Landstreicherleben/Die Briefe aus Jerusalem
Erschöpft von Mißhandlungen aller Art, erschöpft von einer Überwachung, die seit meiner Verurteilung noch verdoppelt wurde, hütete ich mich wohl, Berufung einzulegen – ich hätte dann noch einige Monate länger im Untersuchungsgefängnis bleiben müssen. Was mich in meinem Entschluß noch bestärkte, war die Nachricht, daß die Verurteilten sofort nach Bicêtre abgeführt werden und von dort dem Hauptschub für das Zuchthaus zu Brest angegliedert werden sollten. Ich brauche wohl nicht erst bemerken, daß ich unterwegs zu flüchten hoffte.
Der Befehl zur Abfahrt traf endlich ein und wurde, was man von Menschen, die ins Bagno gehen, kaum glauben kann, mit Enthusiasmus aufgenommen, – so sehr waren alle von den Quälereien des Aufsehers Martin mürbe gemacht. Aber unsere neue Lage war nicht weniger als angenehm. Der Häscher Hurtrel, der uns begleitete, hatte Fesseln eines neuen Systems herstellen lassen: an jedem Bein trugen wir eine Kugel von fünfzehn Pfund, durch dicke Armringe wurden je zwei und zwei Mann aneinandergeschlossen. Es war demnach unmöglich, durch Geschicklichkeit zu entkommen zu trachten. Nur ein Gesamtüberfall konnte uns retten. Ich machte den Vorschlag. Meine vierzehn Gefährten nahmen ihn an, und es wurde verabredet, daß im Walde von Compiègne der Plan verwirklicht werden sollte. Desfosseux war auch mit im Zug; mit Hilfe der Feilen, die er immer noch im Darm trug, waren innerhalb von drei [120] Tagen die Ketten durchsägt, eine Kittschicht verbarg die Spuren der Feile vor den Augen der Wächter.
Wir treten in den Wald ein. An einer bestimmten Stelle ertönt das Signal, die Ketten fallen, wir springen aus den Wagen, in denen wir eingepfercht sind, und gewinnen das Freie. Aber die fünf Gendarmen und acht Dragoner, die unsere Eskorte bilden, verfolgen uns, mit dem Säbel in der Hand. Wir verschanzen uns hinter den Bäumen, mit Steinen bewaffnet, die wir vom Wege auflesen, und einigen Waffen, die wir im ersten Moment der Verwirrung an uns gerissen haben. Die Soldaten zögern einen Augenblick, aber da sie gut bewaffnet und zu Pferde sind, so ermannen sie sich bald. Auf den ersten Schuß fallen zwei von uns tot hin, fünf sind schwer verwundet, und die übrigen werfen sich auf die Knie und bitten um Gnade. Wir mußten uns also ergeben. Desfosseux, ich und einige andere, die sich noch hielten, bestiegen wieder den Karren. Hurtrel, der in respektvoller Entfernung vom Scharmützel gestanden hatte, lief jetzt auf einen der Unglücklichen zu, der ihm nicht schnell genug ging, und versetzte ihm einen Säbelhieb in den Rücken. Eine solche Niedertracht empörte uns. Die Arrestanten, die ihre Plätze noch nicht wieder eingenommen hatten, ergriffen wieder Steine, und ohne die Dragoner wäre Hurtrel totgeschlagen worden. Dieser Vorfall machte den Quälereien Hurtrels ein Ende: von nun an näherte er sich uns nur noch zitternd.
In Senlis brachte man uns in ein Untersuchungsgefängnis, das zu den widerwärtigsten gehörte, die ich kenne. Da der Aufseher zugleich das Amt eines Feldhüters versah, so wurde das Haus von seiner Frau verwaltet, und was für einer Frau! Da wir besonderer Obhut empfohlen waren, suchte sie an uns die verborgensten Stellen ab, um sich zu überzeugen, daß wir nichts hätten, das einer Flucht dienen könnte. Einmal waren wir gerade dabei, die Mauern abzutasten, als wir eine heisere Stimme schreien hörten. „Bande! Wenn ich erst mit meiner [121] Peitsche komme, werdet ihr schon lernen, euch ruhig zu verhalten!“ Wir ließen uns das nicht zweimal sagen, und man verhielt sich schön still. Am nächsten Tage kamen wir in Paris an, man führte uns die äußeren Boulevards entlang, und um vier Uhr nachmittags standen wir vor dem Gefängnis Bicêtre.
„Da sind wir nun,“ sagte Desfosseux, der an meiner Seite saß. „Siehst du das viereckige Gebäude? … Das ist das Gefängnis.“
Man ließ uns an einer Tür absteigen, vor der eine Schildwache stand. In der Kanzlei wurden wir nun registriert, unser Signalement sollte erst am nächsten Tage aufgenommen werden. Ich bemerkte jedoch, daß der Aufseher mich und Desfosseux mit besonderer Neugier ansah und schloß daraus, daß wir von Hurtrel bereits empfohlen waren: seit der Geschichte im Walde von Compiègne fuhr er uns stets eine Viertelstunde voraus.
Türen, die doppelt mit Eisen beschlagen waren, öffneten sich, und wir wurden auf einen großen, viereckigen Hof geführt, wo etwa sechzig Gefangene Barlauf spielten; sie schrien dabei so, daß das Haus dröhnte. Bei unserem Erscheinen wurde das Spiel unterbrochen, alle umringten uns, und besahen überrascht die Ketten, die wir anhatten. Desfosseux, der hier wie zu Hause war, stellte uns als die tüchtigsten Kerle des ganzen Departements vor.
Sobald man uns der Fesseln entledigt hatte, wurde ich in die Kantine geschleift. In zwei Stunden hatte ich tausend Einladungen zu genügen. Aber da kam ein großer Mann in Polizeimütze, der Saalinspektor, und führte mich in einen weiten Raum, der „Fort-Mahon“ genannt wurde. Hier zogen wir die Hauskleidung an, die aus einem halb schwarzen und halb grauen Anzug bestand. Der Inspektor sagte mir, ich sei zum Brigadier ernannt, das heißt, ich hätte die Austeilung der Lebensmittel zu besorgen. Ich bekam infolgedessen auch ein [122] ziemlich gutes Bett, während die anderen auf Feldbetten schliefen.
Zu jener Zeit mochte das Gefängnis Bicêtre, das eine besonders scharfe Bewachung hatte, etwa zwölfhundert Gefangene zählen. Sie waren furchtbar zusammengepfercht, und die Haltung der Wärter war nicht dazu angetan, das Schreckliche ihrer Lage zu mildern: wütende Gesichter, barsche Stimmen, grobe Reden. Sie taten stets so, als sei der Gefangene ihr Todfeind, aber eine Flasche Wein oder ein Taler besänftigte sie bald. Sie ließen schließlich jede Ausschweifung, jedes Laster zu, und wenn man nur keinen Fluchtversuch machte, konnte man im Gefängnis alles tun, was man wollte. So machten die Personen, die wegen Sittlichkeitsverbrechens eingesperrt waren, im Gefängnis die hohe Schule des Lasters durch, und die Diebe trieben im Gefängnis selbst ihr Gewerbe weiter, ohne daß je ein Aufseher Anzeige darüber erstattet hätte.
Kam aus der Provinz ein Mann in guter Kleidung an, der zum erstenmal eine Strafe verbüßte und noch nicht in die Sitten und Bräuche des Gefängnisses eingeweiht war, so riß man ihm im Nu seine Kleider vom Leibe, und verkaufte sie ruhig in seiner Gegenwart an den Meistbietenden. Hatte er Schmuck oder Geld bei sich, so ging’s dem ebenso, und wenn es zu lange dauerte, die Ohrringe von den Ohren loszumachen, so riß man sie mitsamt dem Ohrläppchen ab. Der Betroffene wagte aber nicht, das anzuzeigen. Man warnte ihn im voraus, daß man ihn dann in der Nacht an den Pfosten seiner Zelle aufknüpfen würde.
Das waren aber nicht die einzigen Mißstände – es gab noch viel schrecklichere. Die Unverschämtheit der Diebe und die Verworfenheit der Aufseher ging so weit, daß man im Gefängnis ganz offen Prellereien und Spitzbübereien vorbereitete, die dann außerhalb des Gefängnisses ausgeführt wurden. Ich will nur eine dieser Machinationen schildern; sie wird genügen, [123] um einen Begriff von der Leichtgläubigkeit der Düpierten und der Schamlosigkeit der Gauner zu geben.
Die Gefängnisinsassen verschafften sich die Adressen von reichen Provinzlern, was ja beim ständigen Zufluß von Arrestanten nicht schwer war, und richteten dann an sie Briefe, die im Gaunerjargon „Briefe aus Jerusalem“ genannt wurden. Die Briefe hatten ungefähr folgenden Inhalt:
Sie werden gewiß erstaunt sein, diesen Brief von einem Ihnen Unbekannten zu erhalten, der Sie um einen Gefallen bittet; aber in der traurigen Lage, in der ich mich befinde, wäre ich verloren, wenn edelmütige Menschen mir nicht zu Hilfe kämen. Ich wende mich an Sie, denn man hat mir so viel Gutes von Ihnen erzählt, daß ich keinen Augenblick zögere, mich Ihnen anzuvertrauen.
Ich war Kammerdiener beim Marquis X. und emigrierte mit ihm. Um keinen Verdacht zu erwecken, wanderten wir zu Fuß; ich trug das Gepäck, unter dem sich eine Kassette mit sechzehntausend Franken in Gold, und den Diamanten der seligen Frau Marquise befand. Wir hatten beinah die Armee von … erreicht, als Steckbriefe zu unserer Verfolgung erlassen wurden. Als der Herr Marquis merkte, in welcher Gefahr wir waren, hieß er mich die Kassette in einem tiefen Moor verstecken, damit wir nicht erkannt würden, falls man uns anhalten sollte. Ich wollte in der folgenden Nacht zurückkehren, um die Kassette zu holen, aber die Bauern, die sich beim Geläut der Sturmglocke des Abteilungskommandanten zusammenrotteten, überfielen das Gehölz, in dem wir lagen, so daß wir nur an Flucht denken konnten. Als wir im Ausland ankamen, erhielt der Herr Marquis einige Unterstützung vom Prinzen Y., aber diese Quelle versiegte bald, und er beschloß, mich die Kassette holen zu lassen, die im Moor verborgen lag. Ich zweifelte keinen Augenblick, daß ich sie wiederfinden würde, um so mehr, [124] da ich an dem Tage, nachdem ich sie verborgen hatte, aus dem Gedächtnis einen Plan der Gegend aufzeichnete, für den Fall, daß wir lange nicht wieder hinkommen sollten.
Ich machte mich also auf den Weg, kam in Frankreich an und erreichte ohne Zwischenfälle das Dorf, das sich in der Nähe des betreffenden Waldes findet. Sie kennen sicher dieses Dorf, da es sich dreiviertel Meile von Ihrer Besitzung befindet. Ich rüstete mich schon, meinen Auftrag zu erfüllen. Aber der Gastwirt, bei dem ich logierte, war ein wütender Jakobiner; er hatte meine Verlegenheit bemerkt, als er mich aufforderte, auf das Wohl der Republik zu trinken. Er ließ mich als verdächtigtes Individuum verhaften. Da ich keinen Ausweis besaß, und zudem das Unglück hatte, einer Person zu ähneln, die wegen Postüberfalls gesucht wurde, so schleppte man mich aus einem Gefängnis ins andere, um mich mit meinen angeblichen Komplicen zu konfrontieren.
So bin ich nach Bicêtre gelangt, wo ich seit zwei Monaten in Haft sitze.
In dieser entsetzlichen Lage erinnerte ich mich, daß einmal eine Verwandte meines Herrn, die in Ihrer Gegend ein Gut besaß, Ihren Namen genannt hatte. Ich bitte Sie nun dringend, mir umgehend mitzuteilen, ob Sie mir den Dienst erweisen würden, die Kassette zu heben und mir einen Teil des darin enthaltenen Geldes zu übersenden. Ich könnte dann meinen dringendsten Bedürfnissen abhelfen und meinen Anwalt bezahlen, der mir versichert, daß ich mich mit einer kleinen Summe aus der Affäre ziehen könnte.
Von hundert Briefen dieser Art wurden immer etwa zwanzig beantwortet. Der biedere Provinzmann schrieb, daß er den Schatz gerne heben wolle. Darauf folgte ein neues Schreiben von dem angeblichen Kammerdiener, des Inhalts, daß er in
[125] äußerster Not gezwungen gewesen wäre, die Kiste, in deren Doppelboden der betreffende Plan sich befände, bei dem Gefängniswärter für eine geringe Summe zu versetzen. Sofort kam das Geld, man erhielt auf diese Art Summen von zwölf- bis fünfzehnhundert Franken. Manche Personen, die es besonders schlau anfangen wollten, kamen sogar selbst tief aus dem Schoße der Provinz nach Bicêtre und hier wurde ihnen der Plan des Waldes ausgehändigt, der wie die phantastischen Wälder in den Ritterromanen ewig vor ihnen zurückweichen sollte. Selbst Pariser gingen in die Schlinge. Man wird sich noch des Tuchhändlers aus der Rue des Prouvaires erinnern, der dabei ertappt wurde, wie er die Brückenbogen von Pont-Neuf untergrub, weil er da unten die Diamanten der Herzogin von Bouillon zu finden hoffte.
Ich selbst hatte nur einen Gedanken: dem Zuchthause entfliehen, einen Seehafen erreichen und mich einschiffen! Ich dachte Tag und Nacht über die Mittel nach, aus Bicêtre zu entkommen. Endlich fiel mir ein, daß man durch einen Durchbruch des Fußbodens im Fort Mahon in die Wasserleitungsrohre, und von da durch einen kurzen unterirdischen Gang in die Irrenabteilung gelangen könne, und von dort konnte es nicht schwer sein, hinauszukommen. Dieser Plan wurde auch innerhalb von zehn Tagen und ebenso vielen Nächten ausgeführt.
Endlich, am 13. Oktober 1797, um zwei Uhr morgens stiegen wir, vierunddreißig Mann, in das Wasserleitungsrohr. Wir sind mit mehreren Blendlaternen versehen, und haben auch bald einen unterirdischen Gang gebohrt, durch den wir in den Hof des Irrenhauses gelangen. Nun handelt es sich nur noch darum, eine Leiter zu finden, oder irgend etwas, mit dem man über die Mauern kann. Endlich kommt uns eine lange Stange in die Hände, wir losen, wer zuerst hinaufklettern soll – aber da wird die Stille der Nacht von einem Kettengerassel unterbrochen. [126] Aus einer Nische in einer Ecke des Hofes kommt ein Hund zum Vorschein. Wir bleiben unbeweglich, verhalten den Atem, denn der Moment ist entscheidend. Das Tier gähnt, reckt sich, als wenn es seinen Platz ändern wollte, und scheint in seine Nische zurückzukehren. Wir hielten uns schon für gerettet. Aber plötzlich dreht er den Kopf nach der Seite, wo wir zusammengedrängt stehen, und sieht uns mit Augen an, die zwei glühenden Kohlen gleichen. Auf ein dumpfes Knurren folgt ein lautes Gebell, von dem das Haus nur so dröhnt. Desfosseux wollte zuerst versuchen, dem Kläffer den Hals umzudrehen, aber das verfluchte Biest war von einer Größe, die den Erfolg dieses Kampfes sehr zweifelhaft machte. Es schien uns das klügste zu sein, uns in einer offenen Baracke zusammenzukauern, die als Speiseraum der Irrsinnigen diente. Aber der Hund setzte sein Konzert fort, bald stimmten andere Hunde mit ein, und es entstand ein solcher Heidenlärm, daß der Saalinspektor Giroux merkte, es müsse etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein. Da er seine Leute kannte, sah er zuerst nach dem Fort-Mahon; er wollte beinahe umfallen, als er hier niemanden fand. Auf sein Geschrei lief alles herbei: der Pförtner, die Schließer, die Wache. Bald hatte man den Weg entdeckt, den wir genommen hatten. Man bediente sich dieses Weges, um in den Hof des Irrenhauses zu gelangen, und hier lief der Hund, von seiner Kette losgemacht, sofort auf uns zu. Die Wache überfiel den Raum, in dem wir uns befanden, mit gekreuztem Bajonett, also ob es gälte, eine Schanze zu erstürmen. Man legte uns Handschellen an – das galt stets als Vorspiel zu wichtigen Begebenheiten in unserem Gefängnis. Dann wurden wir nicht mehr auf Fort-Mahon zurückgeführt, sondern in den Kerker geworfen. Aber man mißhandelte uns nicht.