MKL1888:Flußverunreinigung
[295] Flußverunreinigung, die Beimischung von Stoffen zum Flußwasser, welche demselben an sich fremd sind, nicht mit Regenwasser oder Grundwasser von gewöhnlicher Beschaffenheit hineingelangen. Ursachen der F. sind in einzelnen Fällen gewisse Bodenverhältnisse (aus Schwefelkies enthaltenden Bodenschichten entnimmt Quell- und Grundwasser Eisenvitriol und Schwefelsäure, u. ersterer erzeugt Eisenoxydschlamm; andre Bodenarten geben Kochsalz, Humusstoffe ab), in höherm Maße aber die Abwässer der Städte und Fabriken, durch welche organische Substanzen, Salze von größerer oder minderer Schädlichkeit, auch Bakterien zugeführt werden (vgl. Abwässer, Bd. 17 und 18). Der Grad der F. hängt von der Wassermenge, welche der betreffende Fluß befördert, von der Geschwindigkeit und der Art und Weise der Strömung ab. In einem größern Flusse mit starker Strömung und geregeltem Bette verteilen sich einseitig zugeführte Verunreinigungen nicht leicht gleichmäßig über das ganze Flußprofil, sondern bleiben auf eine größere Wegelänge an einer Seite desselben. So mischen sich die aus den Staßfurter und Ascherslebener Werken zugeführten salzreichen Wässer so wenig vollkommen mit dem Elbwasser, daß nach einem Laufe von 40–45 km noch Unterschiede im Chlorgehalt an beiden Ufern des Flusses nachgewiesen werden können. Das schmutzigere Mainwasser ist noch bei Biebrich vom Rheinwasser zu unterscheiden. Je größer die Menge des Aufnahmewassers ist, um so mehr werden die schädlichen Abwässer verdünnt; je größer die Geschwindigkeit der Strömung, um so mehr werden die Abwässer auf eine lange Strecke verteilt. Stromschnellen, wirbelartige Bewegungen, starke unterirdische Zuflüsse bewirken eine schnelle und vollständige Mischung des Flußwassers mit den Abwässern. Eine derartige Mischung herbeizuführen ist im allgemeinen Interesse stets erwünscht, und zwar auch schon deshalb, weil verschiedene Abwässer aufeinander reinigend wirken können. Werden z. B. dem Flusse Abwässer zugeführt, welche Metallsalze enthalten, so wirken diese aufbessernd auf faulige Abwässer, indem sie Schwefelwasserstoff binden. Die größte Hilfe aber findet die F. durch jene Prozesse, welche man als Selbstreinigung zusammenfaßt. Hier kommt in Betracht die Verbreiterung des Flußbettes, der Eintritt des Flusses in ein Seebecken, wobei die Strömung so stark verlangsamt wird, daß ungelöste Stoffe und auch die Bakterien sich absetzen können, dann aber besonders die Oxydation der gelösten Substanzen oder die Überführung derselben in unlösliche Substanzen, welche sich ausscheiden und zu Boden sinken. Die einzelnen Flüsse verhalten sich in dieser Beziehung sehr ungleich, und es ist noch nicht hinreichend bekannt, [296] von welchen Faktoren die Selbstreinigung abhängt. Im allgemeinen sollte bakterienreiches Abwasser niemals in fließendes Wasser geleitet werden, bevor es durch Sedimentierung den größten Teil seiner Bakterien verloren hat. Dagegen kann bakterienarmes Abwasser gewerblicher Anlagen, wenn es durch die Wassermasse des Flusses stark verdünnt wird, der selbstreinigenden Kraft des Flusses unmittelbar überlassen werden, wo dessen Stromgeschwindigkeit sehr groß ist. Da die pathogenen Bakterien nur durch Absetzen aus dem Flußwasser verschwinden, so werden sich diese naturgemäß längs der Ufer, also gerade an den Schöpfstellen der Anwohner, ansammeln, weil dort die Stromgeschwindigkeit am geringsten ist.
Die Bedeutung der F. ist je nach den in Betracht kommenden Verhältnissen sehr verschieden. Die Landwirtschaft kann in einzelnen Fällen, z. B. bei Wiesenbewässerung, von Verunreinigungen durch städtische Abwasser Nutzen ziehen, in weitaus den meisten Fällen aber ist jede F. nachteilig, und es werden besonders die Uferbevölkerung, die Schiffer während der Fahrt, Fischerei, Landwirtschaft und Industrie betroffen. Gewisse Industriezweige bedürfen zu ihrem Betrieb Wasser von bestimmtem Reinheitszustand, wie es aus verunreinigten Flüssen nicht gewonnen werden kann. Mit Säuren und Salzen überladenes Flußwasser kann bei Überschwemmungen die Landwirtschaft schädigen, und namentlich wird das verunreinigte Wasser der Fischzucht nachteilig. Einige Fischarten sind gegen frische Exkremente wenig empfindlich, benutzen dieselben sogar als Nahrungsmittel, während sie nach eingetretener Fäulnis darunter leiden.
Wieweit eine Verunreinigung des Flußwassers, wenn es nicht genossen oder im Haushalt benutzt wird, für den Menschen schädlich sein kann, scheint noch nicht sicher festgestellt zu sein. Jedenfalls kann eine sehr bedeutende Schädigung eintreten, wenn das unreine Wasser in die Verdauungsorgane des Menschen oder auch nur der Haustiere gelangt, und zweifellos liegt hinreichende Veranlassung vor, der F. in jeder irgend möglichen Weise vorzubeugen. In dieser Richtung sind bisher bei dem Anwachsen der Bevölkerung und der Zunahme industrieller Werke noch keine ausreichenden Erfolge erzielt worden. Die hier zu überwindenden Schwierigkeiten sind teils technischer Natur (Reinigung der Abwässer in einer die Fabriken nicht allzu stark belastenden Weise), teils liegen sie in der notwendigen Schonung von Privatrechten, teils darin, daß es gilt, eine Vermittelung zwischen den bei der Frage sich gegenüberstehenden Interessenten zu schaffen. Dies gilt namentlich für den Gegensatz zwischen Fischerei und Industrie. Die letztere ist unbedingt auf die Einführung von Abwässern in die Flußläufe angewiesen. Man kann weitgehende Reinigung der Abwässer, Anlage von Rieselfeldern etc. vorschreiben; es wird aber immer eine Lebensfrage für viele industriereiche Bezirke bleiben, daß Abwässer in einem Zustand in die Flüsse gelangen, welcher eine Verunreinigung der letztern herbeiführt. Anderseits haben die Flüsse, lange bevor es eine Industrie gab, den Anwohnern Lebensunterhalt und verhältnismäßigen Wohlstand verschafft, und es ist sehr begreiflich, daß man diesen Nutzen der Flüsse nicht verlieren will. Nur an den Ufern gewisser kleiner Flüsse, wie Wupper, Emscher, Bode, wo die Bevölkerung durch die Industrie gegenwärtig im Jahre ebenso viele Millionen Mark verdient wie früher Hunderte Mark durch die Fischzucht, hat man sich in den Wandel der Lebensbedingungen gefunden, während für größere Flüsse die Fischerei ihr Recht auch fernerhin geltend macht. Offenbar stehen sich gleichberechtigte Interessen gegenüber, man wird von der Industrie verlangen können, daß sie soweit wie irgend möglich das Interesse der Fischerei schont, aber man wird jeden einzelnen Fall besonders untersuchen müssen. Im allgemeinen Interesse steht die Fischerei jedenfalls hinter der Industrie weit zurück. Nach der Gewerbestatistik von 1882 waren bei der Fischerei in Binnengewässern 14,263 Personen beschäftigt. Von diesen dürfte etwa ein Drittel auf Seefischerei entfallen; nimmt man aber an, daß alle Binnenfischer ihren Erwerb aus Flüssen ziehen und setzt die Gesamtzahl derselben als Einheit, so stehen dieser letztern von Angehörigen solcher Industriezweige, welche Abwässer in die Flüsse leiten, 377 Personen gegenüber. Preußen besitzt eine Wasserfläche von 1,280,000 Hektar für Süßwasserfischzucht, und die daraus sich ergebenden Pachterträge beziffern sich auf 2 Mill. Mk. Der nationalökonomische Gewinn für die Bevölkerung Preußens kann daher wohl kaum höher als zu 6 Mill. Mk. im Jahre angenommen werden. Dagegen stellt sich das Wertverhältnis der Binnenfischerei zur Abwässer liefernden Industrie auf 1 : 985 und der nationalökonomische Gewinn dieser Industrie auf 5896 Mill. Mk. Offenbar verschwindet das Interesse der Fischzucht gegenüber dem gewaltigen Interesse der Industrie, und der Staat ist nicht in der Lage, die Fischerei mit ihrem geringen Ertrag auf Kosten der Industrie, welche durch ihre Produktions- und Steuerkraft zur volkswirtschaftlichen Erhaltung des Staates in erster Linie beiträgt, zu schützen.
In Frankreich bestehen Gesetze zur Verhütung der F., doch scheint die Handhabung der Gesetze eine wenig ausreichende zu sein, wie allein schon der aller Beschreibung spottende Zustand der Seine unterhalb Paris beweist. In England wurde 1876 ein Gesetz erlassen, welches unter Androhung hoher Strafen die Einleitung von Abwässern in die Flüsse verbot, die mit bestimmten Mengen gewisser Stoffe beladen wären. Dieses Gesetz erwies sich für die Industrie so vollkommen unerträglich, daß es 1886 durch ein andres ersetzt wurde, welches die Einleitung verunreinigter Wässer in die Flüsse gestattet, soweit die Verunreinigung mit gewissen Stoffen eine bestimmte Grenzzahl nicht überschreitet. Die Höhe dieser Grenzzahlen ist von den besondern Gebrauchszwecken des betreffenden Flusses abhängig gemacht. Das schweizerische Bundesgesetz von 1886 richtet sich ausschließlich gegen die der Fischerei nachteilige F. und läßt den Schutz gesundheitlicher Interessen unbeachtet. Die Durchführung des Gesetzes ist in die Hände von Chemikern gelegt. Im Königreich Sachsen zielen verschiedene Bestimmungen mehr auf die Regelung des Einzelfalles hin. Die betreffenden Behörden werden angewiesen, vorbeugend zu wirken; genauere Charakteristiken für die F. sind nicht aufgestellt. Eine gewisse Einheitlichkeit in der Durchführung der Verordnungen sichert das Bestehen der technischen Deputation der obersten Landesverwaltungsstelle als Rekursinstanz. In Preußen liegt die Verwaltung der Angelegenheit zunächst in den Händen der Regierungen, welche nach den Gutachten der ihnen beigeordneten ärztlichen und bautechnischen Sachverständigen entscheiden. Außer den Vorschriften der Gewerbeordnung und einigen Vorschriften baupolizeilicher Natur existieren als allgemeine Direktiven nur die bezüglichen Rechtsgrundsätze sowie ministerielle Erlasse, die sich auf ergangene Begutachtungen durch die wissenschaftliche Deputation des Kultusministeriums [297] gründen. In einem derartigen Gutachten ist gesagt, solange eine befriedigende Lösung der ganzen Angelegenheit nicht gefunden sei, könne die Frage, ob ein Kanalwasser hinreichend gereinigt sei, um ohne Besorgnis den öffentlichen Wasserläufen einverleibt werden zu dürfen, nur von Fall zu Fall durch eine kombinierte chemische und mikroskopische Untersuchung unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Beschaffenheit der betreffenden öffentlichen Wasserläufe und der sonst in Betracht kommenden lokalen Verhältnisse mit einiger Sicherheit entschieden werden. Nach Entscheidungen des Reichsgerichts muß sich der unterhalb liegende Uferbesitzer eines Privatflusses diejenigen Zuleitungen in den Fluß gefallen lassen, welche das Maß des Regelmäßigen, Gemeinüblichen nicht überschreiten, selbst wenn dadurch die absolute Verwendbarkeit des ihm zufließenden Wassers zu jedem beliebigen Gebrauch irgendwie beeinträchtigt wird. Dem Rechte der Polizei, in vorbeugender und unterdrückender Weise gegen F. einzuschreiten, werden durch stark verklausulierte Entschädigungsansprüche, durch den mit Zeit und Ort wechselnden Begriff des Gemeinüblichen sowie auch durch die angegebene Auffassung der wissenschaftlichen Deputation Schranken gezogen, die wohl im stande sind, das durch die Polizei vertretene Gemeinwohl zu beeinträchtigen. Vgl. König, Die Verunreinigung der Gewässer (Berl. 1887); Gerson, Die Verunreinigung der Wasserläufe durch die Abflußwässer aus Städten und Fabriken (das. 1888); Fleck, Über Flußverunreinigungen, deren Ursachen, Nachweis, Beurteilung und Verhinderung (Dresd. 1884); „Bericht über die Reinigung und Entwässerung Berlins, Anhang III“ (Berl. 1874); Jurisch, Die Verunreinigung der Gewässer (das. 1890).