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MKL1888:Anthropomorphismus

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Anthropomorphismus“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Anthropomorphismus“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 1 (1885), Seite 631
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Anthropomorphismus. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 631. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Anthropomorphismus (Version vom 19.01.2022)

[631] Anthropomorphismus (griech.), die Vorstellung von etwas Übermenschlichem unter menschlicher Gestalt. Der eleatische Philosoph Xenophanes (s. d.) fand diese Vorstellungsweise so naheliegend, daß, wenn Tiere überhaupt eine Vorstellung von etwas „Übertierischem“ haben könnten, Löwen ihre Götter in Löwen-, Stiere die ihrigen in Stiergestalt denken würden. Da das einzige äußere und innere Wesen, welches der Mensch aus eigner Erfahrung besser als jedes andre kennt, sein eignes, dieses aber zugleich infolge sehr natürlicher Eigenliebe in seinen Augen auf Erden wenigstens das vollkommenste ist, so ist es begreiflich, daß er das Vollkommnere, dessen Gedanken er faßt, nur unter der allerdings über das Maß seiner an sich erfahrenen Beschränktheit hinaus gesteigerten Form seiner selbst vorzustellen vermag. Statt zu lehren, der Mensch sei nach Gottes Ebenbild geschaffen, wäre es daher richtiger (mit Schleiermacher) zu sagen: der Mensch schaffe Gott (d. h. seine Vorstellung Gottes) nach dem seinigen. Je nach der verschiedenen Vorstellung, welche der Mensch von sich selbst hat, muß seine Vorstellung von Gott demnach verschieden ausfallen. Sieht er seine äußere Erscheinung (den Menschenleib) als zu seinem Wesen gehörig und davon unabtrennlich an, so wird er auch seinen Gott nicht ohne dieselbe, nur in erhöhter, sei es ins Kolossale und Ungeheuerliche vergrößerter (wie z. B. der Inder), sei es ins Harmonische verschönerter, Form (wie z. B. der Hellene) zu denken imstande sein. Sieht er dagegen sein Inneres, den geistigen und gemütlichen Kern seiner Natur, für das Wesen, seinen menschlich gestalteten Leib nur als dessen zufällige Hülle an, so wird er Gott ohne die letztere als körperlosen, quantitativ und qualitativ weit über die Grenze des Menschtums hinaus gesteigerten, aber nichtsdestoweniger dem eignen Geiste des Menschen ähnlichen Geist vorstellen. Ersteres kann man den gröbern, weil das Übersinnliche in sinnlicher Gestalt anschauenden, dieses muß man, obgleich einen verfeinerten, doch, weil das Unendliche nach dem Vorgang des Endlichen vorgestellt wird, immer noch A. heißen. Des erstgenannten kann die Kunst, welche das Göttliche zu versinnlichen, des letztern auch die Religion sich nicht entschlagen, welche das Bild des reinen Gottesgeistes von allen Schlacken der Sinnlichkeit zu reinigen sich bemüht. Soll zwischen dem Menschen und seinem Gott ein wirkliches Verhältnis, sei es der Furcht (vor dem Richter) oder der Hoffnung (auf den Vater), stattfinden, so muß zwischen beiden, alles Abstandes zwischen dem Endlichen und Unendlichen ungeachtet, eine gewisse Verwandtschaft vorhanden sein. Ein Gott, welcher weder (wie die Götter der Griechen) nach seiner äußern Erscheinung noch (wie der Gott der Juden und der Christen) nach seinem gemütlichen und geistigen Sein etwas Menschenähnliches besäße, bliebe dem Menschen völlig fremd und unverständlich. Daher finden sich nicht nur in allen der Stufe der Sinnlichkeit nahestehenden Religionen menschlich gestaltete Götter, sondern auch in den in der Vergeistigung der Gottesidee am weitesten fortgeschrittenen kommen Ausdrücke vor, welche bald der Gottheit Affekte, Leidenschaften (sogar unsittliche: Zorn, Rachsucht) beilegen, wie sie dem Menschen eigen (s. Anthropopathismus), bald auf Verhältnisse hinweisen, wie sie nur bei Menschen möglich sind, z. B. Vaterschaft, Kindschaft Gottes, Sohn, Mutter Gottes etc.