MKL1888:Astrachan
[969] Astrachan, feine Lämmerfelle (s. d.) oder zu den Plüschen gehörige Webstoffe, welche das Aussehen der Lämmerfelle nachzuahmen suchen.
Astrachan, ein Gouvernement Ostrußlands, grenzt im N. an die Gouvernements Saratow und Samara, im O. an das Land der Uralischen, im W. an das der Donischen Kosaken und im S. an das Kaspische Meer und das Gouvernement Stawropol. Der Flächeninhalt beträgt einschließlich des Gebiets der astrachanischen Kalmücken und Kirgisen (innere Horde) 224,471 qkm (nach Strelbitskys Berechnung 236,527 qkm = 4295 QM.). Das Gouvernement A. bildet einen Teil der uralo-kaspischen Tiefebene. Die Oberfläche hat eine Neigung nach SO. zur Seite der Wolga hin, in welcher Richtung auch einige Steppenflüsse auf der linken Seite in die Wolga einmünden; nur im südwestlichen Teil des Gouvernements findet eine geringe Bodenerhebung statt. Auf dem linken Ufer der Wolga begegnet man nur einzelnen wenig bedeutenden hügeligen Erhebungen, das rechte Ufer dagegen ist ein wenig höher und steiler als das linke, daher auch die rechte Seite die Bergseite, die linke die Wiesenseite genannt wird. A. ist ein Tiefland mit vielen Salzseen, Sümpfen und Triebsandrayons. Man rechnet gegen 700 Salzseen mit einem Flächenraum von 828 qkm. Die bedeutendsten sind: der Kamüsch-Samara, eigentlich ein Komplex von Seen und Sümpfen im W. des Landes, die Salzsümpfe Chaki, der Salzsee Elton, der Bozkuntschatsee am Bogdoberg etc., alle östlich von der Wolga, dem Hauptstrom des Gouvernements. Die obere Erdschicht besteht aus mit Sand, Meerschlamm und Muscheln vermengtem Lehm. Das Klima dieses unter gleichem Breitengrad mit den fruchtbaren Gegenden Süddeutschlands und Mittelfrankreichs gelegenen Gouvernements hängt vorzüglich von der Stärke und Richtung des Windes ab. Im Winter bringen Nord- und Nordostwinde starke Kälte, die nicht selten bis auf −36° C. steigt; im Sommer treten, nach drückender Hitze von 35° C. im Schatten, bei plötzlich sich erhebendem Nordwind kalte Tage ein. Südost- und Südwinde bringen im Winter heiteres und warmes Wetter, im Sommer aber versengende Hitze. Der Frühling beginnt hier außerordentlich zeitig, schon gegen Anfang April stehen die Bäume in voller Blüte. In den Monaten Juni und Juli, wo die Ernte der Feldfrüchte stattfindet, fällt selten Regen, der indes immer von starken Gewittern begleitet ist. Nach der Julihitze tritt allmählich die bessere Jahreszeit, der Herbst, ein; bis zum Dezember, oft bis zum Januar, hat man weder Schnee noch starken Frost. Das Pflanzenreich liefert Getreide, Salat, Rüben, Rettiche, Senf, spanischen Pfeffer, Spargel, Melonen, Arbusen, Kürbisse, Obst, Trauben und viele Arzneigewächse etc.; das Tierreich Pferde, Hornvieh, Schafe, Schweine, Kamele, Eber, Wölfe, Füchse, Steppenfüchse, gewöhnliche und Springhasen, Iltisse, Bisamratten, Fischottern etc., Enten, Gänse, Schwäne etc. Mineralische Produkte sind Koch-, Bitter- und Glaubersalz, Salpeter, Mergel, Gips, Kalk. Die Zahl der Einwohner betrug 1881: 708,911, 3 pro Quadratkilometer. Es leben hier Groß- und Kleinrussen, Kosaken, Tataren, Kalmücken, Kirgisen, außerdem Armenier, Tschuwaschen, Tscheremissen, Grusinier, Perser, Inder, Bucharen, Turkmenen von Chiwa, Kisilbaschen, Griechen und Deutsche (längs der Wolga). Das astrachanische Kosakenheer verteilt sich auf 72 Bezirke an beiden Ufern der Wolga in den Gouvernements Saratow und A., in welch letzterm 11 Stanizen sind (s. Kosaken). Die Kalmücken (s. d.), ca. 120,000, nomadisieren in der westlichen Wolgasteppe, südlich von Zarizyn auf einem Flächenraum von 85,800 qkm (1558 QM.). Die astrachanischen Tataren teilt man in Ghilanische, Bucharische und Agrischanische (Bastarde); die beiden erstern sind benannt nach dem Land, aus welchem sie stammen, die letztern hervorgegangen aus der Ehe tatarischer Weiber und hier angesiedelter Inder. Sie wohnen meist unter Zelten und nomadisieren; die geringere Anzahl wohnt in Städten und Dörfern, wo sie Handel und allerlei Gewerbe, auch Acker- und Gartenbau treiben. Sie sind eigentlich Nogaier und machen etwa 8000 Familien aus; dazu kommen aber an der untern Achtuba noch ungefähr 1000 Jurten Kundurowsche Tataren und die Kisilbaschen oder persischen Kolonisten, die jedoch nicht zahlreich sind. Die astrachanische (innere) Kirgisenhorde zählt 169,000 Köpfe auf einem Gebiet von fast 60,000 qkm (1080 QM.). Die Hälfte der Bevölkerung gehört der griechisch-katholischen Kirche an (50 Proz.), außerdem leben hier Sektierer, Armenogregorianer, Protestanten, Katholiken etc.; die Mohammedaner haben 74 Moscheen, die Kisilbaschen sind Feueranbeter, die Inder bekennen sich zur Religion des Brahma, die Kalmücken sind Buddhisten. Hauptnahrungs- und Erwerbszweige der Einwohner sind Ackerbau, Viehzucht und Fischerei. Vom Gesamtareal sind nur 2518 qkm Ackerland, 10,682 qkm Grasland, 915 qkm Wald; der Rest, also mehr als 80 Proz., ist unproduktiv. Der Ackerbau ist infolge der ungünstigen Bodenverhältnisse wenig entwickelt, zur Viehzucht dagegen ist das Steppengebiet wie geschaffen; man zählte 1876: 142,000 Pferde, 497,000 Stück Hornvieh, 1,386,000 Schafe, 52,800 Ziegen, 52,000 Schweine, 58,000 Kamele. Im J. 1882 hatten im Gouvernement A. von den frühern gutsherrlichen Leibeignen erst 1916 das Eigentumsrecht an den Ländereien erworben und standen 3458 noch in zeitweilig verpflichtenden Beziehungen zum Gutsbesitzer. [970] Die Küstenbevölkerung treibt Fischfang. Enorme Quantitäten von Fischen werden jährlich auf den Markt von Nishnij Nowgorod gebracht und von dort durch das ganze Reich versendet. Gegen 50 Mill. kg Fische für 8 Mill. Rubel sollen jährlich in den Handel gebracht werden. Die Salzausbeute (besonders aus den reichen Lagern bei Jenotajewsk und aus dem Eltonsee, s. d.) lieferte 1880: 2,6 Mill. metr. Ztr. im Wert von 6½ Mill. Rub. Die Industrie steht noch auf niedriger Stufe; die wichtigsten Fabriken arbeiten in Baumwolle, Leder und Seide. Im J. 1879 zählte man 171 Fabriken mit 881 Arbeitern und einem jährlichen Produktionswert von 3 Mill. Rub. Haupteinfuhrartikel sind Getreide und Bauholz. Beständige Bazare befinden sich auf der Moskauer Straße und an zwei andern Stellen im Kreis A.; außerdem werden mehrfach Jahrmärkte abgehalten. Eingeteilt ist das Gouvernement in fünf Kreise: A., Krasnijar, Jenotajewsk, Tschernijar, Zarew.
Die gleichnamige Hauptstadt des Gouvernements (im Mittelalter Dschitarchan und Ginterchan) liegt unter 41°39′ nördl. Br. und 42°58′ östl. L. v. Gr., zwischen den Mündungsarmen der Wolga, 66 km von deren Mündung, auf der hügeligen Wolgainsel Seitza, von Obst- und Weingärten umgeben, und ist eine der reichsten und größten Städte Rußlands. Sie besteht aus der Festung (Kreml), der Weißen Stadt (Beloigorod) und 16 Vorstädten (Sloboden); aber nur der Kreml und die Weiße Stadt haben Steinhäuser, die Sloboden, von denen die kasanische, sibirische und tatarische die größten sind, enthalten nur hölzerne Gebäude und unregelmäßige, kotige und ungepflasterte Straßen. Mittendurch zieht sich der Länge nach ein Kanal, welcher den Wolgaarm Kutum mit der Wolga verbindet. Die Stadt hat 37 griechische, 2 katholische, 1 protestantische und 4 armenische Kirchen, 15 Moscheen und eine lamaitische Pagode. Die schönste Kirche ist die auf dem höchsten Hügel im Kreml befindliche Kathedrale mit fünf Kuppeln, 1696 unter Peter d. Gr. erbaut. Wissenschaftliche Anstalten sind 1 Priesterseminar, 2 Kreisschulen, 1 Gymnasium, 1 armenische Schule und zahlreiche andre Unterrichtsanstalten, 1 botanischer Garten und 1 Gouvernementsbibliothek. Die Bevölkerung, welche 1879: 57,704 Einw. zählte, ist ein buntes Gemisch aus Russen, Armeniern, Tataren, Persern etc., deren Hauptbeschäftigung der Handel bildet. A. ist, obwohl nur, wenn südliche Winde das Wasser des Meers aufstauen, tief gehende Schiffe den Hafen erreichen können, der erste Seehafen des Kaspischen Meers, Kriegshafen der kaspischen Flotte und der Haupthandelsplatz zwischen dem innern Rußland und Persien nebst Turkistan. Es steht mit allen wichtigen Punkten des Kaspischen Meers durch Dampfschiffe in Verbindung, welche auch die Wolga aufwärts bis Rybinsk fahren. Große Messen versammeln viele Tausende von Menschen, und drei große Bazare oder Chane sind nach asiatischer Art für die vornehmsten Handelsgeschäfte bestimmt. Die Hauptartikel der Einfuhr sind Rohbaumwolle, Früchte und Fische, die der Ausfuhr Woll- und Baumwollwaren, unbearbeitete Metalle, Metallwaren und Thongeschirre. Der Wert der Einfuhr belief sich 1881 auf 3 Mill., der der Ausfuhr auf 2,6 Mill. Rub. Auch die Industrie ist beträchtlich; sie erstreckt sich auf Schiffbau, Färberei, Seidenmanufaktur, Chagrinbereitung (aus den harten Rückenstücken von Pferdehäuten), Talgschmelzerei, Thransiederei, Seifenfabrikation (sogen. tatarische Seife aus Seehundsthran) etc. Von außerordentlichem Belang ist der Fischfang. Die hiesigen Fischereien, nächst denen von Neufundland die größten der Welt, werden von der Krone verpachtet, beschäftigen viele Tausende von Menschen und liefern im Durchschnitt jährlich über 100,000 Hausen, 300,000 Störe (für Kaviarbereitung ist A. der wichtigste Ort Rußlands), 1½ Mill. Serugen und eine ungeheure Menge kleinerer Fische; auch der Robbenschlag ist sehr bedeutend. A. ist Sitz eines griechisch-katholischen und eines armenischen Erzbischofs und einer lamaitischen geistlichen Vorsteherschaft, ferner Sitz der Admiralität, welcher die Kaspiflotte, die Schiffswerfte und das kaiserliche Kontor der Fischerei unterstellt sind. In der Nähe der Stadt ziehen die Tataren viele und vorzügliche Küchengewächse und Obst, namentlich Weintrauben, Melonen und Arbusen; die Trauben von A. sind berühmt und werden durch ganz Rußland versandt.
A. wird von arabischen Schriftstellern unter dem Namen Torgichan schon frühzeitig erwähnt und war im 13. und 14. Jahrh. ein Sammelplatz indischer Waren. Der tatarische Eroberer Timur zerstörte die Stadt 1395; aber schon 1475 taucht sie wieder als ein auch von Russen stark besuchter wichtiger Handelsplatz auf, und 1485 wurde sie Sitz eines tatarischen Chans. Im J. 1554 eroberte der Zar Iwan Wasiljewitsch IV. A., es brach indessen gleich darauf ein Aufstand aus, und A. mußte 1557 zum zweitenmal endgültig erobert werden und bildete fortan die Hauptstadt des Zartums A., welches die jetzigen Gouvernements A., Samara, Orenburg, Saratow und Stawropol umfaßte. Im 17. Jahrh. war A. vielfach den Eroberungszügen mancher Rebellenscharen ausgesetzt. So zogen die aufrührerischen Kosaken 1670 unter Stenka (Stephan) Razin vor A.; mit 2600 Strelitzen und 50 Feldstücken zog ihnen der Gouverneur entgegen. Doch gingen die Strelitzen zu den Aufrührern über, und die Thore der Stadt wurden durch Verrat geöffnet. Bei seinem Einzug 25. Juni 1670 verfuhr Stenka grausam gegen die russischen Beamten, verließ aber die Stadt wieder und wurde bald darauf ergriffen und hingerichtet. Im J. 1693 ward die Stadt von einer Pest heimgesucht. Im J. 1705 hatte Peter d. Gr. hier einen Aufstand zu bekämpfen, welcher vornehmlich von den Sektierern (Raskolniken) ausging. Katharina II. gewährte jedem Fremden, der sich in A. selbst oder in dessen Gebiet niederlassen und Fabriken errichten würde, eine 30jährige Abgaben- und vollkommene Gewerbefreiheit, wodurch A. schnell wuchs.