MKL1888:Farbenblindheit
[32] Farbenblindheit (Dyschromatopsie), das Unvermögen, Farben wahrzunehmen, ist entweder total, so daß der Betreffende seine ganze Umgebung grau sieht, oder partiell, indem das Auge nur für gewisse Farben blind ist. Die Anhänger der Young-Helmholtzschen Farbenlehre nehmen, entsprechend der Lähmung der drei farbenwahrnehmenden Elemente der Netzhaut, drei Arten partieller F. an: Rot-, Grün- und Violettblindheit, während die Anhänger der Heringschen Theorie unterscheiden: 1) Totale F. (Achromatopsie), das Spektrum erscheint farblos, die Stelle des Grüngelb ist die hellste und wird nach beiden Seiten hin dunkler. Ein farbiges Gemälde erscheint wie eine Photographie. Mitunter werden die verschiedenen Grade der Lichtintensität in Einer Farbe (z. B. Gelb) wahrgenommen, zu welcher jede andre Farbenvergleichung fehlt. Kommt einseitig angeboren vor, während das andre Auge normal farbensichtig ist. 2) Blaugelbblindheit (Erythrochloropie), das Spektrum besteht nur aus Rot und Grün, seine blauviolette Seite ist meist stark verkürzt. Kommt [33] auch einseitig vor. 3) Rotgrünblindheit. Das Spektrum besteht nur aus Gelb und Blau. Violett wird wie Blau empfunden, die Empfindung für Rot und Grün fehlt. Hier unterscheidet man: a) Grünblindheit (Xanthokyanopie), bei welcher Hellgrün und Dunkelrot verwechselt werden. Im Spektrum stößt Gelb direkt an Blau, oder zwischen beiden liegt ein Streifen Grau. Das Maximum der Helligkeit liegt im Gelb. Auch einseitig, oft erblich. b) Rotblindheit (Daltonismus), bei welcher Hellrot mit Dunkelgrün verwechselt wird. Im Spektrum liegt Gelb bereits im Orange, die rote Seite ist ungefärbt oder dunkel. Die größte Helligkeit und die Grenze zwischen Gelb u. Blau liegen mehr nach rechts. 4) Unvollständige F., herabgesetzter Farbensinn, ein Zustand, in welchem die Feinheit der Farbenempfindung fehlt, so daß die Farben z. B. nur an größern Objekten oder nur in der Nähe wahrgenommen werden, auch beim Vermischen mit Weiß alsbald nicht mehr als solche erscheinen. Ein gewisser Grad dieser Form ist häufig, insofern viele Grünblau oder Blaugrün nicht zu unterscheiden vermögen. Die F. ist meist angeboren, und die Grünblindheit erbt oft von dem Großvater auf den Sohn der farbenkräftigen Tochter. Gewöhnlich tritt die F. in der Form der Rotgrünblindheit als konstantes und frühzeitiges Symptom bei Leiden des nervösen Sehapparats, namentlich bei progressivem Schwunde des Sehnervs (schwarzem Star), auf, ohne andre Störungen des Sehvermögens dagegen höchst selten bei beginnender Rückenmarksschwindsucht, bei Gehirnleiden und Vergiftungen (Santonin erzeugt Violettblindheit [Gelbsehen]). Zuerst tritt dann Grünblindheit auf, welcher bald Rotblindheit folgt. Bei Hysterischen kommt bisweilen periodische F. vor, ebenso beobachtete man sie bei Hypnotisierten (vgl. Metallotherapie). Beim Sehen durch Fuchsingläser nehmen Farbenblinde wohl Farben wahr, welche sie sonst nicht unterscheiden, ohne indes den richtigen Farbenton zu empfinden. Die F. wurde zuerst 1777 von Huddart erwähnt sowie von Dalton, der selbst rotblind war, 1794 genauer beschrieben und seitdem von Prevost als Daltonismus bezeichnet. Seebeck machte 1837 methodische Untersuchungen, und Holmgren fand, daß von 1000 Männern etwa 30, von 1000 Frauen etwa 3 farbenblind sind. Man glaubte dies auffallende Verhältnis darauf zurückführen zu können, daß von Beginn des Menschengeschlechts an die Beschäftigung mit farbigen Objekten hauptsächlich den Frauen zugefallen ist, und verstieg sich zu der Vermutung, daß das Auge der primitiven Menschen für eine Reihe von Farben unempfindlich gewesen sei (vgl. Farbensinn). Holmgren hat zuerst auf die Bedeutung der F. für das praktische Leben aufmerksam gemacht und gezeigt, wie notwendig es sei, daß kein Eisenbahnbeamter oder Schiffslenker angestellt werde, ohne sich vorher über die Zuverlässigkeit seines Farbensinns ausgewiesen zu haben, da ein Farbenblinder unmöglich rote und grüne Signallichter richtig erkennen könne. Nach Cohn und Magnus fanden sich unter 2318 Schülerinnen nur 11, unter 2761 Schülern 76 Farbenblinde. Unter den Schülern fand sich F. doppelt so häufig bei Juden wie bei Christen. Es zeigte sich, daß F. auch vorübergehend nach großer Abspannung oder Krankheit eintreten kann. Macé und Nacati haben gefunden, daß ein Rotblinder grünes Licht viel heller empfindet als ein Normalsichtiger, während beim Grünblinden eine übermäßige Empfindlichkeit für Rot und Violett vorhanden ist. Es scheint also, daß Farbenblinde das, was ihnen für die eine Farbe an Wahrnehmungsvermögen abgeht, für andre Farben reichlicher besitzen. Zur Prüfung der Augen auf F. benutzt man das Aussuchen farbiger Wollfäden, doch ist für wissenschaftliche Zwecke die Benutzung von Spektralfarben vorzuziehen. Vgl. Holmgren, Über F. in ihren Beziehungen zum Eisenbahn- und Seedienst (deutsch, Leipz. 1877); Magnus, Die F. (Bresl. 1878); Stilling, Die Prüfung des Farbensinns beim Eisenbahn- und Marinepersonal (2. Aufl., Kass. 1878); Derselbe, Über das Sehen der Farbenblinden (das. 1880); Daae, Die F. und deren Erkennung (aus dem Norweg., Berl. 1878); Cohn, Studien über angeborne F. (Bresl. 1879); Kolbe, Geometrische Darstellung der F. (Petersb. u. Leipz. 1881).