Zum Inhalt springen

Kunstgewerbliche Rundschau

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Adolf Loos
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Kunstgewerbliche Rundschau
Untertitel:
aus: Adolf Loos: Sämtliche Schriften in zwei Bänden – Erster Band, herausgegeben von Franz Glück, Wien, München: Herold 1962, S. 165–170
Herausgeber: Franz Glück
Auflage:
Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1962
Verlag: Herold
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Wien
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft: erstdruck in „die wage“, eine wiener wochenschrift, herausgeber: dr. Rudolph Lothar, II. band, II. halbjahr 1898, heft 40, s. 664.
Quelle: PDF bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[165]
KUNSTGEWERBLICHE RUNDSCHAU
(1. oktober 1898)


Wir haben eine neue dekorative kunst. Das läßt sich nicht leugnen. Wer die räume des möbelhauses Liberty in London, Bings l’Art nouveau in der rue de Provence in Paris, die vorjährige ausstellung in Dresden und die heurige in München gesehen hat, wird zugeben müssen: Die alten stile sind tot, es lebe der neue stil!

Und doch kann man seiner nicht froh werden. Es ist nicht unser stil. Er ist nicht aus unserer zeit heraus geboren. Wir haben ja gegenstände, die deutlich den stempel unserer zeit aufweisen. Unsere kleidung, unser gold- und silberschmuck, unsere juwelen, unsere leder-, schildkrot- und perlmutterwaren, unsere wagen und eisenbahnwaggons, unsere fahrräder und lokomotiven gefallen uns sehr gut. Nur machen wir nicht so viel aufhebens davon.

Diese sachen sind modern, haben also den stil des jahres 1898. Wie verhalten sie sich aber zu den gegenständen, die heute für modern ausgegeben werden? Schweren herzens muß man antworten, daß diese gegenstände mit unserer zeit nichts zu tun haben. Sie sind voll von beziehungen zu abstrakten dingen, voll von symbolen und erinnerungen, sie sind mittelalterlich.

Aber aus diesem zeitalter sind wir heraus. Seit dem untergange des weströmischen reiches wurde noch in keiner zeit klassischer gedacht und gefühlt, als in der unsrigen. Siehe Puvis de Chavannes und Max Klinger! Wurde seit Äschylos’ tagen hellenischer gedacht? Siehe den Thonetsessel! Ist er, schmucklos das sitzen einer zeit verkörpernd, nicht aus demselben geiste heraus geboren, aus dem der griechische stuhl mit den gebogenen füßen [166] und der rückenlehne entstanden ist? Siehe das bicycle! Weht nicht der geist des perikleischen Athen durch dessen formen? Wenn die griechen ein bicycle zu bauen gehabt hätten, es hätte völlig dem unseren geglichen. Die griechischen bronze-dreifüße – ich meine nicht die weihgeschenke, sondern die, die in gebrauch genommen wurden – gleichen sie nicht ganz unseren eisenkonstruktionen?

Ungriechisch ist es, durch die gegenstände, mit denen man sich zum täglichen gebrauche umgibt, seine individualität zum ausdruck bringen zu wollen. In Deutschland sieht man die größte mannigfaltigkeit in der kleidung, die deutschen sind daher von allen kulturvölkern das am wenigsten von griechischem geiste erfüllte. Der engländer hat für eine bestimmte gelegenheit nur einen anzug, ein bett, ein bicycle. Das beste ist ihm das schönste. Er wählt daher wie der grieche den besten anzug, das beste bett, das beste bicycle. Veränderungen an der form entspringen nicht der neuerungssucht, sondern dem wunsche, das gute noch zu vervollkommnen. Nicht den neuen sessel gilt es, unserer zeit zu geben, sondern den besten.

In den erwähnten ausstellungen sah man aber nur neue sessel. Der beste sessel wird auf neuheit nicht sonderlich viel anspruch machen können. Denn schon vor zehn jahren hatten wir recht bequeme sessel, und die technik des sitzens, die technik des ausruhens hat sich seither nicht so sehr verändert, daß dies auch schon durch eine andere form zum ausdruck kommen könnte. Die verbesserungen werden dem menschlichen auge nicht zum bewußtsein kommen können. Sie werden sich auf millimeter oder höchstens zentimeter in den dimensionen, [167] In den holzstärken beschränken. Wie schwer ist es, den guten sessel zu finden! Und wie leicht den neuen! Dafür gibt es ein sehr einfaches rezept: Mache gerade das umgekehrte von dem, was die leute vor dir gemacht haben.

In München sah man einen regenschirmständer, an dem man wohl am besten, was ich über das beziehungsreiche, das mittelalterliche in gebrauchsgegenständen sagte, demonstrieren kann. Hätte ein grieche oder ein engländer die aufgabe gehabt, einen solchen ständer zu formen, so hätte er vor allem daran gedacht, schirmen einen guten standplatz zu verschaffen. Er hätte daran gedacht, daß die schirme leicht hineingestellt und leicht herausgenommen werden können. Er hätte daran gedacht, daß die schirme keinen schaden erleiden und man mit dem überzug nirgends hängen bleiben dürfe. Anders aber der nichtgrieche, der deutsche, der durchschnittsdeutsehe. Diese erwägungen kommen für ihn an zweiter stelle. Hauptsache ist es für ihn, durch die dekorative gestaltung auf die beziehung dieses gegenstandes zum regenwetter hinzuweisen. Wasserpflanzen schlingen sich also in die höhe, und auf jeder sitzt ein frosch. Daß man an den scharfen blättern die schirme leicht zerreißen kann, ficht den deutschen nicht an. Er läßt sich ganz gern von seiner umgebung malträtieren, wenn er sie nur schön findet.

Die kulturhöhe, die die menschheit im klassischen altertum erreicht hat, läßt sich schlechtweg aus deren gedächtnis nicht mehr auslöschen. Das klassische altertum war und ist die mutter aller nachfolgenden kulturperioden. Befruchtet aber wurde es vom orient. Der osten bildete das große reservoir, aus dem immer neuer samen in das [168] abendland strömte. Fast scheint es, als hätte uns Asien gegenwärtig den letzten rest seiner ureigenen kraft gegeben. Denn schon mußten wir in den entferntesten osten zurückgreifen, nach Japan und Polynesien, und nun sind wir zu ende. Wie gut hatte es das mittelalter! Da lag der orient noch unverbraucht da, und ein spaziergang nach Spanien oder in das heilige land genügte, um dem abendlande neue formenwelten zu erschließen. Der romanische stil wurde durch die arabischen anregungen zum gotischen. Die meister der renaissance hatten schon weiter zu reisen. Persien und Indien wurden durch sie für uns gewonnen. Man erinnere sich der persischen teppiche, ohne die es kein madonnenbildnis aus dieser zeit gibt, der deutschen intarsien und tauschierarbeiten. Das rokoko mußte schon nach China gehen, während uns nur noch Japan übrig blieb.

Was ist nun das japanische unserer kunstanschauung? „Sie tragen ein reizendes kleid, gnädige frau. Aber was seh ich? Der eine ärmel hat eine masche, während der andere keine aufweist. Das ist japanisch. Sie haben einen reizenden blumenstrauß in ihrer vase. Lauter langstielige blumen: rosen, lilien, chrysanthemen. Auch das ist japanisch. Wenn wir nie unsere blicke nach Japan gerichtet hätten, würden wir dieses arrangement unerträglich finden. Fragen sie nur das bauernmädchen auf dem Semmering. Das kennt Japan noch nicht. Daher bindet es seine blumen auch unjapanisch. In der mitte eine recht große und dann die anderen immer im kreise herum. Das findet es schön.“

Japanisch ist also in erster linie das aufgeben der symmetrie. Dazu kommt die entkörperlichung der darzustellenden gegenstände. Die japaner stellen blumen dar,

[Abb]



Schmuck von René Lalique
(aus der zeitschrift „art et décoration“, 1898)

[169] aber es sind gepreßte blumen. Sie stellen menschen dar, aber es sind gepreßte menschen. Ein stilisieren, wie geschaffen dazu, die fläche zu dekorieren. Und dabei kann man doch naturalistisch bleiben. Da ist vor allem die stickereitechnik, wie sie jedem, der freude an den naturformen hat, gelegen kommen muß. Es ist jene stickereitechnik, mit der Hermann Obrist, der größte unter den kunststickern der gegenwart, seine erfolge erzielt.

Von einem französischen künstler erzählt die septembernummer der führenden kunstgewerbezeitung „Art et décoration“. René Lalique ist dort ein aufsatz gewidmet. Lalique, der eines der größten goldschmiedehäuser in Paris sein eigen nennt, hat den mut, nur durch die form und nicht durch das material wirken zu wollen. Er verwendet kupfer neben gold und arbeitet weniger mit wertvollen steinen, als mit opalen, achaten und karneolen. Das ist sympathisch. Und doch hat er nicht recht. Trotz der neuen form haben seine sachen nicht geist von unserem geist, sondern gravitieren in das fünfzehnte und sechzehnte jahrhundert. Sie erinnern uns an rauschende seiden und schwere samte, reiches pelzwerk und steife brokate. Es ist die welt Karls V. und Maximilians, des letzten ritters, die vor unserem blicke auftaucht. Aber in der zeit des flatternden leichten seidenkleides, in der zeit der gestärkten hemdbrust und des schwarzen frackes nehmen sich Laliques schmucksachen recht fremd aus. Wem gefielen sie nicht? Wer aber würde sie tragen wollen? Das gefallen daran ist nur platonisch. Unsere zeit verlangt kleinen schmuck – schmuck, der auf möglichst kleinem raume einen möglichst großen wert repräsentiert. Unsere zeit fordert vom schmuck destillierte kostbarkeit, einen extrakt des herrlichen. Deshalb müssen zu unserem [170] schmuck die wertvollsten steine und stoffe verwendet werden. Der sinn des schmuckes liegt für uns im material. Die kunstarbeit muß sich also damit begnügen, das material möglichst zur geltung zu bringen. Die arbeit des goldschmieds kommt bei schmuck, der getragen werden soll, erst in zweiter reihe. Laliques schmuck ist richtiger vitrinenschmuck, wie gemacht, die schatzkammer eines mäcens zu füllen, der dann das volk huldvoll einlädt, die herrlichen sachen in seinem museum zu bewundern.

Anmerkungen des Herausgebers

[453] Der artikel ist hier gekürzt. Er bespricht auch noch den inhalt anderer zeitschriften. Aus diesen sind abbildungen entnommen, von denen zwei hier auf einer bildtafel wiedergegeben sind, da der schmuck von Lalique kaum mehr bekannt sein dürfte. Ein zweiter teil der „kunstgewerblichen rundschau“ erschien in heft 48 derselben zeitschrift, s. 793; er ist in der ersten auflage von „ins leere gesprochen“, gleichfalls gekürzt, wieder gedruckt worden, blieb aber in der zweiten auflage weg.