MKL1888:Galīzyn
[847] Galīzyn (richtiger Golizyn; auch Gallitzin, Galitzin), fürstliche Familie Rußlands, die ihren Ursprung von Gedimin, Großfürsten von Litauen, dem Stammvater der Jagellonen, ableitet. Einer seiner Nachkommen, Iwan, auch Bulgak genannt, soll von den starken Lederhandschuhen (golitza), die er über die Wollhandschuhe trug, den Beinamen Golizyn (spr. ga-) erhalten und auf seine Nachkommen vererbt haben. Die namhaftesten derselben sind:
1) Michail Iwanowitsch Bulgakow, ältester Sohn Iwans, Bojar und Woiwod, befehligte die Russen gegen die krimschen Tataren und gegen die Litauer, ward 1514 in der Schlacht bei Orscha von dem polnischen Fürsten Konstantin von Ostrog gefangen genommen und erst nach 38jähriger Haft freigegeben, worauf er dem Zaren als Günstling zur Seite stand, aber schon 1552 in das Dreieinigkeitskloster bei Moskau ging, wo er bald darauf starb.
2) Wasili Wasiljewitsch, Urenkel des vorigen, gehörte nach dem Tode des falschen Demetrius 1613 zu den vier russischen Kronprätendenten. Nach Polen gesandt, um dem polnischen Prinzen Wladislaw seine Erhebung zum Zaren zu verkündigen, ward er unterwegs verhaftet, von den Polen des Verrats bei der Belagerung von Smolensk angeklagt und starb 1619 im Kerker.
3) Boris Alexejewitsch, geb. 1641, Vetter des [848] folgenden, Peters d. Gr. Erzieher, dann Regentschaftsrat und Gouverneur von Kasan und Astrachan, rettete seinem Zögling in der von dessen Schwester Sophia erregten Verschwörung das Leben, stand deshalb bei demselben in großer Gunst und starb 1713.
4) Wasili Wasiljewitsch, der große G. genannt, Großneffe von G. 2), geb. 1643, befehligte gegen die Kosaken am Dnjepr, ward nach Unterwerfung der letztern Hetman derselben und 1680 unter Zar Fedor Minister. Er hob das Mjestnitschestwo-Institut (s. d.) auf und organisierte die Armee. Unter der Regentschaft seiner Geliebten, der Zarewna Sophia, Schwester Peters d. Gr., regierte er fast unumschränkt, unterdrückte die 1682 von den Strelitzen und Raskolniken gegen die Regentin versuchten Aufstände und ward Generalissimus und Großsiegelbewahrer. Auch Künsten und Wissenschaften suchte er Eingang in Rußland zu verschaffen und konnte durch seine Neuerungen als Vorgänger Peters d. Gr. gelten. Weil er im Kriege gegen die Tataren der Krim keine Erfolge hatte, wurde er 1689 mit der Zarewna gestürzt und nach dem äußersten Norden Rußlands verbannt, wo er 1714 starb.
5) Dmitri Michailowitsch, ausgezeichneter Staatsmann, war Gesandter in Konstantinopel, dann Direktor der Finanzen des Reichs und zuletzt Haupt der Partei der G. und Dolgorukij, die nach dem Tod Peters II. die Erhebung Anna Iwanownas zur Kaiserin bewirkten. Da er aber dieselbe eine die kaiserliche Macht beschränkende Akte hatte unterschreiben lassen, fiel er bei ihr in Ungnade und starb im Kerker zu Schlüsselburg 1738.
6) Michail I. Michailowitsch, einer der berühmtesten Feldherren Rußlands, Bruder des vorigen, geb. 11. Nov. 1674, machte die Feldzüge Peters d. Gr. gegen die Türken und gegen die Schweden mit Auszeichnung mit und erwarb sich einen Namen durch die Einnahme von Schlüsselburg, durch den Sieg über Löwenhaupt bei Ljesnaja und namentlich 1714 durch die Eroberung von Finnland, als dessen Gouverneur bis 1721 er sich den Ehrennamen Finski bog, d. h. Gottheit der Finnen, erwarb. Er war dann Gouverneur von Petersburg, kommandierte 1723 gegen die Türken, ward 1724 Feldmarschall, 1730 von der Kaiserin Anna zum Präsidenten des Kriegskollegiums ernannt und starb 21. Dez. 1730 in Moskau.
7) Michail II. Michailowitsch, Bruder des vorigen, geb. 1685, bildete sich in Holland und England für die Marine, ward Vizeadmiral, Geheimrat und Senator, 1740 Gesandter in Persien und Admiral, 1753 Gouverneur von Petersburg, 1756 Großadmiral und Präsident des Admiralitätskollegiums, legte unter Peter III. 1762 seine Stellen nieder, erhielt sie aber unter Katharina II. wieder und starb 1764.
8) Alexander Michailowitsch, Sohn Michails I., war Gesandtschaftsrat in Konstantinopel, dann Gesandter in Dresden, zeichnete sich im Siebenjährigen Krieg aus, ward General en chef und stand in Livland, als sich Katharina II. des Throns bemächtigte. Als Generaladjutant befehligte er 1768 die erste Armee am Dnjestr und eroberte 1769 Chotin. Er starb als Feldmarschall und Gouverneur von Petersburg 1783.
9) Dmitri Alexejewitsch, geb. 1735, Sohn des vorigen, war unter Katharina II. russischer Gesandter im Haag und in Paris, Freund Voltaires und der Encyklopädisten und starb 21. März 1803 in Braunschweig. Er schrieb: „Description de la Tauride“ (1788) u. a. – Seine Gemahlin Adelheid Amalie, Fürstin von G., Tochter des preußischen Generals Grafen von Schmettau und dessen zweiter katholischer Gemahlin, Maria Anna von Ruffert, geb. 28. Aug. 1748 zu Berlin, wurde katholisch erzogen und verlebte einen Teil ihrer Jugend am Hof des Prinzen Ferdinand von Preußen. Nach ihrer Verheiratung wählte sie Münster zum Aufenthaltsort, wo sie durch ihre Geistesbildung und Anmut einen Kreis von Gelehrten und Dichtern, zu dem auch Goethe und Jacobi Beziehungen hatten, dem vor allen aber Fürstenberg, Hemsterhuis und Hamann angehörten, um sich versammelte. Sie war die Diotima, an welche Hemsterhuis unter dem Namen Diokles seine „Lettre sur l’athéisme“ (1785) richtete. Religiöse Schwärmerin von Haus aus, war die Fürstin auch eine eifrige Proselytenmacherin, hatte an des Grafen Friedrich von Stolberg Übertritt zum Katholizismus einen Hauptanteil und darf in mehr als einer Beziehung als Vorläuferin der modernen ultramontanen Propaganda betrachtet werden. Sie starb 27. April 1806 in Angelmodde bei Münster. Ihr Sohn Dmitri ging 1792 als Missionär nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika, wo er 1840 starb. Vgl. Katerkamp, Denkwürdigkeiten aus dem Leben der Fürstin Amalie von G. (Münst. 1828); „Mitteilungen aus dem Tagebuch und Briefwechsel der Fürstin G.“ (Stuttg. 1868); „Fürstin A. von G., Briefwechsel und Tagebücher“ (Münst. 1874–76, 3 Bde.); Galland, Die Fürstin Amalie von G. und ihre Freunde (Köln 1880).
10) Alexander Nikolajewitsch, geb. 1774, Jugendgefährte Alexanders I., der ihn nach seiner Thronbesteigung in seine Nähe berief, und dessen einflußreicher Ratgeber er war, ward 1803 Oberprokurator des Synods und 1817 Minister des Kultus und der Volksaufklärung, 1824 durch die reaktionäre Geistlichkeit gestürzt, dann Generalpostdirektor, seit Alexanders Tod (1825) wegen seiner Milde und seines Freisinns ohne maßgebenden Einfluß; starb 22. Nov. 1844. Vgl. „Fürst A. N. G. und seine Zeit, aus den Erlebnissen des Geheimrats Peter v. Götze“ (Leipz. 1882).
11) Nikolai Ssergejewitsch, russ. Historiker und Generalleutnant, geb. 1808, erhielt seine Erziehung im Lyceum zu Zarskoje Selo, begann seine militärische Laufbahn 1825, war später eine Zeitlang Direktor der Rechtsschule in St. Petersburg und dann Professor an der Nikolai-Akademie des Generalstabs. Sein Hauptwerk ist die 23bändige „Kriegsgeschichte seit den ältesten Zeiten“ („Wojénnaja istórija s drewnéischich wremjón“, 1872 ff.; deutsch von Streccius und Eichwald, Kass. 1874 ff.). Außerdem veröffentlichte er in russischer Sprache: „Paul Kisseljow und dessen Verwaltung der Walachei und Moldau 1829–34“ (1879) und neben andern Schriften historischen Inhalts in der Petersburger Monatsschrift „Russkaja Starina“ seine unvollendet gebliebenen Memoiren.
[346] Galizyn, 6) Michael I. Michailowitsch, Fürst, russ. Feldmarschall. Ihm zu Ehren erhielt 1891 das 9. russische Altingermannsche Infanterieregiment seinen Namen. Nach dem Fürsten Alexander Michailowitsch (G. 8) wurde das 69. russische Rjäsansche Infanterieregiment benannt.