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MKL1888:Chorāl

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Chorāl“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 4 (1886), Seite 7274
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Chorāl. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 72–74. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Chor%C4%81l (Version vom 25.05.2024)

[72] Chorāl (Cantus choralis, lat.), der beim christlichen Gottesdienst übliche „Chorgesang“. Derselbe besteht in der katholischen Kirche ursprünglich in dem aus den ersten Jahrhunderten des Christentums stammenden sogen. Gregorianischen Gesang (s. d.) und wird als Concentus unterschieden von dem mehr bloß recitierenden Accentus (s. d.) der von einem einzelnen Priester vorgetragenen Lektionen etc. Der Choralgesang begreift die Hallelujagesänge, Antiphonien, Responsorien, Hymnen, Sequenzen etc.; er entbehrt des Rhythmus (daher auch Cantus non mensuratus oder Cantus planus genannt) und ist, wie er heute geübt wird, eine Folge gleichlanger Töne von ermüdender Monotonie; doch ist er dies erst im Lauf der Zeit, besonders seit Aufkommen des Discantus im 12. Jahrh., geworden. Ursprünglich war er sogar sehr lebendig bewegt, und besonders der Halleluja- und Psalmengesang wird von den frühmittelalterlichen Schriftstellern einem Jauchzen und Jubilieren verglichen. Leider ist der Schlüssel für die Rhythmik der alten Notierungen (Neumen) verloren gegangen, und es scheint keine Hoffnung vorhanden zu sein, daß man den Choralgesang in seiner ursprünglichen Gestalt wiederherstellen könnte. Mit dem Aufkommen der mehrstimmigen Musik gesellte sich zu dem als Cantus firmus oder Tenor unantastbaren Choralgesang zunächst eine parallel in Oktaven oder Quinten (Quarten) mitgehende Stimme (Organum), der man in der Folge die stete Gegenbewegung zur Norm machte (Discantus), und die bald freier gestaltet wurde und einen verzierten Gesang über den C. ausführte (Cantus figuratus). So gewöhnte man sich allmählich, den C. als ein starres Gerippe zu behandeln, welches die Kontrapunktisten mit dem Fleisch und Blut belebter Stimmen umkleideten. Der größte Teil der reichen Musiklitteratur des 12.–16. Jahrh. (Motetten, Magnifikats, Messen) ist auf Tenore aus dem Cantus planus aufgebaut, und noch heute legen die Kirchenkomponisten vielfach ihren Werken Choralmotive zu Grunde.

Die ältesten Bestandteile des katholischen Choralgesangs sind der von den Juden übernommene Halleluja- und Psalmengesang, sodann kam zuerst in der griechischen Kirche der Antiphonengesang, der von Ambrosius (gest. 397) in die abendländische Kirche eingeführt wurde; eine Abart desselben, der Gradualgesang, entwickelte sich in der römischen Kirche wohl nur wenig später. Der Hymnengesang ist wahrscheinlich heidnischen Ursprungs und wurde besonders von Ambrosius kultiviert, die Sequenzen brachte das 9. Jahrh. (vgl. Kirchenmusik). Der neuere Kirchengesang bewahrt den Gregorianischen C. im Gesang der Priester, während der Chor mehrstimmig gesetzte, ausgeführte Kompositionen derselben Texte mit oder ohne Zugrundelegung alter Choralmotive [73] vorträgt. Wie der reichverzierte Gesang der ältern Zeit, so forderte später der kunstvolle mehrstimmige Satz wohlgeschulte Sänger, und die Kirche hat es sich daher stets zur Aufgabe gemacht, gute Sänger auszubilden. Bereits Gregor I. gründete zu Rom eine Sängerschule, aus der die Kapellsänger der Sixtina hervorgingen; nach ihrem Muster wurden die Gesangschulen zu St. Gallen, Metz, Fulda, Korvei, Mainz, Trier und Hersfeld eingerichtet. Das Volk blieb nach wie vor beim Kirchengesang unthätig, um so mehr, da mit den Gregorianischen Gesängen auch die lateinische Sprache in den Kirchen des Abendlandes Eingang fand. Bloß das „Kyrie eleïson“ und „Christe eleïson“ wurden vom Volk mitgesungen. Erst seit dem 12. Jahrh. begann sich in Deutschland aus den Wallfahrts-, Marien-, Oster-, Pfingst- und Bußgesängen ein Gemeindegesang zu entwickeln, welcher in der Folge durch die Zulassung der Landessprache beim Gottesdienst seine weitere Ausbildung fand.

Der protestantische C. hat eine ganz ähnliche Geschichte wie der katholische. Als es galt, für die junge reformierte Kirche auch frische, nicht an die Erstarrung des römischen Dogmas erinnernde Gesänge zu schaffen, griff Luther zum Volkslied und der damals in hoher Blüte stehenden Komposition mehrstimmiger volksmäßiger Gesänge und nahm dieselben direkt herüber, indem er ihnen geistlichen Text unterlegte. Manche Choräle, z. B. „Ein’ feste Burg“, sind freilich gleich zuerst für die Kirche komponiert worden, aber doch in derselben Form und auch die Dichtung an das einfache Strophenlied von zwei Stollen und Abgesang anlehnend. Auch wurden einzelne katholische Hymnen ähnlichen Charakters mit herübergenommen. Alle diese Choräle waren von einer prägnanten Rhythmik, sind aber wie der Gregorianische Gesang mit der Zeit zu einer Folge gleichlanger Töne erstarrt. Die Versuche, den ursprünglichen rhythmischen C. wieder aufleben zu lassen, sind bis jetzt gescheitert. Es scheint, daß an der Zerstörung des Rhythmus der Choräle wiederum die Kontrapunktisten schuld sind, diesmal die deutschen Organisten, welche, wie früher die Kapellsänger, die Hauptvertreter der Komposition wurden. Auch mag der Umstand, daß noch im Lauf des 16. Jahrh. die Gemeinde anfing, den C. mitzusingen, wesentlich mit darauf hingedrängt haben, die Melodie so zu gestalten, daß sie sich für den gemeinschaftlichen Gesang einer Menge eignete. In dem Maß, wie die Melodie selbst verlangsamte und des Rhythmus verlustig ging, wurde aber eine belebtere Begleitung Bedürfnissache, und die Figuration der Choräle (s. Choralbearbeitung) entwickelte sich daher bereits im 17. Jahrh. zu großer Künstlichkeit. Eine andre, noch wirkungsvollere, in manchen Kirchen eingeführte Abwechselung bringt der strophenweise Wechselgesang in den Choralgesang, wobei je eine Strophe von der gesamten Gemeinde in der gewöhnlichen einfachen Weise und unter Begleitung der Orgel abgesungen, die folgende aber von einem kleinern musikalisch gebildeten mehrstimmigen Chor, oder auch von Solostimmen mit nur leiser Orgelbegleitung, oder auch ohne alle Begleitung vorgetragen wird. Es ist außerdem zur Gewohnheit geworden, nach jeder Verszeile einen Halt (Fermate) zu machen und eine längere Pause eintreten zu lassen, welchen die Organisten durch Zwischenspiele ausfüllen.

Die geschichtliche Entwickelung des protestantischen Chorals war eine verhältnismäßig schnelle. Luther, selbst Kenner der Tonsetzkunst, verdeutschte und verbesserte mit Hilfe seiner Freunde Walter und Senfl alte lateinische und deutsche Gesänge, dichtete neue und setzte sie in Musik. Diese Lieder wurden zuerst nur von Gesangskundigen in der Kirche vorgetragen; nach und nach aber lernte auch das Volk in den Kirchengesang einstimmen. Schon 1524 erschien zu Wittenberg eine Sammlung von Kirchenliedern im Druck. Der Vorrat von Chorälen wurde namentlich durch das „Cantional der Böhmischen und Mährischen Brüder“ (hrsg. von Wylmschweerer, Jungbunzlau 1531 und Ulm 1538 u. 1539, enthaltend 136 Lieder mit 111 beigedruckten Melodien) sowie durch die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. von A. Lobwasser in Königsberg nachgedichteten französischen Psalmen Clément Marots und Theodor Bezas, die ebenfalls meist nach Volksweisen gesungen wurden, bereichert. Die eigentliche Blüte des evangelischen Choralgesangs datiert von der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. und dauert bis in die ersten Jahrzehnte des 17., wo der französische Geschmack und die Opernmusik einigermaßen Einfluß auf denselben gewannen und ihn eines Teils seiner alten kirchlichen Würde entkleideten. Zur neuen, wenn auch nur vorübergehenden Hebung desselben hat Seb. Bach wesentlich beigetragen.

Als Tonsetzer und Förderer des Choralgesangs seit der Reformation sind außer Luther, von dem drei Originalmelodien: „Jesaia, dem Propheten“, „Wir glauben all’ an Einen Gott“ und „Ein’ feste Burg“, herrühren, zu nennen: Arnold von Bruck (kaiserlicher Kapellmeister 1534); Hermann (Heinrich) Fink (polnischer Kapellmeister 1536); Georg Rhaw (Kantor in Leipzig); Martin Agricola (Kantor in Magdeburg); Joh. Kugelmann (Kapellmeister des Herzogs Albrecht von Brandenburg 1539); Nikol. Herrmann (Kantor zu Joachimsthal in Böhmen); Nik. Selneccer (Superintendent in Leipzig); Joh. Eccard (Kapellmeister zu Königsberg i. Pr.); Ehrh. Bodenschatz (Pastor in Osterhausen, gest. 1636); Moritz, Landgraf von Hessen; Melchior Frank (Kapellmeister in Koburg); Mich. Altenburg (Pfarrer in Erfurt); Heinrich Albert (Kapellmeister in Königsberg); Joh. Krüger (Kantor in Berlin); Johann Georg Eberling (Musikdirektor in Berlin); Joh. Herm. Schein (Kantor der Thomasschule in Leipzig); Joh. Rosenmüller (Kapellmeister in Wolfenbüttel); Andr. Hammerschmidt (Organist in Zittau); Georg Neumark; Joh. Rud. Ahle (Bürgermeister in Mühlhausen); Joh. Schopp (um 1550 Kapellmeister in Hamburg); Jak. Prätorius oder Schulze (1651 in Hamburg); Thom. Selle (1651); Joh. Ulich (1674); Adam Drese (1698). Die Bedeutung Seb. Bachs für den C. wurde bereits hervorgehoben. Nach ihm machten sich sein Sohn Emanuel Bach, Friedr. Doles, Quantz und Adam Hiller, namentlich durch Kompositionen Gellertscher Lieder, um Förderung des Choralgesangs verdient. Einer der jüngsten und bedeutendsten Komponisten von Kirchenliedern ist Schicht, der ins 19. Jahrh. hineinreicht. Über Sammlungen protestantischer Choräle s. Choralbuch. – In der reformierten Kirche war Zwingli ohne alles Interesse für Kirchengesang. Dieser kam in der schweizerisch-reformierten Kirche erst zu Calvins Zeit auf, besonders infolge der trefflichen Leistungen Claude Goudimels, der 16 Psalmen, vierstimmig und motettenartig nach Volksmelodien komponiert, herausgab (1562). In der deutsch-reformierten Kirche ward der Choralgesang von Andr. Lobwasser eingeführt und zwar durch Herübernahme französischer Psalmodien, zu denen später auch Lieder aus der lutherischen Kirche hinzukamen. In der reformierten Kirche Frankreichs erlitten Goudimels Psalmen durch Courart und La Bastide 1679 eine [74] Umarbeitung und fanden in derselben, von Dathen (1566) übersetzt, auch in der niederländisch-reformierten Kirche Eingang. Die englische Hochkirche führte zum Zweck des Gemeindegesangs Psalmen ein, die versifiziert und mit einfachen, aber etwas arienmäßigen Melodien ausgestattet wurden.

Für die katholische Kirche veranstalteten Sammlungen von Liedern der alten Kirche Vehse (Leipz. 1537), Leisentritt (Budissin 1557 u. öfter), später Corner (Wien 1631), G. Kopp (Passau 1659) u. a. Im 18. Jahrh. fand der deutsche Gemeindegesang auch im katholischen Gottesdienst bis zu dem Grad Förderung, daß selbst zur Messe deutsche Lieder gesungen wurden. Auch wurden für die katholischen Gesangbücher teils neue Lieder gedichtet und komponiert, teils viele evangelische, namentlich aus dem Gellertschen Dichterkreis, mehr oder weniger verändert aufgenommen. Deutsche Gesangbücher für die katholische Kirche lieferten namentlich Riedel (Wien 1773), Kohlbrenner (Münch. 1777), Werkmeister (Stuttg. 1784, Münch. 1810), v. Wessenberg (Konstanz 1828), Brosig, Haberl u. a. Vgl. „Anthologie deutscher katholischer Gesänge aus älterer Zeit“ (Landshut 1831). In der griechisch-katholischen Kirche Rußlands suchte Jaroslaw 1051 den Kirchengesang durch griechische Sänger verbessern zu lassen. Von dem 1040 gegründeten Höhlenkloster zu Kiew erhielt eine neue Sangweise, die sich vor der eintönigen abendländischen durch Mehrstimmigkeit auszeichnete, den Namen der Kiewschen. Zu dieser kamen 1180 noch die bulgarische und griechische Sangweise hinzu, beide von demselben Charakter wie die Kiewsche. Dem späterhin (1605) durch den tatarischen Usurpator Grischka Otrepiew gemachten Versuch der Einführung des abendländischen Kirchengesangs in die russische Kirche stellte (1656) der Metropolit Nikon von Nowgorod den alten Partiturgesang für sieben Stimmen entgegen, welcher, durch die Einwirkung italienischer Meister geläutert, noch jetzt in Rußland vorherrschend ist.

Vgl. v. Winterfeld, Der evangelische Kirchengesang (Leipz. 1843–47, 3 Bde.); Häuser, Geschichte des christlichen Kirchengesangs und der Kirchenmusik (Quedlinb. 1834); Tucher, Schatz des evangelischen Kirchengesangs im 1. Jahrh. der Reformation (Stuttg. 1848, 2 Bde.); Bollens, Der deutsche Choralgesang der katholischen Kirche (Tübing. 1851); Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs (3. Aufl., Stuttg. 1866–76, 8 Bde.); Haberl, Magister choralis (Handbuch des Gregorianischen Kirchengesangs, 4. Aufl., Regensb. 1873); R. Schlecht, Geschichte der Kirchenmusik (das. 1871); Kümmerle, Encyklopädie der evang. Kirchenmusik (Gütersl. 1883 ff.).