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MKL1888:Hungerkur

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Hungerkur“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Hungerkur“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 8 (1887), Seite 807
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Hungerkur. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 8, Seite 807. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Hungerkur (Version vom 12.07.2021)

[807] Hungerkur. Die Entziehung der Nahrung wurde früher zu Heilzwecken nicht selten angewendet auf Grund mannigfacher theoretischer Vorstellungen, welche durch das fortschreitende Verständnis für die Physiologie der Ernährung allmählich in Vergessenheit geraten sind. So wurde eine H. empfohlen bei allgemeiner Fettleibigkeit, wo heute zweckmäßige Regulierung der Ernährung, Brunnen- und Badekuren oder auch die Bantingkur gebraucht wird; ja, man glaubte sogar Neubildungen, Krebse u. dgl. durch allgemeine Nahrungsentziehung, sozusagen durch Aushungern, zum Schwund bringen zu können. Jede H. ist ein gefährliches Heilmittel, da es die Körperkräfte schwächt, und selbst bei manchen fieberhaften Zuständen, bei denen das Hungern von ältern Ärzten für die erste Grundbedingung für die Heilung betrachtet wurde, kommt man davon mehr und mehr zurück. Die Methoden der H. sind hauptsächlich folgende: Bei der schmalen oder Fieberdiät erhält der Kranke entweder nur Getränke mit säuerlichen, süßen oder schleimigen Zusätzen, welch letztere ihm statt gelinder Nahrung dienen, oder, was besser ist, er genießt täglich zwei-, auch wohl dreimal zur Zeit des Fiebernachlasses einen dünnen Aufguß eines feinen und fettlosen Weizengebäcks in Gestalt von Suppe oder Thee mit Zwieback etc.; Fleischkost ist gänzlich ausgeschlossen. Von andern Speisen sind fast nur die gekochten süßern Obstarten und allenfalls, doch schon der festern Textur wegen nur mit Vorsicht, einige Wurzelgemüse: junge Möhren, Pastinaken u. ähnliche, erlaubt. Eine eigentliche H. (Curatio per inediam, Nestotherapia) ist es, wenn bei Tobsüchtigen bis zum Ende des Anfalls Speise und Trank versagt bleiben; hier tritt am reinsten der wirkliche Hunger (nicht bloße Eßlust) als mächtig heilender Instinkt auf. Bei den folgenden Methoden dagegen, welche gemeinhin den Namen Hungerkuren tragen, ist es mehr ein unterhaltenes Schmachten, welches neben dem direkt vegetationswidrigen Eingreifen der übrigen Mittel in Anwendung gebracht wird. Die sogen. große Hunger- oder Schmierkur bei Syphilis ist die künstliche Erregung eines Konsumtionszustandes von 6–8wöchentlicher Dauer, eingeleitet durch eine 14tägige Vorbereitungskur, welche durch Purganzen, auch wohl durch Aderlässe, durch allmähliche Verringerung der Speisen und Entziehung tierischer Nahrung, durch warme Bäder und Stubenwärme allmählich eine Beschränkung der Nutrition bewirkt. Darauf folgt die eigentliche Schmierkur, wobei einen Tag um den andern eine ziemliche Dosis (8 g) Quecksilbersalbe eingerieben wird, bis sich Speichelfluß einstellt. Nachdem dieser Abschnitt der Kur unter fortwährender Beschränkung der Diät auf ein Minimum von schleimiger Suppe, Semmel und mäßigem Getränk gerade vier Wochen gedauert hat, beginnt der dritte Abschnitt, welcher den Übergang von der Entziehungsdiät zur gewöhnlichen Lebensweise zu vermitteln hat. Diese große Kur ist nicht nur an sich höchst angreifend, sondern auch möglicher Zwischenfälle wegen geradezu gefährlich und kann langes und unheilbares Siechtum hinterlassen. Daher wird sie in neuerer Zeit wohl kaum noch angewendet; an ihre Stelle sind schwächere Eingriffe getreten, welche man wohl auch Hunger- oder Entziehungskuren nennt. Ihr Vorbild ist die hier als vierte Methode zu erwähnende Struvesche Entziehungskur (vgl. Struve, Über Diät, Entziehungs- und Hungerkur etc., Altona 1822). Dies ist eine länger fortgesetzte, immer ohne Quecksilber durchgeführte und gewisse Grade des Fastens (Diät, Entziehung, Hunger) je nach der Bedeutung des Leidens oder der Konstitution des Kranken beobachtende Methode. Die Vorbereitung besteht bloß in einem Bade; die Speisen werden dem Kranken allmählich entzogen, ein mageres, nicht zu stark nährendes Fleisch in kleinen Mengen wird ihm manchmal die ganze Kur hindurch, nebst einer gleichen Portion Weizenbrot, gestattet. Dabei gibt Struve nur pflanzliche scharfe Mittel: Pillen von Schierlingsextrakt mit Seife und Holztränke von Radix Chinae, Sassaparillae, Bardanae mit Senna etc. Ähnlicher Art, nur daß statt der scharfen Mittel Quecksilberpräparate innerlich oder als Einreibung gebraucht werden, ist die Extinktionskur der Syphilis. Vgl. Chossat, Recherches expérimentales sur l’inanition (Par. 1843).