MKL1888:Elegīe
[512] Elegīe (griech.), diejenige lyrische Dichtungsart, in welcher irgend ein beliebiger Gegenstand zugleich als angenehm und als nicht gegenwärtig, obwohl als einst gegenwärtig gewesen, vorgestellt wird. („Ich besaß es doch einmal, Was so köstlich ist, Daß der Mensch zu seiner Qual Nimmer es vergißt“; Goethe.) Erstere Vorstellung erzeugt ein Lust-, letztere dagegen ein Unlustgefühl. Da beide nicht gleichzeitig im Gemüt vorhanden sein können, so entsteht ein Gefühlswechsel (ein sogen. gemischtes Gefühl, Wehmut), indem das angenehme Gefühl der Vorstellung des Gegenstandes (der Geliebten, der Heimat, der Kindheit etc.) von dem unangenehmen der Vorstellung seiner Abwesenheit (des Verlustes der Geliebten, der Heimat, der Kindheit etc.) abgelöst wird. Überwiegt dabei das erstere (wie z. B., wenn der Verlust des geliebten Gegenstandes nur ein zeitweiliger, die Aussicht auf dessen Wiedererlangung nicht ausgeschlossen ist), so entsteht die eigentliche E. oder E. im engern Sinn, deren Charakter sanfte Trauer, süße Wehmut, hoffnungsvolle Zuversicht ist. Überwiegt dagegen das Unlustgefühl (wie z. B., wenn der Verlust des geliebten Gegenstandes ein unersetzlicher, die Geliebte, Heimat, Kindheit etc. unwiederbringlich dahin ist), so geht die E. in die Threnodie über, deren Charakter ungemessene Trauer, bittere Resignation oder Verzweiflung ist. Beide Formen sowohl als deren Namen sind durch die „Nänien“ (Wehklagen) und „Threnen“ (Trauerlieder) des griechischen Dichters Simonides in Umlauf gebracht worden. Derselbe deutete den Gefühlswechsel, der im Charakter des Elegischen liegt, auch äußerlich rhythmisch in einem Wechsel des Metrums an, indem er sich des Distichons als der Abwechselung des (steigenden) Hexameters mit dem (fallenden) Pentameter bediente. Dasselbe wird daher vorzugsweise das elegische Versmaß genannt und ist von den Meistern der E., wie Mimnermos, Ovid, Tibull, Properz, Goethe u. a., in derselben angewandt worden. Andre neuere (insbesondere deutsche) Elegiker bedienen sich des trochäischen, d. h. des von der Länge zur Kürze absteigenden, Maßes, um einerseits den Gefühlswechsel durch den Wechsel langer und kurzer Silben wie anderseits das Überwiegen der Lust über die Unlust durch die Voranstellung der betonten vor der unbetonten Silbe zu versinnlichen. Liebesgenuß, als der zugleich süßeste und flüchtigste, bildet ein Hauptthema der E., Todesraub geliebter Personen, als der zugleich schmerzlichste und unersetzlichste, ein solches der Threnodie. In ersterer Gattung sind Goethes „Römische Elegien“ klassisch. Unter den Deutschen haben Hölty, Bürger, Matthisson, Klopstock, Hölderlin, Haller, E. v. Kleist, Schiller, Herder, Jacobi, Stolberg, Kosegarten, Voß, Salis, Tiedge u. a. Elegien, unter den Neuesten noch mehrere (z. B. Anast. Grün, Lenau, Alfr. Meißner) elegisch ohne die äußere Form der E. gedichtet.