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Literaturbriefe an eine Dame/II

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Textdaten
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Autor: Rudolf Gottschall
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Titel: Literaturbriefe an eine Dame/II
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 90–92
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf Gottschall.
II.

Ich muß Sie heute, Madame, an die Ufer des schönsten deutschen Stromes führen – und Sie folgen mir gewiß willig dorthin.

Vielleicht brütet auf der Ostsee gerade ein düsterer Nebeltag, die sandigen Nehrungen hüllen sich in Schleier; unruhig und mürrisch brandet die Fluth an den steilen Uferhängen; ein naßkaltes Frieren geht durch den Park und leichte Flore schweben um die mächtigen Eichen. Die Bernsteinnixen haben sich zurückgezogen in ihre unterseeischen Gemächer und überlassen das Wellenspiel der Oberfläche den übellaunigen Mächten des Tages.

Da ist es Ihnen gewiß willkommen, Madame, wenn ich Sie auf Flügeln der Phantasie aus so unheimlicher Gegenwart forttrage an den „alten deutschen Rhein“! Denn wer auch nur eine flüchtige Rheinreise gemacht hat, wie Sie, dem blühen doch, schon bei dem Namen des prächtigen Stromes, die anmuthigsten Erinnerungen auf. Sie stehen wieder auf dem Verdeck des Dampfers, sehen das vielthürmige goldene Mainz vorübergleiten und in goldenem Dufte die Rebenhügel des Rheingaues; Sie sehen die Romantik der Felsen und Burgen, welche der gespenstige Mäusethurm in seinen Strudeln bewacht.

Doch mitten durch die Romantik bohrt sich der minirende Geist des Fortschritts seine Bahn, in die Felslöcher zur Rechten und Linken huschen die Locomotiven; aber es sind Felsenthore, die ihren Weg nicht hemmen. Fremdartig gemahnt’s die Lorelei, die noch immer auf hohem Felsenthrone sitzt; auch ihre Zeit ist vorüber, sie verführt uns Keinen mehr! Weiterhin Burg an Burg, bis das mächtige Ehrenbreitenstein die ritterlichen Adler- und Falkenhorste beschämt; freier öffnet sich das Thal, wo die weinreiche Mosel durch ihre Rebenhügel dem Rheine zuströmt. Doch noch einmal verengt es sich; die Siebenberge drängen sich mit ihren reizenden Häuptern an den Fluß; Burgen zur Rechten, zur Linken und mitten im Strome die umschattete Klosterinsel.

So steht das flüchtig genossene Rheinpanorama anmuthig vor jeder Erinnerung, auch vor der Ihrigen, Madame! Man muß indeß am Rhein gelebt haben, um dauernd in der Seele die ganze Frische zu tragen, die der prächtige Strom ausathmet, um mehr in sich aufzunehmen als den duftigen Hauch der Landschaft.

Ich habe meine Jugend verlebt in dem goldenen Mainz. Rebenhügel und Winzerfeste, prächtige Sonnenuntergänge, das Wandeln auf der Rheinbrücke, in den schattigen Gängen der Neuen Anlage, deren idyllischer Friede damals noch nicht durch die aufdringliche Eisenbahn gestört war – das Alles gab meiner Phantasie für immer eine Fülle anmuthiger Bilder, die sie zuweilen noch zur Decoration ihrer nächtigen Träume benutzt. Damals schwärmte ich für Jean Paul, dessen Naturbegeisterung ich auf die schöne Rheinlandschaft übertrug. Und im Vertrauen will ich’s Ihnen sagen, daß ich diese Schwärmerei noch immer theile. Aber plaudern Sie’s nicht weiter aus; denn man könnte mich sonst für einen unreifen Jüngling halten, der weit hinter der Zeit zurückgeblieben ist. Wer liest heute noch Jean Paul? Er ist ja nicht mehr Mode. Und wenn man ihn gelesen hat – man kann in keinem Salon davon sprechen; sein Name verhallt in’s Leere. Man liest ja doch nur, um über das Gelesene sprechen zu können, um sich ein kleines Kopfkissen für die Unterhaltung zurecht zu machen. Ich spreche nicht von Ihnen, Madame! Für Sie ist Lesen Andacht, Cultus, geheime Zwiesprache mit dem Genius der Menschheit, der sich durch seine begabten Priester offenbart.

Damals, wenn ich über die Schiffbrücke am Abend ging, das Abendroth um die Waldgipfel des Taunus schwebte, die Strommühlen vergoldete und in den Fluthen des Rheins sich spiegelte, begriff ich nicht, wie hier Menschen vorübergehen konnten mit dumpfer Seele, Menschen, die mein Entzücken nicht theilten. Jetzt begreife ich das nur zu gut und ein Abendroth muß schon besonders stylvoll colorirt sein oder eine aufgeschlossene Stimmung treffen, wenn es mir in die Seele leuchten soll.

Damals hatte ich einen Freund, den ich innig, überschwänglich liebte, um seiner selbst willen; ich begriff die Helden Schiller’s und Jean Paul’s, Carlos und Posa, Flamin und Horion. Solche Freundschaft ist zur Mythe geworden in unserer Zeit. Wir kennen nur die Freundschaft, die auf Gemeinsamkeit der Interessen beruht, höchstens die Freundschaft der Ressourcen, der Kegelclubs, der Kaffeegesellschaften. Doch jene Ideale sind für mich unlösbar verknüpft mit der Poesie des Rheins.

Und diese Poesie des Rheins trat mir lebendig in dem neuen Romane eines namhaften Autors entgegen, in Berthold Auerbach’s „Landhaus am Rhein“ (fünf Bände). Zwar spielt der Roman nicht in jenen Gegenden, in denen meine Erinnerungen am liebsten verweilen: man muß seinen Schauplatz weiter rheinabwärts suchen, obgleich im Ganzen der Phantasie der Leser hierin die größte Freiheit gelassen ist. Das warme Naturgefühl des Dichters zeigt uns die Rheinlandschaft in aller Magie einer wechselnden Beleuchtung; wir gleiten auf dem Kahne über den stillen Strom und verlieren uns dann in die Schatten der Klosterinsel; wir fahren auf dem belebten Dampfer bei Sonnenschein und Unwetter; wir sehen die Villa Eden mit ihrer Blumenpracht hineingebaut in die herrliche Landschaft oder besuchen die improvisirte Burg, eine Stätte fashionabler Romantik; wir nehmen Theil an den fröhlichen Winzer- und Schifferfesten, an den Gesprächen in den Weinstuben des Städtchens, an dem muntern Leben der Rheinlande. Reizende Arabesken, kleine rothbäckige Bacchanten, mit Rebenguirlanden umkränzt und vollbeerige Trauben in der Hand haltend, umgaukeln den Rahmen der Dichtung und heben sich von ihren düsteren Bildern mit heiterem Lächeln ab.

Die Stimmung der Natur, der Landschaft, des Volkslebens ist in diesem Rheinromane glücklich getroffen – und das ist kein geringes Lob.

Freilich, der Dichter gönnt sich auch Muße, dies Alles mit vollem Behagen auszumalen, mit einer gewissen Schönseligkeit, welche an die Romane Adalbert Stifter’s erinnert. Wie oft gemahnt uns die Villa Eden an die mit wunderbarer Rosenpracht umkleidete Villa in Stifter’s „Nachsommer“! Wie viele botanische Gespräche finden sich in beiden Romanen! Wie breit tritt die pädagogische Tendenz in beiden hervor! Diese Menschen haben Zeit, das Kleinste zu beachten, jede aufgehende Blume im Garten, jede aufgehende Stimmung in der Seele! Das wird Alles mikroskopisch untersucht; die Geheimnisse des äußeren und geistigen Wachsthums werden unter die Lupe genommen. So sanft ist der Wellenschlag der Handlung, so wenig Ruderkraft wird in Anwendung gebracht, daß der Roman mehrere Bände hindurch kaum von der Stelle kommt.

Ich muß Ihnen bekennen, Madame, daß ich sehr geduldig bin, wenn es gilt, ein umfangreiches philosophisches Werk zu Ende zu lesen, daß mich aber bei mehrbändigen Romanen leicht eine unbezwingbare Ungeduld anwandelt, wenn die Helden und Heldinnen lange Capitel hindurch nur spazierengehen und sich unterhalten, und die Handlung sich nach gar keinem bestimmten Ziele hinbewegt. Nennen Sie Das immerhin Ketzerei; doch ich verlange vom Romane in erster Linie einen spannenden Fortgang und lasse mich nicht abspeisen mit geistreichen Gesprächen und ansprechenden Schilderungen. Der Roman ist für das Abendland, was das Märchen ist für den Orient – und wie rasch würde jener Sultan eingeschlafen sein, wenn seine Scheherezade, statt ihm wundersame Geschichten von Fischern, Riesen und Geistern zu erzählen, ihm eine Abhandlung über Rosenzucht vorgetragen hätte!

Ich nehme damit den blos stoffartigen Reiz geistverlassener Romandichtung durchaus nicht in Schutz; doch die Handlung des Romans selbst soll, auf Grund einer phantasiereichen Erfindung, den Gedanken spiegeln und dieser nicht neben dem Strome der Handlung sich ein selbstständiges Bett wühlen.

Auerbach bleibt indeß nur in der ersten größern Hälfte des Romans in den Banden jener oft sinnigen Beschaulichkeit, welche die erfindende Phantasie gänzlich in den Hintergrund treten läßt. In der zweiten Hälfte des Werkes fehlt es nicht an romanhaften Ueberraschungen, und gegen den Schluß hin drängen sich die Ereignisse in solcher Weise, daß ihre Darstellung eine skizzenhafte wird. Diese Ungleichheit der Behandlung, die Windstille im Anfange und der Sturm am Schlusse, ist eine Hauptausstellung, die man gegen den Aufbau des Werkes machen kann.

[91] Der Held desselben ist ein am Rhein wohnender Nabob, der Besitzer der Villa Eden, der Millionär Sonnenkamp, ein Egoist im großen Styl, dessen dunkle Vergangenheit sich allmählich vor unsern Augen enthüllt. Er ist trefflich gezeichnet als ein moderner Titane, aber nicht aus unsern Denkerschulen; schon äußerlich eine mächtig athletische Gestalt, welche den Eindruck der Ueberkraft macht, ein praktischer Weltmensch, dem nichts heilig ist, der rücksichtlos alles für seine Zwecke benutzt und die Menschen mit kalter Verachtung behandelt. Von seinen früheren Schicksalen und Thaten gehn nur dunkle Gerüchte. Es ist das Recht des Romanschriftstellers, unsere Spannung nach der Vergangenheit hin zu lenken, und von diesem Rechte macht Auerbach uneingeschränkten Gebrauch. Er bedient sich indeß dabei einiger Hülfsmittel der Romantechnik, welche sich kaum rechtfertigen lassen. Er führt Personen des Romans zusammen, von denen die eine, eingeweiht in jene Geheimnisse, der andern Aufschlüsse darüber giebt. Gleichwohl theilt er diese Aufschlüsse nicht seinen Lesern mit; er schlägt ihnen gleichsam die Thüre vor der Nase zu. Er schildert uns nur die Wirkungen, welche jene Enthüllungen ausüben, aber diese Enthüllungen selbst bleiben uns Geheimniß. In so grober Weise darf indeß ein Romandichter nicht die Geheimnißkrämerei betreiben; er darf uns nicht eine Unterredung verschweigen, zu der er uns miteingeladen hat. Da ist der Daumen des Herrn Sonnenkamp ein besserer Wetterprophet für die Witterungswechsel des Romanschicksals. Dieser Daumen trägt einen Ring und der Ring soll eine Bißwunde verdecken. Wir erfahren, daß ein Neger, den er in das Meer stürzte, ihn hier in die Hand biß.

Immer klarer wird es, daß dieser Millionär in frühern Zeiten ein Sclavenhändler und Sclavenmörder war. Gerade als der Fürst bereit ist, seinen heißesten Wunsch zu erfüllen und ihn in den Adelstand zu erheben, bringt die Zeitung diese verhängnißvolle Enthüllung über die Vergangenheit des transatlantischen Nabob. Der Fürst selbst erfährt dies während der Audienz, hält das Document zurück und zum Uebermaß des Unglücks für Sonnenkamp fällt jetzt auch der Leibmohr des Fürsten über ihn her; es ist derselbe Neger, der ihn in den Daumen gebissen hat, den der Sclavenhändler in’s Wasser warf, der sich aber gerettet hat. Rachedürstend umklammert er sein Opfer, welches erst der Befehl des Fürsten zu befreien vermag. Sonnenkamp, stöhnend wie ein getroffener Stier, noch den Schaum vor dem Munde, schleudert dem abgehenden Fürsten einige Majestätsbeleidigungen nach.

Wir sind mit einem Male im schönsten Fahrwasser des Romans; doch leider findet sich diese fesselnde Katastrophe erst am Schluß des vierten Bandes! Das ist Manna für die müden Seelen, die sich durch so lange, so geistreiche Vorbereitungen hindurcharbeiten mußten, um sich endlich einmal an einem drastischen Bilde zu erquicken.

Sonnenkamp ist vernichtet! Der alte Praktiker geräth auf den sehr unpraktischen Einfall, ein Ehrengericht zusammenzuberufen, welches ein Urtheil über ihn fällen soll, und vereitelt diesen doch ernstgemeinten Zweck wieder durch seine Rechtfertigung, die nur ein Hohn gegen die Gesellschaft ist und gegen Alles, was in ihr als Ehre gilt. Er spielt seine Trümpfe mit der größten Offenheit aus, erklärt, daß die Welt nichts als ein Zusammenhang von Egoismen, nichts als in Anstand maskirtes Laster sei. Alles sei öde, nichtig, ein endloses Gähnen, das nur im Todesröcheln aufhöre. Er habe die ganze Sandwüste der Langenweile durchlaufen, nichts helfe darüber hinaus als Opium, Haschisch, Hazardspiel und Abenteuer. Wir erfahren, daß Sonnenkamp Spion und Depeschendieb, Löwenjäger, Wallfischfänger, Sclavenhändler und Plantagenbesitzer war. Als Sclavenhändler stürzte er einmal seine ganze Menschenfracht in’s Meer, um der Untersuchung durch verfolgende Schiffe zu entgehn; er behauptet, dabei in seinem Rechte gewesen zu sein.

Diese Rede ist höchst pikant; aber der Mann wird uns auf einmal zu geistreich. Er mag verachten, was die Welt für Ehre und Tugend hält, und hinter Allem die gebotene Heuchelei suchen; doch jene Blasirtheit weltschmerzlicher Dichter, jenes Hamletthum, welches Alles schal und abgestanden findet, steht dem Manne der That übel zu Gesicht; es ist ein fremdartiger Zug, der nicht hineinpaßt. Sonnenkamp hat dem Lord Byron nicht gelesen; er hatte keine Zeit dazu; er vertritt die gottesleugnerische Praxis; aber in fortdauernder rüstiger Bethätigung der eigenen Kraft, im Pflanzen und Bauen, Arbeiten und Schaffen hat er nicht Muße gefunden, sich auf jenem Lotterbette der Geistreichigkeit auszustrecken, welche das Leben unendlich langweilig findet.

Anders verhält es sich mit Gräfin Bella. Das ist die geistreiche Salondame, deren Menschenverachtung durch zahlreiche Zuflüsse aus den geistigen Reservoirs unserer Dichter und Denker gespeist wird, deren Abenteuerlust aus der innern Unbefriedigung eines leidenschaftlichen Herzens entspringt. Daß diese beiden Charaktere sich zuletzt finden, daß Bella, nach dem Tode ihres Gatten, dem Sclavenhändler nach Amerika folgt, wo beide in dem Secessionskriege auftauchen und untergehn: das ist eine Erfindung, welche das volle Gepräge psychologischer Wahrheit an sich trägt.

Das Gegengewicht gegen den hartgesottenen Egoisten bilden seine edeln Kinder, Roland und Manna, und der Hauslehrer derselben, der Hauptmann-Doctor Erich Dournay, der eigentliche Idealheld des Romans. Es ist eine alte Erfahrung, daß solche Figuren in der Regel etwas Verblaßtes und Verschwommenes haben, während die dämonischen Gestalten, die Zöllner und Sünder, den Dichtern weit besser gelingen, als die Heiligen. Bei den ersten sprechen die eigenen Züge; die letztern brauchen in der Regel noch einen nach der Schablone gefertigten Glorienschein, der uns auch äußerlich andeutet, mit wem wir es zu thun haben. Seit den Zeiten Jean Paul’s, dessen erhabenste Gestalten, wie Emanuel, ihres Zeichens Hauslehrer sind, ist es in Romanen Mode geworden, die Herren und Damen, die sich dieser gewiß ehrenvollen Stellung widmen, mit den seltensten Vorzügen des Geistes und Herzens auszustatten. Wer kennt nicht das Trotzköpfchen Jane Eyre aus dem Gouvernantenroman der Frau Currer-Bell und dem Drama der Frau Birch-Pfeiffer? Nachdem indeß Spielhagen in den „Problematischen Naturen“ uns einen interessanten Hauslehrer vorgeführt hat, der allerlei aristokratische Abenteuer erlebt, hätten wir von einem Auerbach’schen Romane wohl gewünscht, daß nicht dieselbe Erfindung zur Grundlage gewählt worden wäre.

Freilich, die Durchführung ist eine andere. Auerbach stellt die Erziehung in den Vordergrund und schüttet eine Menge treffender Bemerkungen und geistvoller Maximen über dies Thema mit freigebigen Händen aus. Erich Dournay sucht die schwierige Aufgabe, den Sohn eines Millionärs zu erziehn, in entsprechender Weise zu lösen, wobei ihm der edle Charakter seines Zöglings wesentlich zu Hülfe kommt. So ist der Roman Auerbach’s im Grunde ein Erziehungsroman, wie Rousseau’s „Emil“ und Jean Paul’s „Unsichtbare Loge“, und gewährt den erfreulichen Eindruck, daß die Sünden der Väter nicht an den Kindern gerächt werden, sondern daß ein jüngeres Geschlecht dieselben durch Hochsinn und Edelmuth sühnt.

Wenn indeß auch wir die bildenden Einflüsse eines Lehrers wie Dournay auf Gemüth und Charakter anerkennen, so hegen wir doch begründete Zweifel, daß der junge Roland viel bei ihm gelernt hat, und fürchten, daß er bei einem ernsten Examen schlecht bestehen würde. Das tumultuarische Leben in Villa Eden, die Reisen nach der Residenz und nach Karlsbad dulden keinen geregelten Lehrplan, und überdies hat der Lehrer selbst ja so viel mit seinen eigenen Empfindungen zu thun, daß wir ihm kaum die Ruhe zutrauen, welche für wissenschaftliche Lectionen unerläßlich ist.

Sie werden sich nicht wundern, Madame, wenn ich Ihnen mittheile, daß sich Erich Dournay in die Tochter vom Hause verliebt. Es ist dies bei einem Hauslehrer so wenig ungewöhnlich, daß nur das Gegentheil überraschen würde. Er ist schön und hat edle Grundsätze; es ist ebenso wenig wunderbar, daß Manna seine Liebe erwidert.

Manna ist die poetische Erscheinung des Romans; die Entfaltung dieser Mädchenseele ist mit großer psychologischer Wahrheit geschildert. Am Anfang der Erzählung sehn wir sie bereit, der Welt zu entsagen und sich dem Kloster zu widmen, um für ihren Vater Buße zu thun. Die erwachende und wachsende Neigung für Erich, der ihr eine neue geistige Welt enthüllt, führt sie immer weiter ab von dem Entschluß der Entsagung, bis sie den Muth gewinnt zum Bekenntniß der Liebe, bis der Bußgürtel, den sie als klösterliche Mahnung um dem zarten Leib trägt, von ihr gelöst in den Garten hinabschwebt, auf einem Baume hängen bleibt und die Beute eines jungen Staars wird, der die dünne hänfene Schnur in den Schnabel faßt und sein Nest damit baut!

Neben dieser anmuthigen Gestalt, welche in den Familiengruppen der Villa Eden vorzugsweise mit anziehender Magie wirkt, steht nun zunächst die Mutter Ceres, ein trefflich gezeichneter [92] Charakter. Ein Naturkind, geistesschwach bis zum Stumpfsinn, ohne Bildung, nur an äußerem Prunk und Putz hängend, von kindischer Eitelkeit, wie die Töchter der Wilden, die nur äußerlich die Civilisation berührt hat, geräth sie in die kaum verstandenen Verwickelungen der Gesellschaft und verfällt dem Wahnwitz und Untergang, als der eigene Gatte sie treulos verlassen hat. Sie ist die wahre Frau des Sclavenhändlers, der in ihr nur die Sclavin sieht und das Reich der Bildung von Hause aus vor ihr verschlossen hält.

Mannigfach sind die anderen Charaktere des Romans schattirt: die beiden Aristokraten, der Freiherr von Pruncken und Graf Clodwig, jener mit seinen bigotten Anwandlungen, dieser mit seinem edeln Freisinn; der köstlich gezeichnete gemüthliche Major mit seinem stets citirten Orakel, dem Fräulein Milch; die Frau Professorin, die würdige Matrone; der praktisch humane Weidmann; die Männer vom Hof, aus der Stadt und vom Lande. Es wird Sie nicht befremden, Madame, daß Auerbach auch dorfgeschichtliche Episoden in die Handlung verwebt – on revient toujours à ses premiers amours.

Und damit auch die blaue Blume der Romantik nicht fehle, giebt sie der Dichter dem märchenhaften Kinde Lilion in die Hand, welches die unsichtbaren Geister des Waldes mit all’ ihrem Zauber ausstatten und dem jungen Roland zuführen als vorbestimmte Märchenbraut.

Je mehr sich die Vergangenheit Sonnenkamp’s enthüllt, desto mehr tritt die Sclavenfrage in den Mittelpunkt des Romans, der gegen den Schluß hin große geschichtliche Perspectiven gewinnt. Wie Sonnenkamp und Bella schiffen auch Erich, Manna und Roland über den Ocean, und der Bürgerkrieg sieht Vater und Kinder in getrennten Lagern sich feindlich gegenüberstehn.

Ich beklagte schon, Madame, daß wir hier, wo ein großes allgemeines Interesse rege wird, uns mit Brieffragmenten, mit flüchtigen Kreideskizzen begnügen müssen, statt der farbenreich ausgeführten Gemälde, welche die früheren Bände darbieten. Der Dichter verwies in einen Anhang, was uns gerade für selbstständige und glänzende Darstellung besonders geeignet scheint. Hier vollendet sich erst Roland’s Erziehung, hier erscheint Erich als Mann und Held, und auch der als Sclavenmörder gebrandmarkte Sonnenkamp sühnt den Frevel in tapferem Kampf.

Wieviel bedeutender ist dies Alles, als die Werbung um den Adel und das Scheitern dieser Bemühungen, die uns mit so ausführlicher Detailmalerei geschildert werden!

Sie sehn, Madame, der neue Roman Auerbach’s ist ein geist- und inhaltsvolles Werk; wichtige Fragen der persönlichen Erziehung und der Erziehung der Menschheit werden in demselben verhandelt; die stylistische Einkleidung ist edel und würdig, wenn auch in Inhalt und Form gleichmäßig der Denker mehr hervortritt als der Dichter, philosophische Weltbetrachtung mehr als der unmittelbare Hauch schöpferischer Phantasie und die Grazie erzählender Kunst.

Sie werden, Madame, diesen Roman nicht ohne Befriedigung, ohne vielfache Anregung aus der Hand legen und sich freuen, die Bekanntschaft eines so geistreichen Schriftstellers gemacht zu haben. Freilich dürfen Sie längere Zeit hindurch an seiner dichterischen Erfindungskraft nicht verzweifeln, Sie müssen ihr einen uneingeschränkten Credit eröffnen in der begründeten Hoffnung, daß sie später baar bezahlen wird.