MKL1888:Abruzzen
[54] Abruzzen (s. Karte „Italien, nördliche Hälfte“), der höchste Teil des zentralen Apennin zwischen den Flüssen Tronto und Sangro, hauptsächlich vom Aterno, im Unterlauf nach dem Ort Pescara genannt, entwässert. Das ganze Apenninensystem erreicht in den A. seine größte Höhe, indem der Gran Sasso d’Italia sich zu 2919 m, der höchsten Höhe der ganzen Halbinsel, die Majella im südlichsten Teil zu 2795 m erhebt. Das Gebirge besteht aus zwei Parallelketten, von denen die höhere, wildere im O. steil zum Adriatischen Meer abfällt, aber auch die westliche im Velino zu 2487 m ansteigt; zwischen beiden Ketten liegt die Hochebene des obern Aterno (ca. 700 m), während im W. das Thal des Salto und das Becken des jetzt trocken gelegten Fuciner Sees (660 m) es vom römischen Subapennin scheidet. Dieses rauhe, im Winter monatelang in Schnee vergrabene Gebirgsland, schwer zugänglich wie es ist, hat von jeher ein kräftiges Hirten- und Bauernvolk großgezogen. Schöne Viehherden weiden auf den Bergen und in den Thälern. Die Schweinezucht ist sehr bedeutend und bringt Pökelfleisch, Würste von Amatrice und Schinken zur Ausfuhr; auch die Schafzucht ist erheblich. Getreidebau tritt etwas zurück, auch Weinbau wird nur an den Thalgehängen getrieben, und Oliven und Feigen gedeihen nur in den untern Hügellandschaften am Adriatischen Meer. Von großer Bedeutung für die Erwerbsverhältnisse ist die Abruzzenbahn, welche von der Küstenbahn Ancona-Otranto bei Pescara abzweigt, nach Aquila führt und einerseits nach Terni fortgesetzt wurde (1883 eröffnet), anderseits nach Rom weitergebaut wird. Nach dem Gebirge hat diese ganze, physisch eine Einheit bildende nördliche Landschaft des ehemaligen Königreichs Neapel den Namen erhalten und zerfällt, mit der Provinz Molise zu einem Landesteil (compartimento territoriale), A. und Molise, vereinigt, in die Provinzen Aquila (Abruzzo ulteriore II), Teramo (Abruzzo ulteriore I), Chieti (Abruzzo citeriore) und Campobasso (Molise) mit zusammen 17,273 qkm (nach Strelbitskys Berechnung nur 17,008 qkm = 309 QM.) und (1881) 1,317,315 Einw. Am dichtesten ist die Bevölkerung, welche meist in kleine Ortschaften verteilt ist, in der Provinz Chieti, am dünnsten auf dem Hochland von Aquila. Die Einwohner (Abruzzesi) sind ein Hirtenvolk von patriarchalischer Einfachheit und Roheit, anhänglich an ihr Vaterland, ihre Religion und ihre Regierung, abergläubisch, musikalisch und gastfrei. Ein schöner Menschenschlag, geben sie treffliche Soldaten, besonders Reiter, obschon sie von Natur Abneigung gegen den Kriegsdienst haben, sind aber auch als Banditen und Räuber seit frühen Zeiten berüchtigt. Viele Abruzzesen wandern jährlich auf einige Monate aus, um in den benachbarten Provinzen Erntearbeit zu verrichten. Obwohl die A. als ein schwer zugängliches Gebirgsland hohe strategische Wichtigkeit erlangen könnten, haben sie bisher doch noch nie eine solche bewährt. Wie schon die Bewohner dieser Gebirgslandschaft, welche den Kern der im Jahr 90 v. Chr. gegen Rom vereinigten italischen Völker bildeten, den Römern nicht zu widerstehen vermochten, so ist es ihnen auch in der neuern und neuesten Zeit niemals gelungen, äußere Feinde von ihren Bergen fern zu halten oder ein Hort des Königreichs Neapel zu sein. Das Banditenwesen, welches nach Beseitigung der bourbonischen Dynastie hier längere Zeit mit politischem Anstrich blühte, ist jetzt völlig ausgerottet.