Lichtenstein/Zweiter Teil/X
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„Der Herzog schaut hinunter lang
Und spricht mit einem Seufzer bang:
Wie fern, ach, von mir abgewandt,
Wie tief, wie tief liegst du mein Land.“
G. Schwab.[1]
Karfreitag und Osterfest waren vorübergegangen, und Georg von Sturmfeder befand sich noch immer in Lichtenstein. Der Herr dieses Schlosses hatte ihn eingeladen, bei ihm zu verweilen, bis etwa der Krieg eine andere Wendung nehmen würde, oder Gelegenheit da wäre, der Sache des Herzogs wichtige Dienste zu leisten. Man kann sich denken, wie gerne der junge Mann diese Einladung annahm. Unter einem Dach mit der Geliebten, immer in ihrer Nähe, oft ein Stündchen mit ihr allein, von ihrem Vater geliebt – er hatte in seinen kühnsten Träumen kein ähnliches Glück ahnen können. Nur eine Wolke trübte den Himmel der Liebenden, die düstere Wolke, die zuweilen auf der Stirne des Vaters lag. Es schien, als habe er nicht die besten Nachrichten von seinem Herzog und dem Kriegsschauplatz. Es kamen zu verschiedenen Tageszeiten Boten in die Burg, aber sie kamen und gingen, ohne daß der Ritter seinem Gast eröffnete, was sie gebracht haben. Einigemal glaubte Georg in der Abenddämmerung sogar den Pfeifer von Hardt über die Brücke schleichen zu sehen, er hoffte von diesem vielleicht etwas erfahren zu können, er eilte hinab, um ihn zu begegnen, aber wenn er bis an die Brücke kam, war jede Spur von ihm verschwunden.
Der junge Mann fühlte sich etwas beleidigt über diesen Mangel an Zutrauen, wie er es bei sich und in seinen Äußerungen gegen Marie nannte. „Ich habe doch den Freunden des Herzogs mich ganz und gar angeboten, obgleich ihre Partie nicht viel Lockendes hat, der Mann in der Höhle und der Ritter von Lichtenstein bewiesen mir Freundschaft und Vertrauen, aber warum nur bis auf diesen Punkt? Warum darf ich nicht erfahren, wie es mit Tübingen steht, warum nicht, wie der Herzog operiert, um sein Land wiederzuerobern? Bin ich nur zum Dreinschlagen gut, verschmäht man mich im Rat?“
[269] Marie suchte ihn zu trösten. Es gelang oft ihren schönen Augen, ihren freundlichen Reden, ihn diese Gedanken vergessen zu lassen, aber dennoch kehrten sie in manchem Augenblicke wieder, und die sorgenvolle Miene des alten Herrn mahnte ihn immer an die Sache, welcher er beigetreten war.
Am Abend des Osterfestes konnte er endlich dieses Stillschweigen nicht länger ertragen; er fragte auf die Gefahr hin, für unbescheiden zu gelten, wie es mit dem Herzog und seinen Planen stehe, ob man nicht auch seiner endlich einmal bedürfe? Aber der Ritter von Lichtenstein drückte ihm freundlich die Hand und sagte: „Ich sehe schon lange, wackerer Junge, wie es dir das Herz beinahe abdrücken will, daß du nicht teilnehmen kannst an unseren Mühen und Sorgen; aber gedulde dich noch einige Zeit, vielleicht nur einen Tag noch, so wird sich manches entscheiden. Was soll ich dich mit ungewissen Nachrichten, mit traurigen Botschaften plagen? Dein heiterer Jugendsinn ist nicht gemacht, bedächtlich in ein Gewebe von Bosheit zu schauen und die künstlich geschlungenen Fäden wieder loszumachen. Wenn die Entscheidung naht, dann, glaube mir, wirst du ein willkommener Genosse sein bei Rat und That. Nur so viel brauchst du zu wissen, es steht mit unserer Sache weder schlimm noch gut; doch bald muß es sich entscheiden.“
Der junge Mann sah ein, daß der Alte recht haben könne, und doch war er nichts weniger als zufrieden mit dieser Antwort. Auch erfuhr er den Namen des Geächteten nicht. Marie hatte ihn, als er in der nächsten Nacht ins Schloß gekommen war, gefragt, ob sie ihrem Gast seinen Namen nennen dürfe, er hatte nichts darauf gesagt, als: „Noch ist’s nicht an der Zeit!“
Noch ein dritter Umstand war es, der Georg beinahe beleidigend vorkam. Er hatte dem Herrn von Lichtenstein gesagt, wie sehr ihn der Mann in der Höhle angezogen habe, wie er nichts Erfreulicheres kenne, als recht oft in dessen Nähe zu sein, und dennoch hatte man ihn nie mit einem Wort eingeladen, eine Nacht mit dem geheimnisvollen Gaste zuzubringen. Er war zu stolz, sich aufzudrängen, er wartete von Nacht zu Nacht, ob man ihn nicht herabrufen werde, jenen Mann zu sprechen; es geschah nicht. [270] Er beschloß, wenigstens einmal uneingeladen zuzusehen, wie der Fremde in die Burg komme, und betrachtete sich deswegen die Gelegenheit genau. Seine Kammer, wohin er regelmäßig um acht Uhr geführt wurde, lag gegen das Thal hinaus; gerade entgegengesetzt der Seite, wo die Brücke über den Abgrund führte. Von hier war es also nicht möglich, ihn kommen zu sehen. Das große Zimmer im zweiten Stock, das nicht weit entfernt von seiner Kammer lag, wurde jede Nacht abgeschlossen, von dort aus konnte er also auch nicht hinabsehen. Auf dem Vorplatz, der die Kammern umher und den Saal verband, gingen zwar zwei Fenster gegen die Brücke hinaus, sie waren aber vergittert und hoch, so daß man zwar ins Freie hinüber, aber nicht hinab auf die Brücke sehen konnte.
Es blieb ihm daher nichts übrig, als sich irgendwo zu verbergen, wenn er den nächtlichen Besuch sehen wollte. Im ersten Stock war dies nicht möglich, weil dort so viele Leute wohnten, daß er leicht entdeckt werden konnte. Doch als er den Thorweg und die Ställe musterte, die unter dem Schloß in den Felsen gehauen waren, bemerkte er an der Zugbrücke eine Nische, die von den Thorflügeln bedeckt wurde, welche man nur, wenn der Feind vor den Thoren war, verschloß. Dies war der Ort, der ihm Sicherheit und zugleich Raum genug zu gewähren schien, um zu beobachten, was um ihn her vorging; links vor der Nische schloß sich die Zugbrücke an das Thor, rechts war die Treppe, die hinaufführte, vor ihm der Thorweg, den jeder gehen mußte, der ins Schloß kam. Dorthin beschloß er in der kommenden Nacht sich zu schleichen.
Um acht Uhr kam der Knappe mit der Lampe, um ihm wie gewöhnlich ins Bett zu leuchten. Der Herr des Schlosses und seine Tochter sagten ihm freundlich gute Nacht. Er stieg hinan in seine Kammer, er entließ den Knecht, der ihn sonst entkleidete, und warf sich angekleidet auf das Bette; er lauschte auf jeden Glockenschlag, den die Nachtluft aus dem Dorf hinter dem Walde herübertrug; oft schlossen sich seine Augen, oft schwebte er schon auf jener unsicheren Grenze zwischen Wachen und Schlafen, wo sich die Seele nur mit ermatteten Kräften gegen die Bande des [271] Schlummers sträubt, aber immer wieder rang er sich los, wenn seine Gedanken klar genug waren, um ihm seinen Zweck ins Gedächtnis zurückzuführen.
Zehn Uhr war längst vorüber; die Burg war still und tot, Georg raffte sich auf, zog die schweren Sporen und Stiefel ab, hüllte sich in seinen Mantel und öffnete behutsam die Thüre seiner Kammer. Er hielt den Atem an, um sich nicht durch Schnauben zu verraten, die Angeln seiner Thüre garrten, er hielt an, er lauschte, ob niemand diese verräterischen Töne gehört habe. Es blieb alles still; der Mond fiel in mattem Schein auf den Vorplatz; Georg pries sich glücklich, daß ihn dieses trügerische Licht nicht zum zweitenmal verraten werde. Er schlich weiter an die Wendeltreppe, noch einmal hielt er an, um zu lauschen, ob alles stille sei; er hörte nichts als das Sausen des Windes und das Rauschen der Eichen über der Brücke. Er stieg behutsam hinab. In der Stille der Nacht tönt alles lauter, und Dinge erwecken die Aufmerksamkeit, die man am Tage nicht beachtet hätte. Wenn Georgs Fuß auf ein Sandkörnchen trat, so rauschte es auf der gewölbten Wendeltreppe, daß er erschrak und glaubte, man müsse es im ganzen Hause gehört haben. Er kam an dem ersten Stock vorüber; er lauschte, er hörte niemand, aber auf dem Herd in der Küche flatterte ein lustiges Feuer. Jetzt war er unten. Zu dem Weg von seiner Kammer bis zum Thor, den er sonst in einem Augenblick zurücklegte, hatte er eine Viertelstunde verwandt.
Er stellte sich in die Nische und zog den Thorflügel noch näher zu sich her, so daß er völlig von ihm bedeckt war. Eine Spalte in der Thüre war groß genug, daß er durch sie alles beobachten konnte. Noch war alles still im Schloß. Nur flüchtige Tritte glaubte er über sich zu vernehmen, es war wohl Marie, die geschäftig hin- und herging.
Nach einer tödlich langen Viertelstunde schlug es im Dorfe eilf Uhr. Dies war die Zeit des nächtlichen Besuches; Georg schärfte sein Ohr, um zu vernehmen, wann er komme. Nach wenigen Minuten hörte er oben den Hund anschlagen, zugleich rief über dem Graben eine tiefe Stimme: „Lichtenstein!“
„Wer da?“ fragte man aus der Burg.
[272] „Der Mann ist da!“ antwortete jene Stimme, die Georg von seinem Besuch in der Höhle so wohlbekannt war.
Ein alter Mann, der Burgwart, kam aus einer Kasematte, die in den Grundfelsen gehauen war. Er öffnete mit einem wunderlich geformten Schlüssel das Schloß der Zugbrücke. Indem er noch damit beschäftigt war, stürzte in großen Sprüngen der Hund die Treppe herab; er winselte, er wedelte mit dem Schwanz, er hüpfte an dem Burgwart hinauf, als wolle er ihm behülflich sein, die Brücke für seinen Herrn herabzulassen. Und jetzt kam auch Marie, sie trug ein Windlicht und leuchtete damit dem Alten, der mit seinem Aufschließen nicht zurechtzukommen schien.
„Spute dich, Balthasar!“ flüsterte sie, „er wartet schon eine gute Weile, und draußen ist’s kalt und es weht ein garstiger Wind.“
„Jetzt nur noch die Kette los, gnädiges Fräulein“, antwortete er, „dann sollt Ihr gleich sehen, wie schön meine Brücke fällt. Ich habe auch, wie Ihr befohlen habt, die Fugen mit Öl geschmiert, daß sie nicht mehr garren und die Frau Rosel aus ihrem sanften Schlaf aufwecken.“
Die Ketten rauschten in die Höhe, die Brücke senkte sich langsam nach außen und legte sich über den Abgrund; der Mann aus der Höhle, in seinen groben Mantel eingehüllt, schritt herüber. Georg hatte sich das Bild dieses Mannes tief ins Herz geprägt, und doch überraschten ihn aufs neue seine auffallend kühnen Züge, sein gebietendes Auge, seine freie Stirne, das Kräftige, Gewaltige in seinen Bewegungen.
Der Schein des Windlichtes fiel auf ihn und Marie, und noch lange Jahre bewahrte Georg die Erinnerung an diese Gruppe. Die schlanke Gestalt der Geliebten, das dunkle Haar, dessen Flechten aufgegangen waren und nun um den zierlichen Hals herabströmten, die blendende Stirne, das sinnige, blaue Auge, dem die langen, dunkeln Wimpern und die schöngeschwungenen Bogen der Brau’n einen eigentümlichen Reiz gaben, der kleine, rote Mund, die zarte Farbe ihrer Wangen, dies alles, überstrahlt von dem Lichte, das sie in der Hand hielt, bewirkte, daß Georg glaubte, [273] die Geliebte nie so reizend gesehen zu haben, als in diesem Augenblick, wo der Kontrast gegen die scharfen, kräftigen Formen des Mannes, der neben ihr stand, ihr zartes, liebliches Wesen noch mehr hervorhob.
Der nächtliche Gast half mit beinahe übermenschlicher Kraft dem alten Pförtner die Brücke wieder aufziehen. Dann zog sich der Alte zurück und Georg vernahm folgendes Gespräch:
„Ist Nachricht da von Tübingen? Ist Marx Stumpf zurück? Ich lese Unglück in Euren Mienen!“
„Nein, Herr, er ist noch nicht zurück“, sagte Marie, „der Vater erwartet ihn aber noch diese Nacht.“
„Daß ihm der Teufel Füße mache! Ich muß warten, bis er kommt, und sollte es Tag darüber werden. – Hu! eine kalte Nacht, Fräulein“, sagte der Geächtete, „meine Schuhu und Käuzlein in der Nebelhöhle muß es auch gewaltig frieren, denn sie schrieen und jammerten in kläglichen Tönen, als ich heraufstieg.“
„Ja, es ist kalt“, antwortete sie, „um keinen Preis möchte ich mit Euch hinabsteigen; und wie schauerlich muß es sein, wenn die Käuzlein schreien; mir graut, wenn ich nur daran denke.“
„Wenn Junker Georg Euch begleitete, ginget Ihr doch mit“, erwiderte jener lächelnd, indem er das errötende Gesicht des Mädchens am Kinn ein wenig in die Höhe hob; „nicht wahr, mit dem ginget Ihr in die Hölle? Was das für eine Liebe sein muß! Weiß Gott, Euer Mund ist ganz wund; nein, gar zu arg müßt Ihr es doch nicht machen mit Küssen.“
„Ach, Herr!“ flüsterte Marie, indem sich aufs neue eine dunkle Röte über die zarten Wangen goß; „wie mögt Ihr nur so sprechen. Wißt Ihr, daß ich gar nicht mehr herabkomme, Euch gar nicht mehr koche, wenn Ihr so von mir und dem Junker denket?“
„Nun, einen Scherz müßt Ihr mir schon gelten lassen“, sagte der Ritter und kniff sie in die errötenden Wangen, „ich habe ja in meiner Behausung da unten so wenig Zeit und Gelegenheit zum Scherzen. Aber was gebt Ihr mir, wenn ich für den Junker ein gutes Wort einlege beim Vater, daß er ihn Euch zum Mann [274] gibt? Ihr wißt, der Alte thut, was ich haben will, und wenn ich ihm einen Schwiegersohn empfehle, nimmt er ihn unbesehen.“
Marie schlug die schönen Augen auf und sah ihn mit freundlichen Blicken an. „Gnädigster Herr“, antwortete sie, „ich will es Euch nicht wehren, wenn Ihr für Georg ein gutes Wort sprechet; übrigens ist ihm der Vater schon sehr gewogen.“
„Ich frage, was ich für ein gutes Wort bekomme, alles hat seinen Preis; nun, was wird mir dafür?“
Marie schlug die Augen nieder. „Ein schöner Dank“, sagte sie; „aber kommt, Herr, der Vater wird schon längst auf uns warten.“
Sie wollte vorangehen, der Geächtete aber ergriff ihre Hand und hielt sie auf. Georgs Herz pochte beinahe hörbar, es wurde ihm bald heiß, bald kalt, er faßte den Thorflügel und wäre nahe daran gewesen, diese Fürsprache um einen fixen Preis zu verbitten.
„Warum so eilig?“ hörte er den Mann der Höhle sagen; „nun, sei es um ein Küßchen, so will ich loben und preisen, daß dein Vater sogleich den Pfaffen holen läßt, um das heilige Sakrament der Ehe an euch zu vollziehen.“ Er senkte sein Haupt gegen Marie herab, Georg schwindelte es vor den Augen, er war im Begriff, aus seinem Hinterhalt hervorzubrechen. Das Fräulein aber sah jenen Mann mit einem strafenden Blicke an. „Das kann unmöglich Euer Gnaden Ernst sein“, sagte sie, „sonst hättet Ihr mich zum letztenmal gesehen.“
„Wenn Ihr wüßtet, wie erhaben und schön Euch dieser Trotz steht“, sagte der Ritter mit unerschütterlicher Freundlichkeit, „Ihr ginget den ganzen Tag im Zorn und in der Wut umher. Übrigens habt Ihr recht, wenn man schon einen andern so tief im Herzen hat, darf man keine solche Gunst mehr ausspenden. Aber feurige Kohlen will ich auf Euer Haupt sammeln, ich will dennoch den Fürsprecher machen. Und an Eurem Hochzeittag will ich bei Eurem Liebsten um einen Kuß anhalten, dann wollen wir sehen, wer recht behält.“
„Das könnet Ihr!“ sagte Marie, indem sie ihm lächelnd ihre Hand entzog und mit dem Licht voranging; „aber machet Euch immer auf eine abschlägige Antwort gefaßt, denn über diesen Punkt spaßt er nicht gerne.“
[275] „Ja, er ist verdammt eifersüchtig“, entgegnete der Ritter im Weiterschreiten; „ich könnte Euch davon eine Geschichte erzählen, die mir selbst mit ihm begegnet ist; aber ich habe versprochen, zu schweigen.“
Ihre Stimmen entfernten sich immer mehr und wurden undeutlicher. Georg schöpfte wieder freier Atem. Er lauschte und harrte noch in seiner Nische, bis er niemand mehr auf den Treppen und Gängen hörte. Dann verließ er seinen Platz und schlich nach seiner Kammer zurück. Die letzten Worte Mariens und des Geächteten lagen noch in seinen Ohren. Er schämte sich seiner Eifersucht, die ihn auch in dieser Nacht wieder unwillkürlich hingerissen hatte. Wenn er bedachte, in welch unwürdigem Verdacht er die Geliebte gehabt und wie rein sie in diesem Augenblick vor ihm gestanden sei! Er verbarg sein errötendes Gesicht tief in den Kissen, und erst spät entführte ihn der Schlummer diesen quälenden Gedanken.
Als er am andern Morgen in die Herrenstube hinabging, wo sich um sieben Uhr gewöhnlich die Familie zum Frühstück versammelte, kam ihm Marie mit verweinten Augen entgegen. Sie führte ihn auf die Seite und flüsterte ihm zu: „Tritt leise ein, Georg! der Ritter aus der Höhle ist im Zimmer; er ist vor einer Stunde ein wenig eingeschlummert; wir wollen ihm diese Ruhe gönnen!“
„Der Geächtete?“ fragte Georg staunend, „wie kann er es wagen, noch bei Tag hier zu sein? Ist er krank geworden?“
„Nein!“ antwortete Marie, indem von neuem Thränen in ihren Wimpern hingen; „nein! es muß in dieser Stunde noch ein Bote von Tübingen anlangen und diesen will er erwarten. Wir haben ihn gebeten, beschworen, er möchte doch vor Tag hinabgehen, er hat nicht darauf gehört; hier will er ihn erwarten.“
„Aber könnte denn der Bote nicht auch in die Höhle hinabkommen?“ warf Georg ein, „er setzt sich ja umsonst dieser Gefahr aus.“
„Ach, du kennst ihn nicht, das ist sein Trotz, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, so geht er nicht mehr davon [276] ab, und nur zu leicht wird er mißtrauisch; deswegen konnten wir ihm nicht sehr zureden, wegzugehen, er hätte glauben können, wir thun es nur wegen uns. Sein Hauptgrund, zu bleiben, ist, daß er sich gleich mit dem Vater beraten will, sobald er Nachricht bekommt.“
Sie waren während dieser Reden an die Thüre der Herrenstube gekommen, Marie schloß so leise als möglich auf und trat mit Georg ein.
Die Herrenstube unterschied sich von dem großen Gemach im oberen Stock nur dadurch, daß sie kleiner war. Auch sie hatte die Aussicht nach drei Seiten, durch Fenster mit kleinen runden Scheiben, durch welche sich die Morgensonne in vielfarbigen Strahlen brach. Decke und Wände umzog ein Getäfer von schwarzbraunem Holz mit farbigen Hölzern kunstreich ausgelegt. Einige Ahnenbilder der Lichtensteiner schmückten die Wand, welche kein Fenster hatte, und Tische und Gerätschaften zeigten, daß der Ritter von Lichtenstein ein Freund alter Sitten und Zeiten sei und seinen Hausrat, wie er ihn vom Großvater empfangen hatte, auch auf die Tochter vererben wolle. Vor einem großen Tisch in der Mitte des Zimmers saß der Herr des Schlosses. Er hatte sein Kinn und den langen Bart auf die Hand gestützt und schaute finster und regungslos in einen Becher, der vor ihm stand. Die Weinkannen und Deckelkrüge auf dem Tisch, der Becher vor dem alten Herrn machte, daß man ungewiß war, ob er die Nacht beim Becher zugebracht habe oder ob er so frühe am Tage sich durch einen guten Trunk Kräfte sammeln wolle.
Er grüßte seinen jungen Gast, als dieser an den Tisch zu ihm getreten war, durch ein leichtes Neigen des Hauptes, indem ein kaum bemerkliches Lächeln um seinen Mund zog. Er wies auf einen Becher und an einen Stuhl zu seiner Seite; Marie verstand den Wink, schenkte einen Becher voll und kredenzte ihn dem Geliebten mit jener holden Anmut, die allem, was sie that, einen eigentümlichen Stempel aufdrückte. Georg setzte sich an die Seite des Alten und trank.
Dieser rückte ihm näher und flüsterte ihm mit heiserer Stimme zu: „Ich fürchte, es steht schlimm!“
[277] „Habt Ihr Nachricht?“ fragte Georg ebenso heimlich.
„Ein Bauer sagte mir heute frühe, gestern abend haben die Tübinger mit dem Bunde gehandelt.“
„Gott im Himmel!“ rief Georg unwillkürlich aus.
„Seid still und weckt ihn nicht! er wird es nur zu frühe erfahren“, entgegnete ihm jener, indem er auf die andere Seite der Stube deutete.
Georg sah dorthin. An einem Fenster der Seite, die gegen den jähen Abgrund liegt, saß der geächtete Mann. Er hatte den Arm auf den Sims gestützt, die sorgenvolle Stirne, das von Wachen müde Auge lag in der tapferen Hand – – er schlummerte. Sein grauer Mantel war über die Schulter herabgefallen und ließ ein abgetragenes, unscheinbares Lederkoller sehen, in das die kräftige Gestalt gehüllt war. Sein krauses Haar fiel nachlässig um die Schläfe, und einige Büsche des gerollten Bartes quollen unter der Hand hervor.
Zu seinen Füßen lag sein großer Hund; er hatte seinen Kopf auf den Fuß seines Herrn gelegt, seine treuen Augen hingen teilnehmend an dem Haupt des Geächteten.
„Er schläft“, sagte der Alte und zerdrückte eine Thräne in den Augen; „die Natur fordert die Schuld an dem Körper und umhüllt die Seele mit einem wohlthätigen Schleier. Er atmet leicht; o, daß es beruhigende Träume wären, die ihm vorschweben; die Wirklichkeit ist so traurig, wer sollte ihm nicht wünschen, daß er sie im Traume vergißt!“
„Es ist ein hartes Schicksal!“ erwiderte Georg, indem er wehmütig auf den Schlafenden blickte. „Vertrieben von Haus und Hof, geächtet, in die Wüste hinausgejagt! Sein Leben jedem Buben preisgegeben, der in der Ferne seinen Bolz auf ihn anlegt; bei Tag unter der Erde, bei Nacht wie ein Dieb umherschleichen zu müssen; wahrlich es ist hart! Und dies alles, weil er seinem Herrn treu war und jene Bündler nach seinen Gütern gelüsteten.“
„Der Mann dort hat manches verfehlt in seinem Leben“, sprach der Ritter von Lichtenstein mit tiefem Ernst; „ich habe ihn beobachtet seit den Tagen seiner Kindheit bis zu dieser Stunde; ich kann ihm das Zeugnis geben, er hat das Gute und Rechte [278] gewollt. Zuweilen waren die Mittel falsch, die er anwandte, zuweilen verstand man ihn nicht, zuweilen ließ er sich von der Hitze der Leidenschaft hinreißen – aber wo lebt der Mensch, von dem man dies nicht sagen könnte. Und wahrlich, er hat es grausam gebüßt!“ Er hielt inne, als hätte er schon mehr gesagt, als er sagen wollte, und umsonst suchte Georg über den Vertriebenen mehr zu erfahren. Der Alte versank in Stillschweigen und tiefes Sinnen.
Die Sonne war über die Berge heraufgekommen, die Nebel fielen, Georg trat ans Fenster, die herrliche Aussicht zu genießen. Unter dem Felsen von Lichtenstein, wohl dreihundert Klafter tief, breitet sich ein liebliches Thal aus, begrenzt von waldigen Höhen, durchschnitten von einem eilenden Waldbach, drei Dörfer liegen freundlich in der Tiefe; dem Auge, das in dieses Thal hinabsieht, ist es, als schaue es aus dem Himmel auf die Erde. Steigt das Auge vom tiefen Thale aufwärts an den waldigen Höhen, so begegnet es malerisch gruppierten Felsen und den Bergen der Alb, hinter dem Bergrücken steigt die Burg Achalm hervor und begrenzt die Aussicht in der Nähe. Aber vorbei an den Mauern von Achalm dringt rechts und links das Auge tiefer ins Land. Der Lichtenstein liegt den Wolken so nahe, daß er Württemberg überragt. Bis hinab ins tiefste Unterland können frei und ungehindert die Blicke streifen. Entzückend ist der Anblick, wenn die Morgensonne ihre schrägen Strahlen über Württemberg sendet. Da breiten sich diese herrlichen Gefilde wie ein bunter Teppich vor dem Auge aus; in dunklem Grün, in kräftigem Braun der Berge beginnt es, alle Farben und Schattierungen sind in diesem wundervollen Gewebe, das in lichtem Blau sich endlich mit der Morgenröte verschmilzt. Welche Ferne von Lichtenstein bis Asperg und welches Land dazwischen! Es ist kein Flachland, keine Ebene; viele Strömungen von Hügeln und Bergen ziehen sich hinauf und herunter, und von Hügeln zu Hügeln, welche breite Thäler und Ströme in ihrem Schoße bergen, hüpft das Auge zu dem fernen Horizont.
Georg betrachtete bewundernd; er strengte seine Augen mehr und mehr an, er suchte in die Weite zu dringen und jedes Schloß, [279] jedes Dorf auf der weiten Aussicht zu unterscheiden. Marie stand neben ihm; sie teilte seine Bewunderung, obgleich sie seit ihrer frühesten Kindheit dieses Schauspiel genossen. Sie zeigte ihm flüsternd jeden Fleck, sie wußte ihm jede Turmspitze zu nennen. „Wo ist eine Stelle in teutschen Landen“, sprach Georg, in diesen Anblick versunken, „die sich mit dieser messen könnte! Ich habe Ebenen gesehen und Höhen erstiegen, von wo das Auge noch weiter dringt, aber diese lieblichen Gefilde zeigen sie nicht. So reiche Saaten, Wälder von Obst, und dort unten, wo die Hügel bläulicher werden, ein Garten von Wein! Ich habe noch keinen Fürsten beneidet, aber hier stehen zu können, hinauszublicken von dieser Höhe und sagen zu können, diese Gefilde sind mein!“
Ein tiefer Seufzer in ihrer Nähe schreckte Marien und Georg aus ihren Betrachtungen auf. Sie sahen sich um, wenige Schritte von ihnen stand im Fenster der Geächtete und blickte mit trunkenen, glänzenden Blicken über das Land hin, und Georg war ungewiß, ob jene Worte oder das Andenken an sein Unglück die Brust dieses Mannes bewegt hatten.
Er begrüßte Georg und reichte ihm die Hand. Dann wandte er sich zu dem Herrn des Schlosses und fragte, ob noch immer keine Botschaft da sei. „Der von Schweinsberg ist noch nicht zurück“, antwortete dieser.
Der Geächtete trat schweigend an das Fenster zurück und schaute in die Ferne. Marie füllte ihm einen Becher. „Seid getrosten Mutes, Herr“, sagte sie, „schauet nicht mit so finsteren Blicken auf das Land. Trinket von diesem Wein, er ist gut württembergisch und wächst dort unten an jenen blauen Bergen.“
„Wie kann man traurig bleiben“, antwortete er, indem er sich wehmütig lächelnd zu Georg wandte, „wenn über Württemberg die Sonne so schön aufgeht und aus den Augen einer Württembergerin ein so milder, blauer Himmel lacht. Nicht wahr, Junker, was sind diese Berge und Thäler, wenn uns solche Augen, solche treue Herzen bleiben? Nehmt Euren Becher und laßt uns darauf trinken! Solange wir Land besitzen in den Herzen, ist nichts verloren: Hie gut Württemberg allezeit“[Hauff 1].
„Hie gut Württemberg allezeit“, erwiderte Georg und stieß [280] an. Der Geächtete wollte noch etwas hinzusetzen, als der alte Burgwart mit wichtiger Miene hereintrat. „Es sind zwei Krämer vor der Burg“, meldete er, „und begehren Einlaß.“
„Sie sind’s, sie sind’s“, riefen in einem Augenblick der Geächtete und Lichtenstein. „Führ sie herauf.“
Der alte Diener entfernte sich; eine bange Minute folgte dieser Meldung; alle schwiegen, der Ritter von Lichtenstein schien mit seinen feurigen Augen die Thüre durchbohren, der Geächtete seine Unruhe verbergen zu wollen, aber die schnelle Röte und Blässe, die auf seinen ausdrucksvollen Zügen wechselte, zeigten, wie die Erwartung dessen, was er hören werde, sein ganzes Wesen in Aufruhr brachte. Endlich vernahm man Schritte auf der Treppe, sie näherten sich dem Gemach; der gewaltige Mann zitterte, daß er sich am Tisch halten mußte, seine Brust war vorgebeugt, sein Auge hing starr an der Thüre, als wolle er in den Mienen des Kommenden sogleich Glück oder Unglück lesen – jetzt ging die Thüre auf.
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