Kinkel’s deutsche Vorträge in London
„Zehn Jahre sind dahin gegangen!
Es wächst mein Sehnen und Verlangen,
Mein Sehnen und Verlangen wächst:
Die alte Frau hat mich behext.“
Deutschland ist‘s, mein altes liebes Deutschland, der geographische und Culturmittelpunkt Europa‘s und der meines Herzens, so vieler, vieler Herzen, die unter allen Längen- und Breitengraden der Erde in allen möglichen Stufen der Gesellschaft, der Völker und Racen pulsiren oder längst nicht mehr schlagen, und das Auge zum letzten Schlummer schlossen, nachdem es vergebens heiß und brechend nach einer der lieben Gestalten der Heimath umherirrte, die durch den letzten Fiebertraum schritten; Deutschland, das ist die alte Frau, unsere Mutter, nach der unser Sehnen und Verlangen wächst. Diese alte Frau hat uns behext. Behalten wir den Heine’sche Ausdruck für seine leibliche Mutter bei, der er sein rührendstes Lied sang. Und gestehen wir es: die dahingegangenen zehn Jahre, unser Sehnen und Verlangen idealisiren die alte Frau. Sie ist unsere Mutter, die wir lieben; aber wir lieben sie schwärmerischer, heißer, als wenn wir alle Tage bei ihr gewesen wären. Wir stellen sie uns viel edeler, schöner, liebevoller vor, als sie wirklich ist. Wir vergöttern sie, obgleich sie menschlich ist. Nach dem ersten Wiedersehen würden gewiß sehr unangenehme [191] Enttäuschungen eintreten. Sie wohnt so beschränkt, Alles ist so klein geworden, seitdem wir in der großen Welt draußen den Maßstab für diese behäbige Gemüthlichkeit verloren. Und dann muß man sich wegen des Passes, der Aufenthaltskarte, des Heimathsrechts, des Pockenimpfungsscheins, der Subsistenzmittel u. s. w. citiren, examiniren oder wohl gar einstecken oder ausweisen lassen; ist nun einmal so Sitte bei Muttern.
Wir idealisiren Deutschland, weil wir nicht in Deutschland leben. Die Deutschen idealisiren dagegen den Boden, den wir Ausländer mit Füßen treten. So haben wir Jeder eine ferne Geliebte, die von entgegengesetzten Seiten, aber aus demselben Sehnen und Verlangen, in den Himmel erhoben wird, Dieses tragikomische Verhältniß hat sich namentlich zwischen England und Deutschland notorisch scharf ausgebildet. Wir deutschen Helden der Feder in England sind förmlich verrufen in unserer lieben Heimath wegen unserer Engländerfresserei. Ich habe schon manchen langen deutschen Artikel darüber gelesen, Artikel aus allen Tonarten, aber immer mit dem Grundgedanken: Ihr schmäht England, ihr kennt es nicht! Ihr seid blind gegen die Schönheiten, die wir aus der Ferne an ihm lieben, verehren, anbeten, vergöttern! Ihr macht euch lächerlich, wenn ihr Deutschland auf seine eigene Kraft und Schönheit verweis’t. Wo ist etwas von dieser Kraft und Schönheit? Nicht bei uns, Alles in England. – Wir wollen darüber nicht streiten, und beugen uns demüthig unter den Vorwurf: Ihr kennt England nicht! ohne die Retourkutsche zu besteigen und euch mit dem Gegenvorwurfe in’s Gehege zu fahren: Ihr kennt Deutschland nicht! Ich treibe meine Resignation so weit, daß ich selbst auf unsern Vortheil, daß wir Deutschland und England zugleich factisch und praktisch kennen gelernt, durchlebt und im Detail kennen gelernt haben, während ihr blos die eine Größe wirklich kennt, daß ich selbst auf diesen sehr bedeutenden Vortheil nichts mehr gebe.
Wir sind verliebt in Deutschland, weil wir ausgerissen oder davongejagt sind, und hassen England, weil es uns fremd ist und blieb. Gut. Hier habt ihr so viel Blöße für uns, als ihr nur wünschen mögt. Schreibt diesen Satz ab und donnert uns vollends nieder. Schad’t uns nichts: wir raffen uns doch wieder auf. Wir haben Thatsachen! Nun sind wir allerdings nicht so jung mehr, keine solchen Illusionäre, daß wir glauben sollten, etwas mit Thatsachen gegen echten, wahren Glauben ausrichten zu können. O nein! Es ist psychologisch und historisch erwiesen, daß der wahre Glaube, wenn ihn Thatsachen zu rütteln und zu schütteln suchen, nur um so fanatischer und fester wird. Aber wir haben Thatsachen beiderlei Geschlechts, so zu sagen, englische und deutsche Erlebnisse dicht neben einander. Erstere haben den Vorzug vor letzteren, daß sie uns in ganzer Größe auf eigenem Boden umgeben, während letztere von unserm Patriotismus im Auslande erst mühsam im Kleinen geschaffen werden mußten. Und doch gelingen diese letzteren besser, als erstere, selbst nach englischem Urtheil. Das ist etwas, und könnte allein den kleinmüthigsten Deutschen mitten im stolzen, reichen, mächtigen, freien England stolz machen. Das ist etwas, aber nicht der Rede Werth vor den Augen unserer höheren constitutionellen Herrschaften, die deutschen Stolz auf Deutschland offenbar für einen überwundenen Standpunkt halten. Aber merkwürdig ist’s, daß die Deutschen in England ganz ohne Unterschied ihrer Gesinnungen, Antecedentien und gesellschaftlichen Stellungen – die sie einander entfremden – sich immer unwiderstehlicher von England abgestoßen und zu einander getrieben fühlen.
In dem südlichen Stadttheile Londons, Camberwell, erhebt sich ein breiter Hügel – Dänemark-Hill – mit einer großen deutschen Colonie ohne Flüchtlinge, ohne Noth und Entbehrung. Im Gegentheil: lauter reiche, zum Theil fürstliche Kaufleute, sehr antirevolutionär, sehr flüchtlingsabhold, sehr mäßig constitutionell, vollblut-englisch in ihren City-Geschäften, die sie nicht wegen mangelnder Amnestie treiben, sondern aus freier Wahl und mit alter Liebe, seit Menschenaltern zum Theil. Mancher verdient in einem Tage den Jahresgehalt eines wirklichen Professors oder Geheimeraths. Sie alle leben fürstlich in heitern Palästen in aller Fülle der Lebensfreuden: Palast und Garten, Equipage, Dienerschaften, Weinkeller mit 15 bis 20 Sorten, liebenswürdige Frauen, schöne, blühende Töchter, stattliche Söhne, alle Abende treue, liebe Nachbarn und seidenrauschende, gold- und geschmeidestrahlende Gesellschaften. Was fehlt ihnen noch? Theater? Concerte? Tausenderlei großartige Vergnügungen? Nein, Alles zehn- bis hundertfach häufiger und reichlicher, als irgendwo in Deutschland. Kosten kein Gegenstand. Crösusse zum Theil. Nun, warum genießen sie das große, vergnügungsstrotzende London nicht? Warum stecken sie immer so beisammen auf ihrem Hügel, ohne einen einzigen Engländer unter sich – sie, die seit 20 bis 30 Jahren alle Tage persönlich mit Engländern verkehrten und Geschäfte machten? Warum sieht man nicht einmal englische Dienstboten mehr in ihren Häusern? In der großen, glänzenden deutschen Colonie da oben im Süden draußen keine einzige englische Freundschaft. Selbst eine eigene deutsche Kirche haben sie sich expreß gebaut, und einen eigenen deutschen Pastor haben sie sich verschrieben, obgleich es deutsche Kirchen und deutsche Prediger schon genug gibt in London, und englische noch viel mehr in allen Glaubens- und Secten-Sorten. Und was fehlt ihnen nun noch in dieser Fülle englischen Reichthums? In dieser Fülle ihres deutschen Lebens? Noch mehr Deutschland, das wahre, einige, große, schöne Deutschland, das Literaten- und Dichter-Deutschland. Es gibt deutsche Leihbibliotheken und Buchhandlungen genug in London, und sie haben Geld genug.
Aber warum genügt das nicht? Warum gibt man 500 Thaler für acht Vorträge über deutsche Literatur von Gottfried Kinkel, der zehn englische Meilen weit davon im Norden Londons wohnt? Warum gibt man noch 500 Thaler für acht noch andere Vorträge Kinkel’s über deutsche Literatur? Tausend Thaler für 16 Stunden von etwa 40 Familien, die mitten im Luxus und Reichthum, mitten in dem reichsten, dichtesten Lebensglanze Englands alle englische Herrlichkeit weit billiger haben könnten? Tausend Thaler für 16 Stunden deutsche Literatur und eine siebzehnte zum Besten deutscher Nothleidender? Das ist etwas und will erklärt sein. Die herrliche Kunst freien, flüssigen, sonoren, oratorisch anmuthigen Vortrags von dem großen, stattlichen, blühenden, wenn auch graubärtigen Redner erklärt etwas, aber wenig, denn man kannte auf Dänemark-Hill Kinkel vorher noch nicht mit seiner beneidenswerthen Gabe. Seine früheren Vorträge wurden deutschen Arbeitern in London, die ihn zu diesem Zweck expreß einluden und aus ihren spärlichen Mitteln glänzend honorirten, über Geographie, Geschichte, Literatur u. s. w. gehalten, also in einem Kreise, der den Kaufmannsfürsten am Camberwell fern lag. Sein politisches Märtyrerthum war’s auch nicht. Sie sind sehr mäßig constitutionell, und dieses Märtyrerthum wär’ ein Hinderniß gewesen, wenn das Sehnen und Verlangen nach deutscher, geistiger Nahrung in dem reichen England nicht so stark empfunden worden wäre. Das ist die Erklärung. So hab’ ich sie erlebt, gesehen, empfunden, genossen sechzehn Stunden lang.
Ueber den Inhalt der Kinkel’schen Vorträge selbst sprechen wir nicht. Es kam uns nur darauf an, auf das Terrain, die Physiognomie und die Motive derselben hinzuweisen, auf das tiefe, allgemein gefühlte, heiße Bedürfniß auch der englisirten Deutschen in London (die hier ihre Heimath, ihr Brod und ihre Fülle von Lebensfreuden genießen), als Deutsche zu leben, auf die Unfähigkeit aller englischen Herrlichkeiten, deutsche Culturbedürfnisse zu befriedigen, auf die Unversöhnlichkeit des englischen und deutschen Wesens. Wenn wir letzterem als Deutsche einen Vorzug geben, können wir uns parteiisch irren. Aber irren ist menschlich und in diesem Falle schön, ewig schön.