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Kurzgefaßte Einleitung in die heiligen Schriften (11. Auflage)/Allgemeiner Teil (NT)

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« Anhang: Die Apokryphen des A. Testaments Ferdinand Wilhelm Weber
Kurzgefaßte Einleitung in die heiligen Schriften (11. Auflage)
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Neues Testament.




I. Allgemeiner Teil.


Kap. 1.
Von der Entstehung und der Geschichte des Neutestamentlichen Kanons.
§ 57.

 Das Neue Testament – so benannt nachweisbar seit Tertullian auf Grund von Matth. 26, 28 (vgl. Jer. 31, 32. Gal. 4, 24 u. a.) – bildet die Urkunde der Offenbarung des neuen Bundes. Es ist ein Werk Gottes, wie das Alte Testament, denn der h. Geist hat wie das mündliche, so auch das schriftliche Wort der h. Apostel gewirkt. Durch jenes hat er die Kirche gestiftet, durch dieses erhält er sie fort und fort und führt sie zur Vollendung.


§ 58.

 Somit hängt die Entstehung des N. T.s aufs innigste zusammen mit der kirchenstiftenden, erhaltenden und vollendenden Tätigkeit des h. Geistes.

 1. Die Stiftung der Kirche geschah durch die apostolische Verkündigung von Christi Leben, Leiden, Sterben und Auferstehen, wie die Missionsreden Petri (Akt. 2. 10) und Pauli (Akt. 14. 17. u. a.) uns beweisen. Diese apostolische Verkündigung lebte in den Gemeinden zunächst in Form der mündlichen Überlieferung fort, und die Gemeinden besaßen in ihren ersten Anfängen zur Erhaltung und Förderung ihres Glaubens nichts anderes, als eben diese mündliche| Überlieferung. Weil nun aber bald nach der Stiftung der Gemeinden innere und äußere Anfechtungen, Zweifel und Kämpfe eintraten und die Sicherheit des Glaubensbewußtseins trübten, weil ferner auch im Leben der Gemeinden Erscheinungen vorkamen, welche eine Zurechtweisung und Belehrung der Gemeinden erforderten, so ward ein neues apostolisches Wort nötig, welches die einfache evangelische Grundüberlieferung je nach dem vorliegenden Bedürfnis erneuerte und in Lehre und Praxis entfaltete. Dieses zweite apostolische Wort erging an schon gestiftete Gemeinden, und zwar von ihren Stiftern, den Aposteln, die inzwischen an anderen Orten das Evangelium verkündeten. Es erging somit in epistolischer Form oder durch apostolische Sendschreiben. So nahm die Schrift des Neuen Testaments ihren Anfang.

 2. Erst nach dieser epistolischen Litteratur entstand die evangelische. Sie ist nichts anderes als die in Schrift verfaßte apostolische Überlieferung von alle dem, was JEsus that und lehrte. Dieser Inhalt apostolischer Lehre hatte, wie oben bemerkt, in der ersten christlichen Generation zuerst in mündlicher Überlieferung fortgelebt. Aber als vom Jahre 60 ab ein Apostel um den anderen hinschied, ohne daß der HErr erschienen war, also somit die Kirche sich rüsten mußte für eine Zeit, wo sie ohne Apostelwort und Apostelleitung ihren Weg zu gehen hatte, da erwachte die Fürsorge für die Kirche, und was bisher mündlich fortgepflanzt worden war, das wurde um so mehr in Schrift verfaßt, als, wie Luk. 1, 1 ff. zeigt, die Überlieferung nach einem Menschenalter anfing, eine vielgestaltige und unsichere zu werden. So schenkte der HErr der Kirche in den Evangelien ein sicheres Denkmal apostolischer Überlieferung, welche der gewisse Grund christlicher Lehre sein und bleiben sollte.

 Anmerkung. Daß wirklich die Sicherung der apostolischen Überlieferung der Zweck ihrer Aufzeichnung war, das beweist, wenn es eines Beweises überhaupt bedarf, Luk. 1, 1–4, aus welcher Stelle wir erkennen, daß überhaupt nach Ablauf des ersten Menschenalters seit Jesu Hingang das Bedürfnis einer schriftlichen Aufzeichnung der evangelischen Geschichte erwachte (1, 1), und daß innerhalb der apostolischen Kreise die Notwendigkeit erkannt wurde, den mancherlei Aufzeichnungen solche gegenüberzustellen, welchen volle Glaubwürdigkeit zukäme und die ein authentisches Zeugnis über die apostolische Verkündigung sein könnten (1, 4).

|  3. Als das apostolische Zeitalter allmählich zum Abschluß kam, wurde der Kirche außer etlichen Briefen und den letzten Evangelien zuletzt noch ein Buch der Weissagung verliehen, damit sie in der Leidenszeit, die der Kampf des Weltreichs gegen die Kirche bringen sollte, Licht und Trost besäße und an der Hand der Weissagung das Ziel erreichte, für welches sie bestimmt ist.


§ 59.

 1. Die evangelischen Schriften in ihren grundlegenden, die epistolischen in ihrer auslegenden, die apokalyptische Schrift in ihrer vollendenden Bedeutung: – diese Schriften zusammen sollten der Kirche bieten, was sie bedurfte, um auf dem rechten evangelischen Heilsgrunde zu immer größerer Reife und Vollendung zu gelangen. Die Kirche erkannte denn auch bald, daß diese Schriften zusammen ein Ganzes zu bilden bestimmt waren, an welchem sie als Gemeinde des Neuen Bundes ihre hl. Schrift neben der Alttestamentlichen besitzen sollte. Um das Jahr 100 n. Chr. waren schon die Hauptschriften des N. Testaments, der sog. Urkanon, in weiten Kreisen bekannt und im Gebrauch. Um 150 n. Chr. sind davon die ausdrücklichsten namentlichen Zeugnisse in Fülle vorhanden. Zu Anfang des 3. Jahrhunderts war der Urkanon überall anerkannt.

 2. Einige Schriften aber, welche wir jetzt in unserm Neutestamentlichen Kanon haben, waren nicht von allen Gemeinden als apostolische gekannt, gebraucht und anerkannt, und es währte bis ins 4. Jahrhundert, bis die gesamte Kirche auch über jene Schriften, und somit über den Umfang des Neutestamentlichen Kanon sich geeinigt hatte, oder was dasselbe ist, bis ein gesamtkirchlicher Kanon zu stande gekommen war. Der Abschluß dieser geschichtlichen Entwickelung, von wo ab der Neutestamentliche Kanon als kirchlich feststehend zu betrachten ist, erfolgte für die griechische Kirche erst unter Justinian I. (527–565), für die abendländische bereits auf den Synoden zu Hippo Regius 393 und zu Karthago 397.

 Die Entstehungsgeschichte des N.Tl. Kanon durchläuft, im einzelnen betrachtet, folgende Stadien:

 ad 1. Die N.Tl. Schriften entstanden wie durch verschiedene Verfasser, so in verschiedenen Zeiten und für verschiedene Gemeinden; sie waren demnach anfangs zerstreut. Die eine Gemeinde besaß diese, die andere jene apostolische Schrift. Aber teils apostolische Weisung (Kol. 4, 16), teils der freie Verkehr| der Gemeinden untereinander brachte es mit sich, daß diese Schriften allmählich mehr oder weniger in den Besitz aller Gemeinden kamen, so daß der h. Petrus (2 Petri 3, 15 f.) z. B. die Kenntnis der Paulinischen Briefe bei den Gemeinden Asiens, Johannes aber die der drei ersten Evangelien allüberall voraussetzt. Die apostolischen Väter, ferner Papias (120 n. Chr.), Justinus M. (140 n. Chr.), die Häretiker zu Anfang des zweiten Jahrhunderts: – sie alle setzen in ihren Schriften die weite Verbreitung der Evangelien, der Briefe Pauli mit Ausnahme des Hebräerbriefs, des ersten Petri- und ersten Johannesbriefs und der Apokalypse voraus. Dies der „Urkanon“. Man nannte die vier Evangelien „das Evangelium“, die Apostelgeschichte und die Briefe „den Apostel“.

 Bestimmte Zeugnisse für das normative Ansehen der genannten Schriften in der ganzen Kirche finden wir aber erst anfangs des 3. Jahrhunderts bei Irenäus, Tertullian, Klemens von Alexandrien und in der assyrischen Übersetzung, welche letztere bereits den Jakobus- und Hebräerbrief in sich befaßt, endlich in einem uralten Verzeichnis der Schriften, welche in den römischen Gemeinden kanonische Geltung hatten, aus der Mitte des 2. Jahrhunderts, dem sog. Canon Muratori. Aus diesen Zeugnissen geht hervor, daß um das Jahr 200 die oben bezeichneten Schriften allenthalben kanonisches Ansehen genossen, dagegen waren die übrigen Schriften, nämlich der zweite Brief des Petrus, der Brief des Jakobus und Judas, der an die Hebräer, der zweite und dritte Brief des Johannes um diese Zeit noch nicht überall gleich bekannt oder als kanonisch angesehen. – Die Gründe dafür sind sehr verschiedene. Die beiden letzten Briefe des Johannes sind an Private gerichtet, weniger umfangreich und schienen vielleicht deshalb weniger geeignet zu sein für die Verbreitung; der zweite Brief des Petrus und der Brief des Judas sind durch ihren Inhalt Apokrypha im höheren Sinne, d. h. Schriften, welche ganz auf die Zukunft gehen (?), darum weniger für den Gebrauch der Gegenwart geeignet scheinen mochten und anfangs nicht verbreitet wurden (cf. indes die spezielle Einleitung zu diesen Briefen); der Brief an die Hebräer und der des Jakobus aber sind merkwürdigerweise nur im Abendlande nicht bekannt, während das Morgenland sie kennt und als heilige Schriften gebraucht. Sie hatten ihre Bestimmung für judenchristliche Kreise, die von Anfang an von den heidenchristlichen sich absonderten, wodurch auch der Austausch der heiligen Schriften gehindert wurde. Nachdem nun aber jene Schriften bis zum Ende des ersten Jahrhunderts das allgemeine Ansehen in der Kirche nicht gewonnen hatten, blieb man in den folgenden Zeiten, welche mit ängstlicher Treue an allem, was aus dem apostolischen Zeitalter überkommen war, festhielten, auch in diesem Stücke bei der alten Tradition.

 ad 2. Erst im vierten Jahrhundert haben alle Schriften, die wir jetzt in unserm N.Tl. Kanon haben, in der ganzen Kirche ausnahmslos kanonisches Ansehen gewonnen. Daß es dazu kam, war zum großen Teile das Verdienst des Origenes und Eusebius. Beide nämlich zeigten, was es mit der kirchlichen Geltung der einzelnen Schriften für eine Bewandtnis habe. Sie unterschieden| nämlich einerseits Homologumena und Antilegomena, d. h. allgemein und teilweise als apostolisch anerkannte Schriften, andrerseits Atopa (Eusebius) oder Notha (Origenes), d. h. Schriften, die als heilige gelten wollten, von der Kirche aber verworfen wurden. Indem sie so die Homologumena und Antilegomena zu einer Klasse zusammenfassen und den Atopa oder Notha gegenüberstellen, bereiten sie damit die Anschauung vor, daß Homologumena und Antilegomena gleicherweise heilige Schriften und von wesentlich gleicher Würde seien, wenn auch jene durch die uralte allgemeine Anerkennung vor diesen einen Vorzug haben mögen. Daß aber allmählich auch dieser letztere Unterschied hinfiel, dies bewirkte die in den großen Lehrkämpfen gereifte Einsicht in den dogmatischen Wert der sog. Antilegomena, welche z. B. die wichtigsten Beweisstellen für die kirchliche Lehre von der Gottheit Christi darboten. Solche Stellen deckten den Mangel einer allseitigen Anerkennung, und man bezeichnete die Antilegomena und Homologumena jetzt gleicherweise als kanonische Schriften, weil sie gleicherweise dem „Kanon“, d. h. der Glaubensregel, entsprächen. Die zur kirchlichen Vorlesung zugelassenen Bücher, welche nicht apostolischen Ursprungs waren, nannte man jetzt „deuterokanonische“ oder „kirchliche“ Bücher; man unterschied sie ebenso von den kanonischen, als den apokryphischen, d. h. aus dem kirchlichen Gebrauch völlig ausgeschlossenen, weil verdammlichen Schriften. Später verloren sich indes diese Schriften mittlerer Stellung gänzlich aus dem kirchlichen Gebrauch, und man unterschied fortan nur kanonische und apokryphische Schriften. Von der Mitte des vierten Jahrhunderts an finden wir Verzeichnisse der kanonischen Schriften, welche in sich zusammenstimmen und auch die bisherigen Antilegomena bis auf die Apokalypse haben, und so konnte denn auf Synoden die Frage zuletzt auch formell zum Abschluß gebracht werden. Der sog. 60. Kanon, der ums Jahr 360 oder später versammelten Synode in Laodicea verbietet das Vorlesen aller nicht kanonischen Bücher und zählt hierauf alle kanonischen Bücher A. und N. Testaments auf, wobei alle unsere kanonischen Bücher genannt, die A.Tl. Apokryphen aber und die N.Tl. Apokalypse übergangen werden; allein er ist ein späterer Nachtrag; aber für die lateinische Kirche entschieden die Synoden zu Hippo Regius (393) und Karthago (397), wo Augustin es dahin brachte, daß der kirchliche Gebrauch entschied, und deshalb im A. Testament die Apokryphen, im Neuen aber alle Antilegomena, mit Einschluß der Apokalypse, für kanonisch erklärt wurden. Der römische Bischof Innocentius bestätigte (405) diesen Beschluß und er wurde in der lateinischen Kirche nicht weiter angefochten. Das Morgenland kam zu einem festen Codex erst unter und durch Justinian I.


§ 60.
 Bei diesem Beschlusse ist es seitdem verblieben. Zwar erwachte in den Reformatoren das Bewußtsein eines Unterschiedes zwischen den Homologumenen und Antilegomenen; Luther insonderheit unterschied die Epistel an die Hebräer, die des Jakobus und Judas und| die Apokalypse und zwar aus vorwiegend dogmatischen Gründen von den andern, als den „rechten, gewissen Hauptbüchern“, und ihm folgten Melanchthon und Chemnitz; aber schon Gerhard findet den Unterschied zwischen den Homologumenen und Antilegomenen nicht mehr in dem verschiedenen Grade der Normativität, sondern lediglich der Anerkennung seitens einzelner Teile der alten Kirche. Der Unterschied ist in der kirchlichen Praxis so gut wie keiner mehr. Diese Auffassung ist vom 17. Jahrhundert an die herrschende. Auch die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts immer häufiger und ernster gewordenen Versuche der sog. „Kritiker“ (s. Vorbem. 5, 4), gewisse Teile der N.Tl. Schrift als unecht zu erweisen, haben keinen Einfluß auf die kanonische Geltung der h. Schriften geübt; der N.Tl. Kanon ist vielmehr in seinem Umfang derselbe geblieben, und man hat erkannt, daß derselbe, so wie er uns vorliegt, und wie er in allen Kirchen gleicherweise seit anderthalb Jahrtausenden schon Geltung hat, ein großes Ganzes ist, von dem kein Glied weggenommen werden darf, wenn man nicht das Ganze verletzen und die Kirche um eine ihr von Gott geschenkte, für die Vollendung ihres Laufes nötige Gabe berauben will.




Kap. 2.
Von der Grundsprache des Neuen Testaments.
§ 61.
 Die Grundsprache des N. Testaments ist die griechische, und zwar die sogen. Vulgärsprache (κοινή), wie sie seit Alexander d. Gr. die Sprache der gesamten gebildeten alten Welt geworden war und auch im heil. Lande neben der aramäischen Landessprache Eingang gefunden hatte. Der Grund, weshalb für das N. Testament nicht auch die hebräische Sprache gewählt worden, liegt nicht in den Verfassern der N.Tl. Schriften. Wenigstens wird Paulus das Hebräische, das er nach Akt. 22, 2 sprach, auch haben schreiben können. Aber der Kreis, für welchen die h. Schriften des N. Testaments nötig wurden, war nicht mehr das Volk des alten Bundes, sondern die Völkerwelt. Die Episteln des Paulus gehörten ja vor allem den heidenchristlichen Gemeinden, und als auch die andern Apostel anhoben, die Lehre schriftlich zu verfassen, da war die Kirche nicht mehr| in Israel, sondern in der Völkerwelt zu suchen. So kam es, daß die Urkunde des N. Testaments in einer andern Sprache abgefaßt wurde, als die des Alten.


§ 62.

 Aber obwohl die Sprache des Neuen Testaments an sich die Sprache der Völkerwelt ist, so ist sie dennoch eine heilige Sprache. Es gab ja seit der Übersetzung des A. Testaments ins Griechische auch eine heilige griechische Sprache, indem die Übersetzer (jene sog. LXX) das Griechische dem Geiste der hebräischen Sprache und der heiligen Urkunden anzupassen suchten. Dieses hebraisierende griechische Idiom finden wir vielfach auch im N. Testamente. Die historischen und prophetischen Teile desselben tragen im Stil entschieden Alttestamentliches Gepräge. Anders freilich verhält sich’s mit der epistolisch-didaktischen Litteratur. Sie hatte am A. Testament weniger Vorbild, als die übrige; sie ist daher weit mehr als jene im griechischen Stil geschrieben. Daher denn auch der Unterschied zwischen den Evangelien und Briefen: jene einfach in der Darstellung, wenn auch dem Inhalte gemäß feierlich, oft erhaben, diese dagegen vielfach periodisch konstruiert und schwerer zu verstehen. – Aber auch der Ausdruck des N. Testaments ist ein eigentümlicher. Christliche Ideen mußten sich einen neuen Ausdruck schaffen, indem sie die alten Ausdrücke mit neuem Inhalt, die alte Form mit evangelischem Geist durchdrangen. – Somit gehört zum rechten sprachlichen Verständnis des N. Testaments neben der Kenntnis des Vulgär-Griechischen oder der κοινή sowohl Vertrautheit mit dem Alttestamentlichen Stil, als tiefes Eingehen in den eigentümlichen Geist des Evangeliums.




Kap. 3
Von der Überlieferung des Textes.
§ 63.
 Die Urschriften sind bereits im zweiten Jahrhundert als verloren zu betrachten, und es ist sonach der heil. Text lediglich durch Abschriften auf uns gekommen. Diese waren anfangs nach damaliger Weise ohne Trennung der Wörter, ohne Accente, ohne irgend eine Einteilung des Textes in Abschnitte. Auch Überschriften| und Namen der Verfasser fehlten überall, wo sie nicht einen wesentlichen Bestandteil des Textes bildeten. Die Schrift war nicht Kursiv-, sondern Unzialschrift. Erst (?) Euthalius (Diakon der alexandrinischen Kirche) hat in seiner ums Jahr 462 vollendeten Ausgabe der Apostelgeschichte und der Episteln für die Vorleser den Text nach Zeilen oder Stichen abgeteilt, so daß auf jede Zeile gerade so viele Worte kamen, als zum Satzgliede gehörten. Diese Methode fand Beifall und wurde von andern auch auf die Evangelien angewendet. Diese stichometrische Schrift, wie man sie nennt, war bis zum 8. Jahrhundert im Gebrauch. Um aber den kostbaren Raum zu sparen, gab man diese Methode wieder auf und begnügte sich damit, das Ende der Stichen durch Punkte oder andere Zeichen anzudeuten. Daraus hat sich allmählich unsere Interpunktion entwickelt, die aber in ihrer jetzigen Ausbildung aus dem 16. Jahrhundert stammt. Für die sonn- und festtägliche Vorlesung (lectio continua) teilte Euthalius das N. Testament in Abschnitte ein. Der „Apostolos“ zerfiel in 57 Abschnitte. Über die Abschnitte des „Evangeliums“ ist uns nichts Näheres bekannt. Diese Lesestücke wichen später den sog. Perikopen, wie wir sie in der öffentlichen kirchlichen Vorlesung noch jetzt haben. Für den Privatgebrauch, besonders zum Behuf der Citation, wurde das N. Testament schon frühe in Kapitel eingeteilt, die aber sehr verschieden waren; um die Kapiteleinteilung der Evangelien haben sich schon Ammonius und Eusebius bemüht, den Apostolos hat ein uns unbekannter Kirchenvater (vielleicht Theodor v. Mopsveste) in Kapitel zerlegt, welche Euthalius in seinem „Apostolos“ anmerkt.
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 Unsere jetzige Kapiteleinteilung stammt entweder von dem spanischen Kardinal Hugo von St. Caro († 1263) oder von Stephan Langton († 1228). Letzteres ist das Wahrscheinliche; ersteres wird bestritten. Unsere Versabteilung ist noch jünger; wir verdanken sie dem 16. Jahrhundert, und sie findet sich zuerst in der 4. Ausgabe der griechisch-lateinischen Bibelausgabe des Erasmus von 1551 und auf Grund derselben in der Ausgabe des gelehrten Pariser Buchdruckers Robert Stephanus, 1551. Auch die Überschriften der Bücher stammen nicht von den Verfassern, sondern wurden beigefügt, als man mehrere derselben in eine Sammlung vereinigte. Sie sind in| den Handschriften verschieden. Unecht, weil vielfach unrichtig, sind auch die Unterschriften, die man noch später beifügte.


§ 64.

 Der Text des N. Testaments, der, wie schon bemerkt, durch die Hände vieler Abschreiber gegangen ist, wurde im Laufe der Zeit unabsichtlich, an einigen Stellen auch absichtlich verderbt. Man zählt an 50,000 Varianten, d. i. Verschiedenheiten des Textes, die aber, dank der göttlichen Providenz, nicht so wesentlich sind, daß sie den Grund des Glaubens berührten.

 Diese Varianten erweisen sich als Zusätze, Auslassungen, Versetzungen und Vertauschungen und betreffen entweder Buchstaben oder Wörter oder ganze Sätze. Der gelehrte Abschreiber wollte etwa den Text sprachlich verbessern oder sachlich vervollständigen. Schrieben die einen ihre Weisheit über oder in den Text, so schrieben andere sie nur an den Rand, ihre Glossen kamen aber später in den Text. Zuweilen änderte man, um vermeintliche dogmatische Anstöße zu beseitigen, oder den Häretikern eine gemißbrauchte Beweisstelle zu entreißen. Die Väter klagen auch über absichtliche Fälschungen seitens der Häretiker. Nicht selten auch erscheint der Text durch liturgische Zusätze verändert, welche die kirchliche Vorlesung veranlaßte. Sehr junge Handschriften stehen sogar unter dem Einflusse der Vulgata. Die Texte sind einander auf solche Weise im einzelnen sehr unähnlich geworden. Doch kann man gewisse Gruppen von Texten erkennen, welche unter sich mehr Ähnlichkeit haben, als mit anderen Texten. Diese sind die sog. alexandrinische, konstantinopolitanische und occidentalische Gruppe. So Griesbach. Andere unterscheiden eine orientalische Gruppe (alex. und ägypt. Text) und eine occidentalische Gruppe (der bei den lateinischen Kirchenvätern gebräuchliche Text in den griech. Unzialhandschriften; der asiat.-griechische und der byzantinische Text).

 Als Gutenberg 1440 die Buchdruckerkunst erfand, kam sie bald auch der Bibel zu gute. Man fing an, dieselbe, anstatt durch Abschriften, durch den Druck zu vervielfältigen. Die ersten Druckausgaben des Neutestamentlichen Textes besorgten im Jahre 1516 der Kardinal Ximenes von Alcala (Complutum) und Erasmus von Rotterdam. Der erasmische Text gewann allgemeine Geltung, er wurde der textus receptus, obwohl der complutensische besser war. Aus der zweiten Ausgabe des erasmischen Textes ist auch Luthers Übersetzung des N. Testaments geflossen.

 Bis ins vorige Jahrhundert war der erasmische Text in allgemeiner Geltung. Da fing man an, das Augenmerk auf die Herstellung eines dem ursprünglichen Texte möglichst entsprechenden| Textes zu richten. Die Textkritik, wie man diese wissenschaftlichen Bemühungen nannte, versuchte ihr Ziel zu erreichen mittels der Citate der ältesten Kirchenväter aus dem N. Testament, der ältesten Übersetzungen und insonderheit der aus dem Altertum auf uns gekommenen Handschriften (Codices) des N. Testaments. Die ältesten und entscheidendsten dieser Codices sind: 1. der Codex Vaticanus, aus der Zeit Konstantins des Großen, aufbewahrt in der Bibliothek des Vatikans in Rom; 2. der Codex Sinaiticus aus derselben Zeit, von Konstantin Tischendorf 1859 im St. Katharinenkloster auf Sinai aufgefunden und in St. Petersburg aufbewahrt; 3. der Codex Alexandrinus, aus etwas jüngerer Zeit, im British Museum in London. Der erste wird mit der Chiffre B, der zweite mit א, der dritte mit A bezeichnet. Diese älteren Codices heißen Uncial-Codices; sie sind mit lauter großen griechischen Buchstaben geschrieben, ohne Accente und fast ohne alle Interpunktion (s. o.). Das meiste Ansehen auf wissenschaftlichem Gebiete genießt unter den mit den Mitteln der Textkritik hergestellten Textausgaben die von Tischendorf. Derselbe konnte auch den früher nicht zugänglichen Codex Vaticanus vergleichen und für die Herstellung eines möglichst authentischen Textes nutzbar machen. Neben ihm ist der durch besondere Zuverlässigkeit, ausgezeichnete Engländer S. P. Tregelles, desgl. Westcott zu nennen.

 Anmerkung. Für ein sorgfältiges Studium des N. Testaments ist der Gebrauch einer kritischen Textausgabe unerläßlich. Dieselbe gibt unter dem Text den sogen. kritischen Apparat, d. h. sie stellt die wichtigsten Lesarten aus den besten Codices zusammen, indem sie diese mit gewissen Zeichen bezeichnet. Über diese Bezeichnung, sowie besonders über Alter, inneren Wert und Gebrauch der verschiedenen Handschriften gibt eine den textkritischen Ausgaben vorausgehende Einleitung die nötige Belehrung. Empfehlenswert ist die Ausgabe von C. Tischendorf, Novum Testamentum graece; editio academica, Leipzig; sowie O. von Gebhardt, das N. Testament, griechisch nach Tischendorfs letzter Revision und deutsch nach dem revidierten Luthertexte mit Angabe abweichender Lesarten. Leipzig, bei Tauchnitz. Desgleichen die von E. Nestle, Stuttgart, Württemb. Bibelanstalt (1901 dritte Ausgabe).




Kap. 4.
Von den Übersetzungen des N. Testaments.
§ 65.
 Im altchristlichen Osten erhielt zuerst die syrische Kirche von| Edessa eine Übersetzung (die sog. Peschittho, d. i. einfache, wortgetreue). Sie zeichnet sich durch wörtliche Treue aus und ist bis zur Stunde im kirchlichen Gebrauch der Syrer. Die Monophysiten ließen (508) eine andere anfertigen, welche die Philoxeniana heißt.[1] Nicht viel später bekam Ägypten sein N. Testament. Hier entstand aus der Mischung der alten ägyptischen und der seit Alexander M. eingedrungenen griechischen Sprache eine neue Landessprache, das Koptische. Es zerfällt in mehrere Dialekte; in jeden derselben ist das N. Testament übersetzt worden. Äthiopien bekam seine Übersetzung durch den Gründer seiner Kirche, durch Frumentius (4. Jahrh.). Von Syrien aus drang mit dem Christentum auch das N. Testament nach Armenien; man gebrauchte hier zuerst die syrische Übersetzung, bis Miesrob (410) eine armenische herstellte. Den Armeniern folgten die Georgier; ihre Bibelübersetzung stammt aus dem 6. Jahrhundert. – Seit dem Siege des Islam wurde bei all den genannten Völkern das Arabische die Volkssprache, deshalb mußten neben den alten schon im 7. und 8. Jahrhundert neue arabische Übersetzungen entstehen, um das Bedürfnis des Volkes zu stillen. Jedoch gibt es auch eine altpersische.


§ 66.
 Der altchristliche Westen hatte eine Sprache für die Gebildeten: das Griechische. Deswegen trat hier das Bedürfnis einer Übersetzung nicht sogleich hervor, um so mehr, als es jederzeit solche gab, die das Griechische sofort ins Lateinische übersetzten. Aber als die Gemeinde an solchen wuchs, die das Griechische nicht verstanden, mußten auch lateinische Übersetzungen entstehen. Dies geschah schon frühe. Die gebräuchlichste derselben war die (alte) Itala, wie Augustin, oder die (alte) Vulgata, wie man in Italien selbst sie nannte. Aber der Text wurde so verderbt, daß Verwirrung entstand, und Hieronymus mußte ihn auf Befehl des Bischofs Damasus verbessern (384). Er stellte den alten Text nach Möglichkeit her und änderte nur, wo entschieden falsch übersetzt war, aber zuletzt war die verbesserte Vulgata doch eine neue Bibel, und das Volk, ja auch ein| Augustinus sträubte sich gegen ihre Annahme. Erst durch Gregor des Großen Ansehen drang sie durch. Über ihr weiteres Schicksal siehe oben § 19. – Außerdem haben wir eine angelsächsische, von den Missionaren Gregors des Großen aus der alten Vulgata gefertigte, eine gotische von Bischof Ulfilas herstammende, und eine slavische von Cyrillus und Methodius (9. Jahrh.) herrührende Übersetzung des N. Testaments.


§ 67.

 Im Mittelalter entstanden Übersetzungen des N. Testaments teils durch das Bestreben der Sekten nach einem biblischen Christentum – vgl. die romanischen Waldenser-Übersetzungen –, teils ging aus der Kirche selbst schon vor der Reformation eine nicht unbedeutende Menge von Übersetzungen hervor. Sie alle werden übertroffen durch die lutherische. Ihr Erscheinen hat so mächtig gewirkt, daß nicht bloß alle übrigen protestantischen Kirchen, sondern auch die römische Kirche sich beeiferten, für ihre Kreise entsprechende Übersetzungen herzustellen.

 In neuester Zeit sind mit jeder neuen Kirchenbildung durch die Heidenmission auch neue Bibelübersetzungen entstanden, indem besonders die Britische Bibelgesellschaft sich die Aufgabe gestellt hat, alle Völker mit Übersetzungen der heil. Schriften zu versorgen. – Für den Gebrauch der mit der hebräischen Sprache noch vertrauten Juden sind neuerdings hebräische Übersetzungen entstanden, erst eine von der Londoner Judenmissions-Gesellschaft, nunmehr 1877 eine viel korrektere durch Professor Franz Delitzsch, welche die Britische und ausländische Bibelgesellschaft in London herausgegeben hat.




Kap. 5.
Von der Auslegung des N. Testaments.
§ 68.
 Was bereits bei Gelegenheit der Auslegung des A. Testaments über die drei verschiedenen Stufen der Auslegung, die grammatische, historische und theologische, gesagt wurde, gilt selbstverständlich auch für das N. Testament. Nur bei gleichmäßiger Rücksicht auf jedes| der drei Momente und nur bei entsprechender Verbindung derselben ist auf ein wahres Verständnis der N. T.lichen Schriften zu hoffen.


§ 69.

 Der Auslegung des N. Testaments kam es zu statten, daß die griechische Sprache viel mehr Gemeingut war und wurde, als die hebräische. Besondere Förderung gewann die N. T.liche Auslegung seit dem Aufschwung des Studiums der klassischen Sprachen im 15. Jahrhundert. Von diesem Studium floß auch der Reformation reicher Segen zu. Luther und Melanchthon bieten auf Grund der erneuerten Sprachkenntnis und der gereinigten Glaubenserkenntnis ein neues Verständnis des N. Testaments dar. Zwar hinderte später der Dogmatismus und noch später der Rationalismus, daß dieses Verständnis sich stetig fortentwickeln konnte, aber mit der Rückkehr zum Glauben der Väter ist auch ihre Auslegung wieder zu Ehren gekommen, und da der sprachliche und historische Sinn der neueren Zeit auch auf die kirchlichen Ausleger seinen Einfluß übt, so darf man sagen, daß das Verständnis der N. T.lichen Schriften ein immer zunehmendes ist.





  1. In ihr fehlt Joh. 8, 1–11 und 1 Joh. 5, 7. 8, wie auch in der Peschittho.
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