MKL1888:Märchen
[223] Märchen, diejenige Unterart der epischen Poesie, welche nicht nur (wie das Epos, im Gegensatz zur Erzählung und zum Roman) das Wunderbare wirklich zuläßt, sondern (im Gegensatz zum Epos, welches dasselbe als wunderbar darstellt) auch den Schein dieser Wunderbarkeit vermeidet (das Wunderbare als nicht wunderbar, das Übernatürliche als natürlich darstellt). Da nun das Wunderbare darin besteht, daß in demselben der gewohnte Naturzusammenhang der Dinge aufgehoben erscheint, so bewegt sich das M. (seinem Begriff gemäß) in einer phantastischen Welt, die es (wie Kinder und gläubige Gemüter die ihrige) als eine natürliche ansieht. Dasselbe kann daher (nach dem treffenden Ausdruck der Brüder Grimm) „überall zu Hause sein“ und ist weder (wie die Geschichte) an die Bedingungen der wirklichen noch (wie die übrige Epik) an die einer möglichen Welt geknüpft, sondern in zeitlicher, räumlicher und kausaler Beziehung ganz ungebunden. Die Märchendichtung ist in poetischer wie in epischer Hinsicht der reinste Ausdruck der erzählenden Dichtung, indem sie nicht nur dasjenige, was sie als geschehen berichtet, völlig frei erfindet (schafft), sondern auch in der Verbindung desselben nur an die (zeitliche) Auf-, keineswegs aber (wie das Drama und die dem Dramatischen sich nähernden epischen Formen der Novelle und des Romans) an die (kausale) Aufeinanderfolge des Erzählten gebunden ist. Dieselbe setzt, da ihre für natürlich ausgegebene Welt allen Bedingungen der Natürlichkeit widerspricht, von seiten des Erzählers und Hörers einen Gemütszustand voraus, in welchem die Gesetze der letztern entweder noch wirklich unbekannt (wie bei Kindern und auf einer tiefen Bildungsstufe stehenden Völkern und Volksschichten) oder künstlich beiseite gesetzt sind, um sich, frei vom Zwang des Wissens, dem ungehemmten Spiel der Phantasie hinzugeben. Jenem verdankt das M. als Volksdichtung (Kinder- und Volksmärchen, orientalisches M.), diesem als (selten gelingende) Kunstdichtung (Tiecks „Elfen“; Chamissos „Peter Schlemihl“; Brentanos „Gockel, Hinkel und Gakeleia“ etc.) seine Entstehung. Sprachlich stammt das Wort M. von dem altdeutschen maere, das zuerst die gewöhnlichste Benennung für erzählende Poesien überhaupt war, während der Begriff unsers Märchens im Mittelalter gewöhnlich mit dem Ausdruck spel bezeichnet wurde. Als die Heimat der M. kann man den Orient ansehen; Volkscharakter und Lebensweise der Völker im Osten bringen es mit sich, daß das M. bei ihnen noch heute besonders gepflegt wird. Irrtümlich hat man lange gemeint, [224] ins Abendland sei das M. erst durch die Kreuzzüge gelangt; vielmehr treffen wir Spuren von ihm im Occident in weit früherer Zeit. Das klassische Altertum schon besaß Märchenhaftes oder Anklänge an das M. in Hülle und Fülle (von der Homerischen Kirke an bis zum Ring des Gyges bei Platon), wenn auch noch nicht das M. selbst als Kunstgattung. Dagegen taucht in der Zeit des Neuplatonismus, welcher als ein Übergang des antiken Bewußtseins zur Romantik bezeichnet werden kann, eine Dichtung des Altertums auf, welche technisch ein M. genannt werden kann, die reizvolle Episode von „Amor und Psyche“ in Apulejus’ „Goldenem Esel“. Gleicherweise deuten Stellen in der altdeutschen Heldensage auf das Vorhandensein von M. bei den Germanen in uralter Zeit. Gesammelt begegnen uns M. am frühsten in den „Tredeci piacevoli notti“ des Straparola (Vened. 1550), im „Pentamerone“ des Giambattista Basile (gestorben um 1637 in Neapel), in den „Gesta Romanorum“ (Mitte des 14. Jahrh.) etc. In Frankreich beginnen die eigentlichen Märchensammlungen erst zu Ende des 17. Jahrh.; Perrault eröffnete sie mit den als echte Volksmärchen zu betrachtenden „Contes de ma mère l’Oye“; 1704 folgte Gallands gute Übersetzung von „Tausendundeine Nacht“ (s. d.), jener berühmten, in der Mitte des 16. Jahrh. im Orient zusammengestellten Sammlung arabischer M. Besondern Märchenreichtum haben England, Schottland und Irland aufzuweisen, vorzüglich die dortigen Nachkommen der keltischen Urbewohner. Die M. der skandinavischen Reiche zeigen nahe Verwandtschaft mit den deutschen. Reiche Fülle von M. findet sich bei den Slawen. In Deutschland treten Sammlungen von M. seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts auf. Die „Volksmärchen“ von Musäus (1782) und Benedikte Naubert sind novellistisch und romantisch verarbeitete Volkssagen. Die erste wahrhaft bedeutende, in Darstellung und Fassung vollkommen echte Sammlung deutscher M. sind die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm (zuerst 1812–13, 2 Bde.; ein 3. Band, 1822, enthält litterarische Nachweise bezüglich der M.). Unter den sonstigen deutschen Sammlungen steht der Grimmschen am nächsten die von L. Bechstein (zuerst 1845); außerdem sind als die bessern zu nennen: die von E. M. Arndt (1818), Löhr (1818), J. W. Wolf (1845 u. 1851), Zingerle (1852–54), E. Meier (1852), H. Pröhle (1853) u. a. Mit M. des Auslandes machten uns durch Übertragungen bekannt: die Brüder Grimm (Irland, 1826), Graf Mailáth (Ungarn, 1825), Vogl (Slawonien, 1837), Schott (Walachei, 1845), Asbjörnson (Norwegen), Bade (Bretagne, 1847), Iken (Persien, 1847), Gaal (Ungarn, 1858), Schleicher (Litauen, 1857), Waldau (Böhmen, 1860), Hahn (Griechenland und Albanien, 1863), Schneller (Welschtirol, 1867), Kreutzwald (Esthland, 1869), Wenzig (Westslawen, 1869), Knortz (Indianermärchen, 1870 und 1879), Gonzenbach (Sizilien, 1870), Österley (Orient, 1873), Carmen Sylva (Rumänien, 1882), Leskien und Brugman (Litauen, 1882), Goldschmidt (Rußland, 1882), Veckenstedt (Litauen, 1883), Krauß (Südslawen, 1883–84), Brauns (Japan, 1884), Poestion (Island, 1884; Lappland, 1885) u. a. Unter den Kunstpoeten haben sich im M. mit dem meisten Glück versucht: Goethe, L. Tieck, Chamisso, E. T. A. Hoffmann, Fouqué, Kl. Brentano, der Däne Andersen, R. Leander (Volkmann) u. a. Vgl. Maaß, Das deutsche M. (Hamb. 1887).