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MKL1888:Graphische Statik

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Graphische Statik“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Graphische Statik“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 7 (1887), Seite 625626
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Graphische Statik. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 7, Seite 625–626. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Graphische_Statik (Version vom 01.05.2021)

[625] Graphische Statik (Graphostatik), eine Behandlungsweise der Statik (s. d.), bei welcher an die Stelle der Rechnung die graphische Darstellung tritt. Ein solches Verfahren ist besonders dann von Wert, wenn die Resultate der Untersuchung ohnehin schließlich in eine Zeichnung eingetragen werden, wie dies der Ingenieur, Architekt etc. zu thun pflegen. In einzelnen Fällen hat man allerdings schon längst graphische Methoden neben den analytischen verwendet, und insbesondere hat man nicht selten allgemeine analytische Resultate nachträglich an graphischen Darstellungen erläutert; die systematische Anwendung der Zeichnung anstatt der Rechnung rührt aber vom Professor C. Culmann in Zürich (gest. 1881) her. Die Ermittelung der in den einzelnen Konstruktionsteilen von Brücken, Dächern und ähnlichen Anordnungen eintretenden Beanspruchungen wird [626] durch die g. S. sehr vereinfacht, ebenso die Massenberechnungen des Eisenbahn- und Straßenbaues und zahlreiche Aufgaben der Festigkeitslehre. Die ganze g. S. stützt sich auf die Lehre von der Zusammensetzung und Zerlegung der Kräfte. Aus dem Parallelogramm der Kräfte folgt, daß man die Resultante oder Mittelkraft R einer beliebigen Anzahl auf einen Punkt wirkender Kräfte A, B, C, D, E (Fig. 1) erhält,

Fig. 1. Fig. 2.

wenn man sie in der in Fig. 2 angegebenen Weise zusammensetzt, daß die Kräfte, als Linien von der Richtung der Kraft und einer ihrer Größe proportionalen Länge dargestellt, mit ihren Endpunkten aneinander stoßen, doch so, daß auf dem entstehenden Linienzug kein Richtungswechsel der Kräfte stattfindet. Die Verbindung des Anfangspunktes 1 der ersten mit dem Endpunkt 6 der letzten Kraft ist die Resultante R mit der Richtung 1–6. Von der Richtigkeit dieses Verfahrens kann man sich sofort überzeugen, wenn man, von einem beliebigen Punkt ausgehend, die Kräfte in der Weise zusammensetzt, daß man z. B. zunächst aus A und B durch das Kräfteparallelogramm die Resultante 1–3 bildet, diese sodann wiederum mit C zu einer neuen Resultante 1–4 vereinigt u. s. f. Es entsteht hierbei der Linienzug 123456 von selbst, welcher Kräftepolygon genannt wird und auf den Anfangspunkt zurückkommen, also eine Gesammtresultante gleich Null ergeben muß, wenn sämtliche Kräfte sich im Gleichgewicht befinden sollen, was bei statischen Aufgaben immer der Fall ist. Schließt sich das Kräftepolygon nicht, so besteht kein Gleichgewicht, und die direkte Verbindungslinie vom Anfangspunkt zum Endpunkt des Polygons ist die Resultante nach Größe und Richtung. Hieraus folgt umgekehrt, daß sich jede Kraft in zwei oder mehrere Komponenten zerlegen läßt, welche, aneinander gesetzt, von dem Anfangspunkt zum Endpunkt der betreffenden Kraft führen, was in der verschiedensten Weise möglich ist.

Fig. 3.

Das bis jetzt angegebene graphische Verfahren der Zusammensetzung und Zerlegung von Kräften mit gemeinschaftlichem Angriffspunkt läßt sich nun auch ausdehnen auf Kräfte, welche an verschiedenen Punkten eines Körpers wirken. Betrachten wir zunächst nur Kräfte, die in einer Ebene wirken, so wird bei zwei Kräften (Fig. 3) immer angenommen werden können, daß dieselben in ihrem Schnittpunkt A angreifen, sofern eine Verlegung des Angriffspunktes in der Linie der Kraftrichtung die Wirkung der Kraft nicht verändert; durch diesen Schnittpunkt muß daher auch die Resultante beider gehen. Soll nun durch eine dritte Kraft Gleichgewicht hergestellt werden, so muß dieselbe der Resultante entgegengesetzt gerichtet und gleich sein sowie im Punkt A angreifen.

Fig. 4.

Wäre der Schnittpunkt A noch nicht bestimmt, so fänden sich aus dem Kräftepolygon (Fig. 4) zwar die Größe und Richtung, nicht aber der Angriffspunkt der Resultante. Hierzu führt indessen eine kleine Erweiterung der Konstruktion. Verbindet man mit einem beliebigen Punkt P (Fig. 4) die Eckpunkte 1, 2, 3, so kann man die Linien 1–P und P–2 als Komponenten der Kraft 1–2, die Linien 2–P und P–3 als Komponenten von 2–3, endlich 3–P und P–1 als Komponenten von 3–1 betrachten. Wählt man nun auf der Richtungslinie der Kraft 1–2 (Fig. 3) einen Punkt M, so kann man mit der Kraft 1–2 das Gleichgewicht herstellen, indem man die Komponenten 1–P und P–2 in entgegengesetzter Richtung anträgt. Verlängert man dann P–2 bis zum Schnitt N mit der Kraft 2–3, so kann man in diesem Punkt wieder durch die entgegengesetzten Komponenten 2–P und P–3 die Kraft 2–3 ins Gleichgewicht bringen. In dem Schnittpunkt O der Kraftrichtung P–3 mit der Kraft 1–3 sind nun wieder der letztern Komponenten 3–P und P–1 verkehrt anzutragen, wodurch Gleichgewicht mit 1–3 hergestellt wird. Sind aber die drei Kräfte 1–2, 2–3 und 3–1 im Gleichgewicht, so muß das jetzt geschaffene Gleichgewicht auch noch bestehen bleiben, wenn sie entfernt werden, so daß nur noch die Komponenten in den Punkten M, N, O übrigbleiben. In der That ist nur Gleichgewicht vorhanden auf den Linien MN und NO, nämlich zwischen je zwei gleichen und entgegengesetzt gerichteten Kräften. Dasselbe wird auf der Linie OM der Fall sein, wenn die beiden übrigen Komponenten in diese Linie mit entgegengesetzten Richtungen fallen, d. h. das Gleichgewicht ist jetzt vorhanden und somit auch zwischen den Kräften 1–2, 2–3 und 3–1 vorhanden gewesen, wenn das Polygon der Komponenten sich schließt. Geschieht dies nicht, so bleibt ein Kräftepaar übrig. Da sich die in dem Linienzug MNO wirksamen Kräfte durch Gelenkstangen verwirklichen lassen, welche in M, N und O durch Zapfen miteinander verbunden sind, so pflegt man den Zug MNO Gelenkpolygon zu nennen. Mittels desselben läßt sich die Zusammensetzung und Zerlegung von Kräften, die nicht auf einen Punkt wirken, sehr leicht vornehmen. Soll z. B. in Fig. 3 zu den Kräften 1–2 und 2–3 die Resultante nicht nur ihrer Größe und Richtung, sondern auch ihrer Lage nach bestimmt werden, so zieht man, nachdem die Fig. 4 vollständig gezeichnet ist, MNP2MOP1 und NOP3; der Schnittpunkt O der beiden zuletzt gezogenen Linien ist ein Punkt der Resultante, deren Richtungslinie parallel zu 1–3 durch O gezogen werden kann. Besonders bequem wird das Verfahren für parallele Kräfte und bei größerer Zahl derselben. Auf diesen wenigen Fundamentalsätzen baut sich das bedeutende Lehrgebäude der graphischen Statik auf. Vgl. Culmann, Die graphische Statik (2. Aufl., Zürich 1875; Hauptwerk); Weyrauch, Über die g. S. zur Orientierung (Leipz. 1874). Eine ähnliche Behandlung der Dynamik unternahm Pröll im „Versuch einer graphischen Dynamik“ (Leipz. 1874).