MKL1888:Erzählung
[829] Erzählung, die sprachliche Darstellung einer Begebenheit nach ihrem Verlauf und ihren Umständen, unterscheidet sich dadurch von der Beschreibung (s. d.), daß ihr Gegenstand immer als etwas Vergangenes angesehen wird. Als ästhetische Form begreift E. die Geschichte im engern Sinn, die Biographie, die Charakterschilderung, nebst andern epischen Gattungen. Klarheit, Vollständigkeit und deutliche Vorstellung des innern Zusammenhanges der Umstände sind Hauptbedingungen einer guten E. Speziell als Dichtungsform betrachtet, hat die E. Ereignisse und Vorfälle aus dem Leben einzelner Personen zum Gegenstand, welche das Interesse vermittelst des individuellen Charakters der Begebenheit selbst in Anspruch nehmen. Dadurch, daß sie Ereignisse und Vorfälle aus dem menschlichen Leben darstellt, nicht das ganze Leben einer Person umfaßt (also einen beschränkten Umfang hat), der Episoden entbehrt, vornehmlich aber dadurch, daß sie weder wunderbare Verknüpfung der Begebenheiten selbst noch den Schein solcher anstrebt, unterscheidet sie sich vom Roman und von der Novelle, von der sie sich im übrigen nicht scharf sondern läßt. Sie erfordert vorzugsweise Einfachheit des Plans, Leichtigkeit der Entwickelung, unbefangenen, natürlichen Ton und schmucklose Darstellung und tritt sowohl in Prosa als in metrischer Form auf. Zur letztern Gattung, der poetischen E. im engern Sinn, gehören z. B. die kleinern erzählenden Poesien der mittelalterlichen Dichter („Der arme Heinrich“ von Hartmann von Aue etc.), die von H. Sachs, Hagedorn, Wieland etc. wie die zahlreichen lyrisch-epischen Dichtungen der Neuzeit von W. Scott („Mädchen vom See“), Lord Byron, Th. Moore („Lalla Rookh“), Longfellow („Evangeline“), Zedlitz („Waldfräulein“), Kinkel („Otto der Schütz“), J. Wolff („Rattenfänger“) u. a.