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Land und Leute/Nr. 40. Die höchste Stadt im Reich

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Textdaten
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Autor: Theodor Gampe
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Titel: Die höchste Stadt im Reich
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 182–185
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Reisebericht aus der Artikelserie Land und Leute, Nr. 40
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[185]

Oberwiesenthal im sächsischen Erzgebirge.
Zeichnung von H. Heubner.
Nach photographischen Aufnahmen von Louis Herrmann in Oberwiesenthal.

[182]
Land und Leute.


Nr. 40. Die höchste Stadt im Reich.


Das Aschenbrödel unter den deutschen Gebirgen, das sächsische Erzgebirge, trägt die höchste Stadt im Reich auf seinem Scheitel. Dicht an der Grenze des reichen Böhmerlandes, da wo sich der Fichtelberg und der Keilberg wie zwei Riesengräber über das Kammplateau erheben, umgeben von rauhen Schönheiten und selbst eine rauhe Schönheit, liegt an den Gehängen des mächtigen Bergstocks das Bergstädtchen Oberwiesenthal, vom Volksmund kurz das Wiesenthal genannt. Der Ackerbauer hätte wohl nie an dieser Stätte den Pflug eingesetzt, um sie zu colonisiren; was fragt aber der Bergmann nach dauernden Lebensbedingungen? Er gründet Städte, unbekümmert um ihr ferneres Schicksal; wenn der Bergsegen auf die Neige geht, wandert er lustig weiter, wie es der Goldsucher noch heute im fernen Westen thut. So sind im höheren Erzgebirge eine ganze Anzahl Ortschaften entstanden, die wehmüthig der verschütteten Bergzechen gedenken und verlassen auf ihrer Scholle stehen, die sie nicht ernähren kann. Nur angestrengteste Arbeit, Genügsamkeit und ein harter Kampf mit der Natur konnte die künstlich hervorgerufene Existenz solcher Städte und Orte zu einer dauernden gestalten. Dieser Orte höchstgelegener ist die Stadt Oberwiesenthal, und in ihr tritt denn auch der Kampf um’s Dasein in den härteste Formen auf.[1] Wer die höchste Stadt im deutschen Reiche besuchen will, der muß sich entschließen, bei der böhmischen Stadt Weipert die Bahn zu verlassen und sein [183] Ziel zu Fuß zu erstreben; denn dort, drei Stunden von Oberwiesenthal entfernt, wendet sich der Schienenweg über das niedrige Kammplateau und umgeht somit diesen Ort.

Eine echte und gerechte Berg- und Waldluft weht uns an, sobald wir auf dem sogenannten Vierensteig die großen Wiesenthaler Forste betreten haben. Der landschaftliche Wechsel ist nicht reich, die ernste Eintönigkeit des Nadelwaldes wird selten durch eine Lichtung, nie aber durch eine Laubholzgruppe unterbrochen. Eine fortwährend neue Anregung gewähren die Fichten, sofern man in ihrer eigenartigen Zeichensprache ein wenig Studien getrieben. Je höher wir steigen, je verkrümmter sehen wir sie ihre kümmerlichen Jahrestriebe dem kühlen Strahl der Sonne entgegenstrecken, je wehmüthiger die weißgrauen Wetterflechten wie feuchte Thränentücher herabhängen. In den höheren Beständen begegnet man keinem Baum, der nicht eine lange Leidensgeschichte von der Kargheit der Sonne oder von Unglückstagen zu berichten hätte, an denen er durch Schnee, Eisduft und Sturm Ast-, Stamm- und Wipfelbrüche erlitten.

Sobald wir den Fuß des Fichtelbergs erklommen, thut sich eine weite Lichtung auf, und mitteninne, an den Gehängen dieses 1217 Meter hohen Berges liegen die hellschimmernden Häuser des Städtchens eng zusammengeschaart, wie eine frierende Heerde. Gewiß stutzt jeder Beschauer beim ersten Anblick der Stadt; sie zeigt in ihrer Bauart keine Abweichungen, die landschaftlich mitsprechen könnten, und doch sieht sie so ganz anders aus, wie die gleich großen Städtchen im Tieflande. Man betrachtet sie, wie man einen bärtigen Freund, der vom Rasirer kommt, im ersten Augenblicke verwundert ansieht, bis man die Ursache entdeckt. Unserer Stadt fehlt die Umkleidung des Laubwerks vollständig, die den kleinen Tieflandstädten so malerisch zu Gesicht steht.

Beim Eintritte in die Gassen drängen sich uns sofort die starken Mauern der Gebäude in’s Auge. An den Giebelwänden lehnen die Schlitten, die man des lumpigen Bischen Sommers wegen nicht erst unter Dach und Fach bringt. Die Hausthüren sind weit zurück in’s Innere verlegt; Laubwerk, das den Häusern kleinerer Städte so häufig ein behagliches poetisches Ansehen verleiht, ist nicht vorhanden; dafür sind die Fenster von feuchtdunklen Flecken umrahmt, die ihnen das Ansehen verweinter Augen geben. Die Gärtchen neben den Häusern entbehren der Lauben; in geschütztem Winkel fristet hier und da ein jämmerlich verkrüppeltes Obstbäumchen ein absolut fruchtloses Dasein, und die wenigen Ziersträucher erheben ihre obersten Zweige mit rührender Schüchternheit über die Mauerköpfe empor, als traueten sie dem Landfrieden nicht. Auf dem Kirchhofe, der die neue, stattliche Kirche umgiebt, liegt die Pietät im harten Zwiespalte mit der Natur. Die wenigen Rosenstöcke, die zum Blühen gelangen, öffnen ihre Knospen erst im Herbste, und nicht selten schneit’s dann hinein. Keine Spur jener dunklen, ernst stimmenden Lebensbäume der Friedhöfe im Unterlande; die Immergrün- und Sedum-Einfassungen der Gräberreihen ersetzen Moose und Wetterflechten, welche sich von selbst einfinden. Den Kränzen von Preiselbeerlaub, die sinnige Hände den stillen Schläfern auf die wahrhaft „kühle Erde“ niederlegten, sind künstliche Blumen eingefügt; lebendige sieht man selten, und dann sind es solche, die an den Fenstern gezogen werden – Fremdlinge auf der rauhen Gräberstätte.

Im Innern der Häuser zeigen sich die Thüren mit Stroh gepanzert; die Fugen sind mit Tuchstreifen ausgeschlagen; die Fenstergewände umbettet man mit Moospolstern; die Dielen finden sich häufig mit Stroh belegt. Ein bekanntes Schutzmittel, die Winterfenster, fehlen sonderbarer Weise den meisten Häusern gänzlich; wahrscheinlich blickt man zu vertrauensvoll auf die mit architektonischer Accuratesse aufgeschichteten Holzfeimen; auch haben die riesigen Kachelöfen, die sich in den älteren Häusern auf zwei gewaltigen Beinen in die Zimmer hereinschieben, etwas Beruhigendes an sich.

Ein Frühjahr im landläufigen Sinne giebt es für den Wiesenthaler nicht. Wenn der Tiefländer jauchzenden Herzens das Erwachen der Natur verfolgt, dann bessert der Wiesenthaler erst seine Schlittenbahn aus, indem er von den Schneewehen das Material für die dünneren, durchthauten Schneelagen entnimmt. Unsere Frühlingsregen sind für ihn Frühlingsschnee; unsere ersten Staubwirbel sind ihm im günstigsten Falle die letzten wirbelnden Schneeflocken. Kommt es dann zur Schneeschmelze, so schließt sich ihr der Sommer fast unmittelbar an. Die lange zurückgehaltene Keimkraft der Erbe treibt jetzt die Gräser und Saaten wie mit Zauberhänden empor, und urplötzlich steht die Stadt inmitten einer sommerlichen Landschaft.

Ein Sommertag in diesen Höhen hat nun allerdings Reize, die denen im Tiefland nie zu eigen werden. Die Luft ist von einer Klarheit, daß Entfernungen gar nicht mehr taxirbar sind. Die Umrisse, die Wellenlinien des Erdbodens treten mit einer ganz fremdartigen, scharfen Plastik vor den Beschauer, und die Farben, besonders das Grün, erscheinen so intensiv und gesättigt, daß man die Schöpfung in Verdacht haben könnte, sie habe einen Porcellanmaler zu Rathe gezogen. Diese Herren, die bekanntlich ihre Farben mit großer Entschiedenheit auftragen, würden hier das Urbild ihrer landschaftlichen Ideale wiederfinden. Und solcher Sommertage erfreut sich der Wiesenthaler gar nicht selten. Der Grund hiervon mag wohl darin liegen, daß die aufgehenden Wasserdünste erst fern von den Gebirgsstöcken sich zu Wolken zusammenballen.

Die Gewitter entladen sich stets mit einer im Tiefland ganz unbekannten Energie, und in hartnäckiger Ausdauer treiben sie es zuweilen in’s Fabelhafte. Schon ganze Tage lang hingen sie an den Bergen, wenn sie einmal die Wetterscheide des Hochkammes überschritten, und konnten sich nicht wieder besänftigen. Da blitzt es und kracht es unmittelbar über den Dächern stundenlang, indeß die Gewitterwolken durch die Gassen der Stadt dahinjagen wie ein wildes Heer, von Stürmen gepeitscht, zerspellt und zerrissen. Wer Blitz und Donner nicht scheut, kann sich ein gewaltiges Schauspiel mit ansehen, wenn er die Gehänge des Fichtelberges hinaufsteigt; er wird zwar nicht über dem Gewitter stehen, aber die Entladungen geschehen doch zumeist unter ihm, sodaß er in die kochenden und schäumenden Nebelmassen, die den Thalkessel erfüllen, von oben hineinzusehen vermag.

Die wenigen Laubbäume halten sich bis in den todten Herbst hinein grün, auch leider sehr oft das Getreide. Wenn der Tiefländer keltert oder die Obstbäume von ihren Lasten befreit, beginnt der Wiesenthaler erst mit dem Roggenschnitt, sofern eine gütige Herbstsonne die Reife herbeiführte. Im schlimmeren Falle (wie im jüngsten Jahre) muß er Hafer und Korn wohl gar grün verfüttern, wenn es ihm nicht gelingt, die Garben an den Luken seiner Scheuer zu trocknen. Den Kartoffelausnehmern müssen häufig die Schneeschaufler vorangehen. Da giebt’s denn oft eine recht frostige Ernte und nach ihr eine noch frostigere Ackerbestellung, denn der Pflug darf nicht säumen und wenn er sich seine Furchen durch den Schnee bahnen müßte.

Von den absolut trüben Tagen darf man die große Hälfte als Nebeltage bezeichnen, die fast sämmtlich auf den todten Herbst fallen. Diese sterbenskranke Jahreszeit ist zwar Niemandes Freund, aber in Wiesenthal trägt sie ganz absonderlich trübselige Züge. Da hängen oft ganze Wochen lang kalte, feuchte Nebel über der Stadt, von denen der Volksmund sagt, man könne sie in Säcke stopfen; da werfen die Oellaternen ein trauriges, dumpfes Licht in die bleigrauen Wände hinein und flimmern wie Grubenlichter in den Teufen, oder werfen graue Strahlen aus, die sich wie gespensterhafte Windmühlenflügel erst in unermessenen Höhen verlieren; da will es scheinen, als ob die Schläge der Thurmuhr aus unbekannten Regionen herniederdrängen, die den Tag verkünden, der nicht anbrechen will, oder das Scheiden des Tages, den man kaum wahrgenommen.

Sobald mit dem ersten großen Schneefall der Winter eingezogen, ist er auch auf ein gutes halbes Jahr ständig geworden, und damit hat die Jahreszeit begonnen, um die wir Tiefländer den Wiesenthaler trotz aller wilden, unbändigen Launen des gestrengen weißbärtigen Herrn beneiden dürfen. Unsere Winter sind oft nichts als todte Herbste, die mit ihrem Schnee- und Regengemisch dem Germanen, der von Urzeit her seinen soliden Winter gewöhnt ist, besser vom Halse blieben. Freilich habe ich hierbei nur die Natur-Aesthetik im Sinne; wirthschaftlich hat die frostige Tyrannei ihre schweren Gebresten.

Bei ruhiger Luft unterscheidet sich ein obererzgebirgischer Schneefall von einem solchen im Tiefland nur durch seine Ausdauer, und doch ist er ein übel angesehener Gast; bei den Forstleuten bereitet der stille Duckmäuser geradezu Schrecken. Mit heuchlerischer Ruhe streut er blind seine Flocken über die Wälder aus, als wolle er sie liebend bedecken vor Sturm und Unbill, aber er selber ist ein Vernichter der böswilligsten Art. Tief [184] unter ihm knicken und brechen Aeste, Wipfel und Stämmchen zu Hunderttausenden, sodaß junge Bestände nach der Schneeschmelze den Eindruck machen, als seien Straßenwalzen darüber hingegangen. Die Schneestürme, die namentlich gern des Nachts von dem Gebirgssattel zwischen Keil- und Fichtelberg mit rasender Gewalt hereinbrechen, sind, so wild sie sich auch geberden mögen, immer noch willkommenere Gäste, als jener stille Schleicher mit seinen gefälligen Manieren, selbst wenn sie den Schnee tagelang in horizontaler Richtung durch die Gassen treiben und in den Schornsteinen und über die Dächer hinheulen, daß dem abgehärtetsten Gebirgler im Herzen bange wird. Nach einer solchen richtigen Schneesturm-Nacht gewährt die Stadt zuweilen einen ganz seltsamen Anblick. Die Häuser tragen buchstäblich Schneemäntel. Wo nur der geringste Vorsprung Anhalt gab, bildeten sich, durch den Druck des Sturmes verdichtet, weiße, frostige Hüllen an den Wänden; die nicht verschütteten Fenster haben sich ganz hinter krystallenen Jalousien verhüllt, und selbst die Geschäftsfirmen an den Häusern zeigen sich weiß verhängt. Freilich dauert die Herrlichkeit dieser Hermelindraperien nicht lange; sobald der Druck nachläßt, blättern die Hüllen von den Wänden herab, wie die Spähne auf den Zimmerplätzen. Ein ganz unbeschreiblich schönes, seltsames Bild gewährt es aber, wenn in der Nacht der Sturm plötzlich schweigt, der Nachthimmel sich aufheitert, das Mondlicht über die erstarrten fremdartigen Gebilde seine magischen Schatten hinwirft und die flimmernden Gestirne in den Myriaden von Eiskrystallen sich widerspiegeln, sodaß die Schneeflächen aufleuchten, als hätte man Millionen von Diamanten über sie ausgesäet.

Oft aber geschieht es auch, daß durch einen Schneesturm in wenig Stunden die Straßen der Stadt halb verschüttet und unpassirbar gemacht werden; die Insassen ganzer Häuserreihen sind eingekerkert, die Zimmer in den Erdgeschossen finster wie Kellerräume. Man gräbt sich heraus oder benutzt wohl gar Fenster in den oberen Stockwerken als Hausthüren. Die alten Bestände der benachbarten Forste geben dann das seltsame Bild eines Waldes von riesengroßen Korallen, und die jüngeren, die zumeist ganz verschüttet sind, erscheinen wie ein im Sturm erstarrtes Meer; jedes Bäumchen stellt den unsichtbaren Träger einer Woge dar, dabei zeigt sich der Schnee von einer Weiße, wie sie der Städter im Tiefland nie, der Dörfler aber nur bei frischem Schneefall und strenger Kälte zu schauen bekommt; die leiseste Wirkung der Sonne nimmt ihm ja den Schmelz.

Die nunmehrigen Verkehrsbahnen außerhalb der Stadt haben mit den Richtungen der alten Straßen, soweit diese nicht ausgeschaufelt werden können, gar nichts zu thun, und häufig geschieht’s, daß ein Schlittengaul über die Wipfelzweige einer Eberesche strauchelt, auf der vor Wochen noch der Staar sein Lied gepfiffen. Für den Stadtverkehr haben diese starken Schneefälle die Schöpfung einer ganz eigenartigen Wintergarnison, der sogenannten „Trampelgarde“, zur Folge gehabt. Sie besteht meist aus Arbeitern, die ihrer gewohnten Beschäftigung des Schnees wegen nicht nachgehen können. Nach mäßigerem Schneewetter lassen sie ihre Waffe, die Schippe (Schaufel), ruhen, formiren sich zu enggeschlossenen Colonnen und „trampeln“ Bahn durch die frischgefallene Schneedecke; dabei sagen die weidlich behandschuhten und bestiefelten Trampler gleich den Zimmerleuten beim Pfahlrammen einen Tactspruch her, der kurz und bündig lautet:

„Tritt für Tritt,
Der Orz geht mit.“

Rührend ist es anzusehen, wenn sie vor einzelne Häuser ziehen, in denen sie Schulkinder wissen, sie nehmen dann die kleinsten davon auf den Arm und tragen sie, unbeschadet des Trampeldienstes, nach dem Schulhause. Bei großen Schneefällen müssen die Gassen ausgeschaufelt werden, und nach schweren Stürmen wird der Trampelgardist nicht selten zum Bergmann; sobald der Tagebau unmöglich geworden, legt er Schneezechen an, wie unser Bild eine solche zeigt.

Der Winter macht gesellig auch im Unterlande, wie viel mehr aber drängt ein solcher Winter den Bewohnern des Obergebirges diese Tugend auf! Hantirungen im Freien sind nicht möglich; der Verkehr stockt, und wer mit dem Walde zu schaffen hat, ist ganz auf das Haus angewiesen, denn die Waldwege sind monatelang unpassirbar. Wohl stehen dann die Grünröcke oft unruhig an den Fenstern, durchhauchen die Eisblumen, schauen hinaus in die verschneiten Forste und gedenken seufzend des Wildes, das sie in besseren Tagen gehegt und geschützt und das nun nach den tieferen Revieren ausgetreten, um sich dort vom ersten besten Sonntagsjäger todtschießen zu lassen, oder sie tragen schwere Bekümmerniß um die grünen, schlankstämmigen Pfleglinge draußen im Walde, die sie unter ungeheuerem Schneedruck duldend wissen und die sie wahrscheinlich im Frühling als eine Armee von Krüppeln wiedersehen werden.

Wie die Honoratioren in kleinen Städten ihre Zeit verbringen, das ist schon oft geschildert worden; wir brauchen uns, um ein Bild der Wiesenthaler vornehmen Welt zu haben, nur noch die erzgebirgische Offenheit, Treuherzigkeit und einen gewissen weltbürgerlichen Freimuth hinzuzudenken, so haben wir die rechte Vorstellung gewonnen; der Gebildete weiß ja überall je nach dem Maße seiner Veranlagung ein Eden in ein Kamtschatka und ein Kamtschatka in ein Eden umzuwandeln. Geselliger drängen sich aber auch die Leute aus dem Volk in den strengen Wintertagen zusammen um die behaglichen Oefen in den halbdunklen, schneeverschütteten Zimmern. Wie oft hat man schon die Obererzgebirgler beklagt, daß sie zu mehreren Familien in einem Zimmer wohnen müssen! Es ist das erst in zweiter Linie eine Folge der Dürftigkeit, hat doch z. B. Wiesenthal für seine 2000 Einwohner Räume zur vollen Genüge, und die Stadt erscheint für diese Zahl eher häuserreich als häuserarm.

In erster Linie ist es wohl der Drang nach Geselligkeit, und dann erst kommt der wirthschaftliche Vortheil der gemeinschaftlichen Feuerung in Frage. Nur getrennt durch einen Kreidestrich auf der Diele „hüfern“ sie sich an einander, Männlein und Weiblein, und plaudern, singen, lachen und arbeiten und schlagen so dem unfreundlichen Gesellen draußen ein Schnippchen, so wild er auch durch die Schornsteine heulen und an den Fensterladen rütteln mag. Aus allen Winkeln ertönt das eigenthümliche Geräusch des Klöppelns. Wie ein Waldbächlein, das über sein Kieselbett lebendig dahinfließt, rauscht das leise Geklapper von zehn, fünfzehn Klöpplerinnen zusammen. Die Männer sitzen am Posamentirstuhl oder fertigen Stecknadeln nach Urväterweise; dabei erzählt man sich häufig traditionelle Gruselgeschichten, die stets mit der unfreundlichen Natur des Obererzgebirges in Zusammenhang stehen und ihren lieblosen Charakter wiederspiegeln. Gesungen wird fast ausschließlich das heitere Genre der Volksdichtung, und wenn ein Lied auch nicht sonderlich heiteren Inhaltes ist, so bricht man doch regelmäßig am Schluß des Gesanges in ein helles Gelächter aus, in das die Matronen ebenso lebhaft wie die fünfjährigen Weltbürgerinnen einstimmen, welche mit ihren kleinen täppischen Händen die Klöppelhölzer gar anmuthig durch einander werfen. Und bei all diesem hellen Vergnügen hinter den Eisblumen der Fenster läßt man keine Minute ungenützt verstreichen. Welchen Werth hier die Zeit hat, das beweisen die Antworten, die dem Fremden zu Theil werden, wenn er nach Verdienst und Arbeitsquantum fragt.

„Wenn ich net an den Ofen muß,“ spricht die Frau, und der Mann: „Wenn ich mei’ Pfeif’ net anbrenne muß, do breng ich in der Stunn das und das.“

Man sieht, die Leutchen haben ihre Leistungskraft nach Secunden berechnet.

Der Wiesenthaler weiß dem Feind aller Orten zu begegnen. Der Unbill des Wetters setzt er seinen natürlichen Frohmuth entgegen; die Lust an der Arbeit ist sein Vergnügen; der kargen Natur begegnet er mit einer rührenden Genügsamkeit; den Druck der Verhältnisse, der sonst so viel Bitterkeit in die Menschenseele wirft, besiegt er durch ein sorgloses Herz, das ihm die Bedürfnißlosigkeit geschenkt. Man darf dreist behaupten, daß hinter dem Wiesenthaler, wenn er in seinen Friedhof eingeht, die gleich große, wenn nicht eine größere Summe von Freuden liegt, wie hinter dem reichgesegneten Tiefländer, den man pomphaft zur Erde bestattet. Möge er sich seinen unbewußten Idealismus für alle Zeiten bewahren! Er hat ihn auf seiner rauhen Höhe nöthig. – Nicht in dem, was ihm seine Scholle giebt, sondern in dem, was er ihr entgegen bringt, liegt sein Glück und seine Wohlfahrt.

Gampe.




  1. Seit Jahren angestellte meteorologische Beobachtungen ergeben für das 119 Meter über der Ostsee gelegene Leipzig eine mittlere Jahrestemperatur von 8,52 Grad Celsius, dagegen muß sich die Station Wiesenthal mit nur 4,75 Grad begnügen. Die Niederschläge betrugen 1870 in Leipzig 577 Millimeter, in Wiesenthal 1104. Zwischen dem letzten und dem ersten Schneefall lagen in Leipzig 209, in Wiesenthal nur 110 Tage. Absolut trübe Tage herrschten über Leipzig 27, über Wiesenthal aber 124.