31); die wirkliche Einheitsbedeutung für den Mollakkord ist aber nur durch konsequentes, ohne alle Reserve zugegebenes Denken der Grundintervalle (Quint und Terz) von oben nach unten zu gewinnen. Akkordverwandtschaft und Modulation sowie ähnliche aus dem obersten Prinzip abzuleitende Begriffe können sonst nicht anders als einseitig in halbem Dursinn ausfallen. Nur A. v. Öttingen und H. Riemann sind hier ganz konsequent vorgegangen und fanden damit den Schlüssel für die harmonischen Fundamente der Favoritskalen des Altertums (dorische Tonleiter der Griechen) und Mittelalters (phrygischer Kirchenton) wie für die Nationalmelodik der nordischen Völker (Skandinaven, Schotten, Russen).
Wenn schon Riemann gegenüber Helmholtz die Unzulänglichkeit der mathematischen und physikalisch-physiologischen Darlegungen für die Erklärung der [650] Gesetze des Musikhörers betont, so scheint ein noch nicht beendetes, aber bereits auf zwei stattliche Bände angewachsenes Werk von C. Stumpf („Tonpsychologie“, 1883–90) berufen, die wissenschaftliche Begründung der Musiktheorie ganz auf das Gebiet der Psychologie hinüberzuspielen und die letzten Widersprüche gegen den harmonischen Dualismus zu beseitigen. Stumpf hat nämlich die einseitige Heranziehung des Phänomens der Obertöne zur Begründung der Durkonsonanz aufgegeben und sucht vielmehr in diesem Phänomen nur einen Beleg für eine Form der „Verschmelzbarkeit“ verschiedener Töne zur Einheit. Der Gedanke ist noch nicht völlig abgeklärt, dürfte sich aber in den fernern Bänden des Werkes wohl dahin präzisieren, daß in der Übereinstimmung der Bedingungen für Hervorbringung und Verlauf der Schwingungen der Grund für die Verschmelzung mehrerer Töne zur Einheit eines Klanges liegt, daß aber diese Verschmelzung ebenso die Vielfachen vom Einfachen aus zusammenfassen kann, wie die einfachen Bruchteile vom Ganzen aus. Übrigens sind die beiden ersten Bände des Stumpfschen Werkes durchaus nur Voruntersuchungen über das Verhalten des Tonsinns gegenüber einander folgenden Tönen (1. Bd.) und gegenüber gleichzeitig erklingenden Tönen (2. Bd.) ohne Beziehung auf die Theorie der Musik.
Das Helmholtzsche Werk wurde auch nach einer andern Seite hin anregend, nämlich zur Erstrebung einer vollkommenen Darstellung der Reinheit der Intervalle. Bekanntlich ist kein Dur- oder Mollakkord, wie ihn unsre Musikinstrumente hervorbringen, wirklich rein, so daß den akustischen Bestimmungen von 2 : 3 für die Quinte und 4 : 5 für die Terz völlig genügt wäre, sondern alle Werte, mit Ausnahme der Oktave, sind um ein Geringes getrübt, die einfachern weniger, die kompliziertern mehr, durch die sogen. Temperatur, welche an Stelle der geradezu unbegrenzten Zahl möglicher Tonhöhenbestimmungen nur zwölf innerhalb der Oktave setzt, eine Ersetzung, die sich durch die Praxis als dem Ohr genügend herausgestellt hat, wenn auch schon mehrfach (bereits im 16. Jahrh.) Versuche gemacht wurden, wenigstens die durch die Obertasten des Klaviers repräsentierten Mitteltöne doppelt zu geben (cis und des unterschieden etc.). Schon die Pythagoreer kannten den Unterschied der zwölften Quinte (f.c.g … eis) von der Oktave (das pythagoreische Komma); Zarlino brachte dazu die Erkenntnis, daß die Terz nicht identisch ist mit der vierten Quinte, sondern um das sogen. syntonische oder didymische Komma verschieden (von Didymos und Ptolemäos bereits berechnet, doch ohne Erkenntnis der Terz als Grundintervall). Seither spielten diese Unterscheidungen in den zahlreichen Temperaturberechnungen, besonders des vorigen Jahrhunderts, eine große Rolle. Hauptmann unterschied Quinttöne und Terztöne in seiner Buchstabenbezeichnung der Töne (C G D A E, C e), und Helmholtz und v. Öttingen gingen der Sache ganz auf den Grund und boten Mittel schärfster Unterscheidung aller noch so minimalen Tonhöhendifferenzen in der Buchstabentonschrift. Ein in England weitverzweigter Gesangverein, die Tonic-Solfa Association, pflegt mit Hilfe einer der Rousseau-Natorpschen Zifferschrift oder der alten Solmisation nicht unähnlichen, von J. Curwen erfundenen, äußerst einfachen Notenschrift den Gesang nach den Prinzipien der reinen Stimmung, und man hat auch verschiedene größere und kleinere Harmoniums oder Orgeln konstruiert, welche statt der 12 Werte der gleichschwebenden Temperatur deren 36–53 setzen und fast exakte Verhältnisse ergeben. (Vgl. G. Engel, Das mathematische Harmonium, 1881, und H. Riemann, Katechismus der Musikwissenschaft, 1891.) Auch hat der Engländer A. Ellis („Proceedings Royal Society“, 1864) Zeichen vorgeschlagen, welche die übliche Notenschrift in stand setzen, die Komma-Unterschiede der Tonhöhe auszudrücken. Diese vervollständigte Shohé Tanaka („Studien im Gebiet der reinen Stimmung“, in der „Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft“, 1890, auch separat; der junge japanische Gelehrte Tanaka erklärt darin sein nur 20stufiges, aber mit Transponiervorrichtungen versehenes, „Enharmonion“ genanntes Harmonium, das der reinen Stimmung gerecht wird, auch enthält die Schrift wertvolle historische Studien). Selbst M. W. Drobisch, früher ein prinzipieller Verfechter der zwölf Werte für die Oktave, sogar als grundlegender, hat 1877 in einem Aufsatz in den Berichten der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften sich zur Anerkennung der Richtigkeit des Prinzips der reinen Stimmung verstanden. Anderseits verficht G. Engel („Die Bedeutung der Zahlenverhältnisse für die Tonempfindung“, 1892) das schon von Hauptmann behauptete Bedürfnis des Ohres, gewisse Intonationen im Widerspruch gegen die Aufstellungen der Akustik höher oder tiefer zu nehmen (Leittöne, Septimen), ohne darum die prinzipielle Bedeutung jener anzuzweifeln. Der Versuch von Karl Eitz („Das mathematisch reine Tonsystem“, 1891), die Ergebnisse der Bestrebungen für Einführung reiner Stimmung der praktischen Musiktheorie einzuverleiben (eine stark an das Volapük gemahnende neue Terminologie), wird schwerlich über die Gelehrtenstuben hinaus ernsthaft genommen werden. Wenn nun wenig Aussicht ist, daß die reine Stimmung jemals die temperierte ganz verdrängen wird, so ist der Grund dafür nicht etwa in dem Antagonismus einer Partei (des Vereins „Chroma“, dessen litterarisch thätigste Mitglieder J. H. Vincent, Melchior Sachs [„Untersuchungen über das Wesen der Tonarten“, 1884], O. Quantz und A. Hahn sind oder waren, zu denen in neuester Zeit der Erfinder der chromatischen Terrassenklaviatur Paul v. Janko kommt), welche im Gegenteil auch die letzten Unterscheidungen der enharmonisch (annähernd) identischen Töne (z. B. cis – des) aus der Notenschrift und Theorie entfernen möchten, sondern vielmehr in der glücklichen Eigenschaft unsers Ohres zu suchen, sehr kleine Tonhöhenunterschiede zu ignorieren und temperierte Intervalle und Akkorde für reine hinzunehmen. Die Verfechter der reinen Stimmung vergessen, daß zwar beim gesonderten Vergleich von Tonhöhendifferenzen das Ohr eine große Schärfe offenbaren kann, daß aber beim Musikhören, das ein Vorstellen ist, ganz andre Gesetze in erster Linie zur Geltung kommen, welche am einfachsten als Ökonomie des Vorstellens bezeichnet werden; das geht so weit, daß der reinen Stimmung zum Trotz das Ohr andre Töne hört als die wirklich hervorgebrachten, wenn solche nicht in den musikalischen Zusammenhang passen. Es stände aber auch schlimm um die Zukunft der Musik, wenn das Ohr nicht geringe Verstimmungen ignorieren könnte; denn bekanntlich ist bei allen Instrumenten mit freier Intonation die thatsächliche, genaue Reinheit ein schöner Traum, dessen Verwirklichung durch unüberwindliche technische Hindernisse unmöglich gemacht wird.
Über die Kontrapunktlehre können wir uns kurz fassen. Sie ist die älteste Form der Lehre des mehrstimmigen Satzes und bildete sich im 14.–16. Jahrh. [651] zu höchster Vollkommenheit aus. Die Unterscheidung vollkommener und unvollkommener Konsonanzen, auf welche die Hausregeln der Kontrapunktlehre basiert sind, entstammt dieser Zeit, was sich deutlich genug darin kennzeichnet, daß man kein Lehrbuch des Kontrapunktes in die Hand nehmen kann, ohne auf Schritt und Tritt lateinischer, mindestens italienischer Terminologie zu begegnen. Den Cantus firmus könnte man sich gefallen lassen, aber wozu der Motus rectus, obliquus und contrarius, der Contrapunctus aequalis, diminutus, ligatus und floridus und bei der Imitationslehre die proposta und risposta und der ganze übrige veraltete Jargon gut sind, ist doch schlechterdings nicht einzusehen. Heinrich Bellermanns „Kontrapunkt“ (1861, 2. Aufl. 1877) sieht viel eher wie ein Stück mittelalterlicher Musikgeschichte aus als wie ein Handbuch für einen Zweig des heutigen Kompositionsunterrichts. S. W. Dehns Manier war es auch, Theorie vorzutragen im Gewand der Musikgeschichte und mit großem Citatenapparat; es ist daher dankbar anzuerkennen, daß der Herausgeber der Dehnschen „Lehre vom Kontrapunkt, dem Kanon und der Fuge“ (1859, 2. Aufl. 1883), Bernhard Scholz, mit solchem gelehrt aussehenden Putze sparsam gewesen ist und ohne Zweifel das Dehnsche Manuskript wesentlich vereinfacht hat. Auch am innern Ausbau der Lehre hat Scholz mancherlei modernisiert, besonders in der zweiten Auflage, ohne jedoch das herkömmliche Schema anzutasten. Während Bellermann sklavisch die alte Fassung der Lehre festhält, selbst die mittelalterlichen Kirchentöne für unentbehrlich zur Gewinnung wirklicher kontrapunktischen Routine ausgibt, unterscheidet Scholz einen strengen (für den Vokalstil vorbildenden) und freien Kontrapunkt und sieht von den Kirchentönen überhaupt ganz ab. Auch fühlt man überall aus Scholz’ Buch das abgeklärte moderne Harmoniesystem heraus, während Bellermanns Werk kaum etwas andres ist als eine Neuherausgabe des „Gradus ad Parnassum“ von J. J. Fux (1723; deutsch von Mitzler, 1742), der selbst schon in der Zeit seines Erscheinens ein veraltetes Buch war, was nicht verhinderte, daß er allgemeine Verbreitung fand und verschiedentlich in fremde Sprachen übersetzt wurde. Der Kontrapunkt war eben (und ist noch heute halb und halb) die Hochschule musikalischer Gelehrsamkeit, und man that sich ordentlich etwas darauf zu gute, daß er nicht leicht zu verstehen sei. Es bedarf wohl keiner Worte, daß nur die Lehre ihn schwerverständlich machte, daß seine Erlernung aber nicht von der Lehre, sondern von guter Überwachung der praktischen Übungen abhing und abhängt. Die Lehre des doppelten Kontrapunktes war noch viel überladener als die des einfachen, und gar in der Lehre vom Kanon traten dem Schüler wahre Schreckgespenster mit fremdsprachigen Namen und rätselhaften Inschriften entgegen, die sich bei näherer Bekanntschaft als harmlose Kunststückchen herausstellten, wie ihrer mit fortschreitender Routine jeder neue Adept selbst neue hinzu erfinden konnte. Erst in der Fugenlehre verschwand der Spuk, um verständigen Anweisungen über eine kunstgerechte Gestaltung Platz zu machen. Es sei uns fern, an der Bedeutung der kontrapunktischen Übungen zu zweifeln. Das Erfinden natürlich fließender Gegenstimmen überhaupt und in zweiter Linie auch solcher, welche ohne Fehler ihre Stellung zur Hauptstimme (in Bezug auf oben und unten) wechseln können, ist dem Komponisten gewiß nötig, wenn auch nicht so unentbehrlich wie das freie Erfinden selbständiger Melodien; daß man dieses über jenes und die Harmonielehre vergißt, ist und bleibt unverantwortlich. Frei von gelehrtem Wesen, aber befangen im alten Schema (doch ohne die Kirchentöne) ist E. F. Richters „Lehrbuch des einfachen und doppelten Kontrapunkts“ (1872, 3. Aufl. 1879) sowie das ganz in dessen Fußstapfen tretende „Lehrbuch des einfachen, doppelten, drei- und vierfachen Kontrapunkts“ von S. Jadassohn (1884). Auch L. Bußlers Kontrapunktlehre („Der strenge Satz“, 1877) klammert sich zu sehr an die Tradition an und vermag von den neuen Fortschritten in der Erkenntnis der Gesetze der Tonverbindungen nicht genug Nutzen zu ziehen; er steht mit der überlieferten Intervallentheorie und der Zugrundelegung der Kirchentonarten für die Studien im „strengen“ Satz neben Bellermann, was um so auffälliger ist, als seine „Praktische Harmonielehre“ (1875) das Verbot verdeckter Oktaven und Quinten für ein Hirngespinst der Theoretiker erklärt. Otto Tiersch („Kurzes praktisches Lehrbuch für Kontrapunkt und Nachahmung“, 1879) sucht die Ansicht Dehns und Richters, daß der Kontrapunkt aus der Harmonielehre herauszuwachsen habe, in umfassenderer Weise zu bethätigen als die genannten ältern Lehrer und überträgt die Grundsätze seines Systems der Harmonielehre auf den Kontrapunkt. Er stellt dabei eine sehr große Zahl von Regeln auf, deren Berechtigung jedoch nur zum Teil anerkannt werden kann. Einen ähnlichen Versuch machte H. Riemann mit seiner „Neuen Schule der Melodik“ (1883), die zwar als Entwurf einer Lehre des Kontrapunkts bezeichnet ist, indes für den freien eigentlichen Kontrapunkt (ohne gegebene Harmonie) nur wenige allgemeine Anweisungen enthält und den doppelten Kontrapunkt, Kanon und Fuge gar nicht in ihren Bereich zieht, sondern doch eigentlich nur ein Lehrbuch der Figuration und harmonischen Analyse ist, d. h. zum Verständnis auch der kompliziertesten Auflösungen der Harmonie in Melodiebewegung befähigt unter besonderer Berücksichtigung der Schreibweise J. S. Bachs. Riemann brachte daher hiernach noch ein besonderes „Lehrbuch des einfachen, doppelten und imitierenden Kontrapunkts“ (1888). Die Fugenlehre hat seit F. Moritz Hauptmanns „Erläuterungen zu J. S. Bachs Kunst der Fuge“ und desselben Aufsatz „Über die Beantwortung des Fugenthemas“ nur wenig Bereicherung erfahren. Zu erwähnen sind nur Debrois von Bruycks „Technische und ästhetische Analysen des wohltemperierten Klaviers“ (1867), die 1889 eine neue Auflage erlebten, Jadassohns „Lehre vom Kanon und der Fuge“ (1884), desselben „Erläuterungen zur ausgewählten Fuge aus dem wohltemperierten Klavier“ und Riemanns „Katechismus der Fugenkomposition“ (1890).
Es fehlte vor Marx keineswegs an Werken, welche den Anspruch machten, vollständige Lehrbücher der Tonsetzkunst zu sein; doch beschränkten sich dieselben fast ausnahmslos auf die Abhandlung der Harmonielehre und allenfalls des Kontrapunktes. Reicha hatte zwar der Melodie ein besonderes Buch gewidmet („Traité de mélodie“, 1814), war aber damit hinter ältern Behandlungen derselben Materie zurückgeblieben (Matthesons „Kern melodischer Wissenschaft“, 1737; Riepels „Anfangsgründe zur musikalischen Setzkunst“, 1752; Marpurgs „Anleitung zur Singkomposition“, 1758); ein Werk aber, dessen zweiter und dritter Band noch heute einer Neuherausgabe würdig wären, weil thatsächlich bis heute nichts gleich Eingehendes und gleich feinsinnig musikalisch Durchgeführtes über die Grundlage der musikalischen [652] Formgebung, über die Natur der musikalischen Satzbildung (Phrasierung) geschrieben worden ist: Heinrich Christoph Kochs (des durch sein „Musikalisches Lexikon“ rühmlichst bekannten schwarzburgischen Kammermusikus) „Versuch einer Anleitung zur Komposition“ (1782–93, 3 Bde.) war fast gar nicht bemerkt worden und ist noch heute trotz Fétis’ rühmenden Urteils fast unbekannt. Hätte Marx dieses Werk (das ihm wohlbekannt war) anstatt der Werke seiner Zeitgenossen (Dehn, Fr. Schneider, A. André etc.) näher ins Auge gefaßt, so würde er ganz andre Saiten haben aufziehen müssen. Denn H. Chr. Koch war nicht minder ein Feind des Zopfes als Marx selbst, was sich sattsam in der Art ausspricht, wie er den Kontrapunkt behandelt (wofür er übrigens von Fétis’ Seite einigen Tadel erntet). Koch sieht im (einfachen) Kontrapunkt nichts andres als den mehrstimmigen Satz (wer will ihm heute einen Vorwurf daraus machen, daß er nichts andres darin zu sehen vermochte?). Den doppelten Kontrapunkt und die strengen Formen der Imitation schließt er aus und verweist auf Marpurgs „Abhandlung von der Fuge“ (1753–54), bekanntlich ein Werk, auf das man noch heute verweisen kann. Mit andern Worten, Koch stellte sich ganz auf den Boden, aus dem die Werke seines großen Zeitgenossen Haydn erwuchsen (den er auch öfter citiert); seine Kompositionslehre ist der erste Versuch einer Satzlehre im Stil unsrer Kunstepoche, während Kirnberger und selbst Marpurg und ihre Nachbeter bis zu Marx’ Zeitgenossen den Stilo osservato dozierten. Auch Kochs Behandlung der Harmonielehre kann sich noch heute sehen lassen. Wer außer ihm wäre in jener Zeit so scharfsichtig gewesen, die Mollakkorde in der Durtonart als zufällige Bildungen zu erkennen? Die eigentliche Kompositionslehre vollends faßt aber Koch beim Schopfe. Leider müssen wir uns hier eine eingehende Analyse des Werkes versagen, können aber nicht unterlassen, nachdrücklichst zu betonen, daß wir heute, wenn wir einen Schritt über Marx hinaus thun wollen, bei Koch wieder anknüpfen müssen. Eine eigentliche Fortentwickelung der Kompositionslehre hat nämlich seit Marx kaum stattgefunden; die Kompositionslehren von Lobe (1850–67, 4 Bde.; mehrfach aufgelegt) und Reißmann (1866–71, 3 Bde.) begnügen sich in der Hauptsache mit der Adoption der Marxschen Anordnung des Stoffes und sind oder wollen sein vollständige Lehren des Satzes von den allerersten Anfängen bis hinauf zur Komposition einer Oper, einschließlich der Lehre vom Umfang und der Behandlungsart der Instrumente (Instrumentation). Natürlich fällt der Löwenanteil auf die angewandte Komposition (Formenlehre), von der man bereits heute getrost behaupten kann, daß sie hinreichend, vielleicht mehr als hinreichend ausgebaut ist. Denn es kann sich weniger darum handeln, alle möglichen Formen zu entwickeln, als vielmehr die natürlichen Gesetze der Formgebung aufzuweisen. Dagegen kann es dem schärfer Blickenden nicht entgehen, daß trotz des Anlaufs, den Marx genommen, trotz der Klarheit und Vortrefflichkeit seines Programms weder von ihm noch von seinen Nachfolgern die schwierigste Aufgabe der Kompositionslehre, die Lehre von den Elementen musikalischer Themata, befriedigend gelöst ist. Daher hat man mehrfach sich dieser ganz speziell zugewandt. Ein seltsamer Versuch ist W. Dyckerhoffs „Kompositionsschule“ (1870–76, 3 Tle.), besonders der dritte Teil, die Lehre vom Aufbau der Tonstücke, bemerkenswert wegen der guten Absicht und sogar auch wegen des eingeschlagenen Weges und dennoch – gänzlich verfehlt! Dyckerhoff meint die „technischen Geheimnisse der musikalischen Kompositionslehre“ ergründet zu haben, indem er die Themata ihrer Harmonie, ihres Rhythmus und ihrer Auszierungen beraubt und den magern melodischen Rest als die „Tonbilder“ hinstellt, die der Meister zuerst erfunden, und aus denen er durch Zuthaten allmählich die Themata gestaltet habe. Dieses melodische Destillat ist ein würdiges Gegenstück zu dem harmonischen Skelett der Generalbassisten! An Dyckerhoff schließt sich an (auch in der Terminologie) Friedrich Zimmer mit seinen „Studien über das deutsche Volkslied“ (1881), einer Art Statistik der einfachsten Tonfolgen in einer größern Anzahl von Volksliedern; diese Schrift ist indes immerhin deshalb mehr wert, weil sie nicht haltlose Spekulation, sondern ein wenn auch noch so trockner Beitrag zur Ergründung der Natur des Volksliedes ist. Viel höher steht Ludwig Bußlers „Elementarmelodik“ (1879), weil sie von Anfang an Melodisches und Rhythmisches ungetrennt im Auge behält.
Die Klage, daß es noch keine Theorie der Melodie gäbe, welche mit Emphase bereits Reicha anstimmte, eine solche zu geben verheißend, finden wir mit gleichem Versprechen bei Marx u. a. und nun auch bei Dyckerhoff wieder. Aber sie konnten alle nicht halten, was sie versprachen, und zwar einfach darum, weil Melodien ohne Rhythmus und ohne (immanente) Harmonik ein Unding, ein leerer Schatten sind. Eine Untersuchung des Wesens der Melodie ohne Bezug auf die beiden andern Faktoren aller Musik könnte zwar höchst interessante Ergebnisse haben; Übungen in der Konstruktion rhythmisch amorpher Melodien sind aber ebensowenig geeignet, das musikalische Talent naturgemäß zu beschäftigen und zu entwickeln, wie die tote Verbindung der Harmonien der herkömmlichen Generalbaßarbeiten. Weder Marx noch Lobe, noch Reißmann, noch einer der andern, welche das Problem bestimmt gelöst zu haben meinten, sind auf den wirklichen Keim und Urstoff aller musikalischen Bildungen zurückgegangen, nämlich das Motiv, das Taktmotiv. Marx fühlt zwar, daß das der richtige Weg ist, und beginnt den Abschnitt, der von der Erfindung der Melodien handelt (Bd. 1, S. 31), mit Hinweis auf die Motive; leider sind dieselben aber nicht richtig bestimmt. Marx war befangen in der durch die Taktstriche und falschen Bogen irre geleiteten volltaktigen Auffassung der rhythmischen Bildungen, und auch seine Nachfolger haben sich nicht von diesem Fehler losmachen können. Der Rhythmus spielt überhaupt in Marx’ Werk eine sehr untergeordnete Rolle, und bezüglich seiner Elemente wird auf desselben „Allgemeine Musiklehre“ (1839) verwiesen, die nur leider gerade in diesem Punkte sehr schwach ist. Von Koch hätte man lernen können, daß die Taktmotive keineswegs gewöhnlich mit dem Taktstrich oder die Unterteilungsmotive mit dem Ende des Taktteils enden; Koch begriff, daß auftaktige Motive sich von volltaktigen unterscheiden wie der Jambus vom Trochäus. Während man aber in der poetischen Metrik diese beiden Arten von Versfüßen ebenso scharf auseinander hält wie jeden von ihnen vom Daktylus, verschmelzt die übliche musikalische Metrik (Rhythmik) diejenigen Taktarten vollständig, welche gleiche Summen haben (3/4, 4/4 etc.). Ein wenig beachtetes neueres Werk, die „Populären Vorträge zur Bildung und Begründung eines musikalischen Urteils“ von Herm. Küster (1871–77, 4 Bde.), das unter diesem Titel eine Kompositionslehre birgt, die sehr vieles Vortreffliches enthält, meidet auch die sonst überall [653] zu findende falsche Begründung der Taktlehre. Die Lektüre dieser Vorträge ist deshalb nicht nur musikliebenden Dilettanten, sondern auch den Fachmusikern sehr zu empfehlen. Es thut aber noch mehr not. Was bei Koch und auch bei Küster richtiger Anfang und übrigens im Verfolg mehr oder weniger klar bewußte Richtschnur ist, muß einmal System werden; wie man es mit der Harmonik allein und mit der Melodie allein versucht hat, muß man es auch einmal mit der Rhythmik allein versuchen, d. h. die Prinzipien der Rhythmik müssen einmal, für sich betrachtet, zum Gegenstand eines besondern Zweiges der musikalischen Theorie und des Musikunterrichts gemacht werden; nur wenn diese Bedingung erfüllt wird, wenn einmal ebenso genau untersucht und erkannt worden ist, wie sich der Rhythmus unter dem Einfluß der Harmonik und Melodik gestaltet, wie man durch Jahrhunderte den Einfluß des Rhythmus auf die Harmonie beobachtet hat (man denke nur an die Lehre von der Stellung der Dissonanzen im guten und schlechten Taktteil), ist Aussicht vorhanden, daß eine Kompositionslehre geschrieben werden kann, wie sie Marx schreiben wollte.
In dieser Phase der Entwickelung der Musiktheorie stehen wir jetzt. Der Mann, dem das Verdienst gebührt, zuerst das Wort ausgesprochen zu haben, welches die über unsern Augen liegende Binde löst, ist Rudolf Westphal. Jahrzehntelange Beschäftigung mit der Rhythmik der Griechen wie auch der modernen poetischen Metrik, von der eine stattliche Reihe angesehener Publikationen zeugt („Metrik der griechischen Dramatiker und Lyriker“, 1854–65, 3 Bde.; 2. Aufl. 1868, mit Roßbach; „Die Fragmente und Lehrsätze der griechischen Rhythmiker“, 1861; „System der antiken Rhythmik“, 1865; „Theorie der neuhochdeutschen Metrik“, 1870; 2. Aufl. 1877), befähigte den Nichtmusiker, den Musikern zu sagen, was ihnen not thut. Das Buch „Allgemeine Theorie der musikalischen Rhythmik seit J. S. Bach“ (1880) sprach es aus, daß unser Verständnis für Rhythmik ganz unglaublich verkümmert ist, und daß wir in Theorie und Praxis nur noch von Taktstrich zu Taktstrich empfinden, was der größte Fehler sei, der auf diesem Gebiet überhaupt möglich wäre. Es ist hier nicht der Ort, diese Verirrung historisch zu erklären; es sei nur betont, daß sie in den letzten 100 Jahren sich immer verhängnisvoller entwickelt hat. Daß unsre großen Komponisten sie nicht teilten, sei freudig konstatiert; aber sie danken das nicht ihren innigen Beziehungen zur Theorie (diese Beziehungen waren gerade bei den größten Meistern dieser Epoche sehr lose), sondern der Unverdorbenheit und Unverderbbarkeit ihrer Naturanlage. Als Vorläufer von Westphals Schrift und ihren Enthüllungen muß Mathis Lussys „Traité de l’expression musicale“ (1873) genannt werden, sofern Lussy als feinfühliger Praktiker gegen die verkehrten Auffassungen und verkehrten Bogenbezeichnungen vieler Einzelstellen in unsern Klassikerausgaben protestiert; die Anläufe zu einem System der Rhythmik, die Lussy macht, sind dagegen nur teilweise geglückt, zum Teil wirklich verfehlt. Daß Westphal seine Aufgabe nicht vollständig gelöst hat, braucht nicht erst behauptet zu werden; es ist selbstverständlich, und zwar darum, weil Westphal absoluter Rhythmiker ist, und die gar sehr großen Einflüsse, welche Harmonik und Melodik auf die Gestaltung der Rhythmen haben, nicht in Betracht gezogen hat. Andeutungen hierüber machte H. Riemann in verschiedenen Aufsätzen über „Phrasierung“ (in den „Grenzboten“, dem „Klavierlehrer“ und „Musikalischen Wochenblatt“) sowie in seiner „Vergleichenden Klavierschule“ (1883, „System“ und „Methode“) und in dem grundlegenden Werke „Musikalische Dynamik und Agogik, Lehrbuch der musikalischen Phrasierung auf Grund einer Revision der Lehre von der musikalischen Metrik und Rhythmik“ (1884; vgl. auch H. Riemann und Karl Fuchs, „Praktische Anleitung zum Phrasieren“, 1886) und entwarf einen vollständigen Neuaufbau der Formenlehre in seinem „Katechismus der Kompositionslehre“ (1889). Ein bedeutsames Ergebnis der Riemannschen Theorie der Phrasierung ist eine Verfeinerung der Notenschrift in seinen einen großen Teil der Klavierlitteratur umfassenden sogen. Phrasierungsausgaben, welche gerade im kleinen den Aufbau der Tonstücke anschaulich darlegen. Bedeutsame Erscheinungen auf dem neuen Gebiete der Litteratur der Phrasierungstheorie sind die Schriften von Karl Fuchs: „Die Zukunft des musikalischen Vortrags“ (1884) und „Die Freiheit des musikalischen Vortrags“ (1885). Schätzbare Beiträge zu einer Theorie des musikalischen Ausdrucks gab auch O. Klauwell („Der Vortrag in der Musik“, 1883). Einen nur wenig glücklichen Versuch, um Riemann herum oder über ihn hinauszukommen, machte O. Tiersch mit seiner „Rhythmik, Dynamik und Phrasierungslehre“ (1886). Bemerkenswerte Ansätze zu einem Fortschritt in der Theorie des Vortrags enthält A. J. Christianis nachgelassenes Werk „Das Verständnis im Klavierspiel“ (1886). Auch der Amerikaner W. S. B. Mathews („How to understand music“, 1888, 2 Bde.) bemüht sich eifrig um die Klarlegung der Elemente der Formenlehre. Die Schwierigkeit, einen Weg zu finden, wie man die musikalische Rhythmik, deren Theorie jetzt ihren Ausbau erfährt, rationell lehren könne, d. h. nicht vom Katheder, sondern mit fortlaufender praktischer Übung, ist gehoben, seit das Musikdiktat sich als vorzüglichstes Mittel, die Auffassung und Vorstellung von melodisch-rhythmischen Tonbildern zu kräftigen und systematisch fortzubilden, herausgestellt hat (vgl. Riemann, „Katechismus des Musikdiktats“, 1889). Für die Formenlehre und Instrumentationslehre sind noch zu registrieren: Jadassohn, „Die Formen in dem Wesen der Tonkunst“ (1889) und „Lehrbuch der Instrumentation“ (1889), durch welche Jadassohns „Kompositionslehre“ mit dem vierten und fünften Bande ihren Abschluß erhalten hat; ferner Eb. Prouts „Elementarlehrbuch der Instrumentation“ (1880) und Riemanns „Katechismus der Musikinstrumente“ (1880). Eine hochbedeutende Erscheinung aber ist die neue große „Instrumentationslehre“ („Traité des instruments“) von Fr. Aug. Gevaert (1885; deutsch von H. Riemann, 1887), ein Werk, das dem Berliozschen vollständig gleichwertig, in vieler Beziehung aber ihm überlegen ist. Die Fortsetzung desselben: „Anleitung zum Instrumentieren“ („Cours méthodique d’orchestration“) ist erst zur Hälfte erschienen (1890). Der bekannte belgische Musikgelehrte zeigt sich in beiden Büchern als ein Lehrmeister ersten Ranges.