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MKL1888:Gewissen

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Gewissen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 7 (1887), Seite 304
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Gewissen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 7, Seite 304. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Gewissen (Version vom 08.08.2022)

[304] Gewissen, subjektiv die Fähigkeit, sittliche Urteile über sich selbst, sein eignes Wollen und folglich seinen eignen sittlichen Wert zu fällen; objektiv der Inbegriff derselben (der sittliche Geschmack). Das sittliche Urteil ist eine Art des ästhetischen, von dem es sich nur dadurch unterscheidet, daß sein Objekt menschliches Wollen, nicht, wie bei diesem, Maße, Formen, Farben, Töne oder poetische Gedanken sind. Demselben kommt ebenso wie diesem Evidenz und Allgemeingültigkeit unter der Annahme zu, daß es „interesselos“, d. h. nach Kant „mit Vermeidung aller Privatgefühle“, gefällt sei. Da nun im G. der Mensch Gegenstand seiner eignen Beurteilung, folglich die stärkste Veranlassung zu „Privatgefühlen“ gegeben ist, so folgt, daß, wenn er trotzdem einen tadelnden Ausspruch fällt, er durch sein G. eine unwiderstehliche Nötigung erfahren haben muß. Darin liegt der Grund, weshalb die Aussprüche des Gewissens als untrüglich angesehen werden. Zu bemerken ist aber, daß dieselben nichts andres als eine Wertbeurteilung des Wollens enthalten, folglich niemals dazu verwendet werden können, das Sein irgend eines übersinnlichen (oder sinnlichen) Objekts zu beweisen, wie nicht selten daraus versucht worden ist. Die Bildung des Gewissens geht auf dieselbe Weise wie jene des Geschmacks vor sich, indem man vor allem durch Vermeidung subjektiver Erregungen und Enthaltung von Privatgefühlen interesselose moralische Urteile zu gewinnen sucht. Vgl. Geschmack und Gefühl. Die Einteilung des Gewissens geht bald von dem Inhalt, bald von der Erregbarkeit und Stärke seiner Urteile aus; in ersterer Hinsicht wird das gute (lobende) vom bösen (tadelnden) G., in dieser das zarte, leicht erregbare vom schlafenden oder verhärteten, das lebhafte vom spröden unterschieden. Vgl. Gaß, Die Lehre vom G. (Berl. 1868); Kähler, Das G., ethische Untersuchungen (Halle 1877, Bd. 1); Rée, Die Entstehung des Gewissens (Berl. 1885).