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Kein Schwindel!

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Textdaten
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Autor: Walter v. S.
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Titel: Kein Schwindel!
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aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 831-832
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Blätter und Blüthen.

Kein Schwindel! Eine ganz wunderbare, mächtige Empfindung ist es, die den sonst muthigsten Menschen plötzlich mit arger Furcht erfüllen kann, die ihn, den Kopf schwer machend, in die Tiefe zieht und mit Schauder und Erstarrung seine Glieder widerstandslos erschlaffen macht; – beim Anblick einer eigentlich gar nicht vorhandenen Gefahr. Ist es doch so leicht, auf kleinem Raum ruhig und fest zu stehen, sich auf einer schmalen Fläche sicher und zwanglos zu bewegen. Und doch wird diese solide Flache von der nächsten, aber doch eigentlich ganz überflüssigen Umgebung nur etwas getrennt oder gar gehoben, so entstehen und steigern sich Balance-Schwierigkeiten in ganz unbegreiflicher Weise. Nicht jeder Mensch ist der Schwäche des Schwindels unterworfen – von dem Krankheitszustand sehe ich ab, – Kinder beinahe gar nicht, und die Uebung vermag bei Erwachsenen sehr viel gegen denselben. – Aber auch der Geübteste ist nicht sicher vor seiner gefährlichen Macht, welche nicht allein die Augen, sondern alle Sinne zu seinem Unheil unvorhergesehen ergreifen kann, um ihn ins Verderben zu stürzen.

Wer hat nicht schon von der Martinswand im tyroler Innthal sprechen hören, eine Abbildung derselben gesehen oder eine Beschreibung gelesen von jenem berühmten Gebirgs-Punkt, von welchem die Sage den Kaiser Maximilian I., der, ein leidenschaftlicher Jäger, sich während einer Gemsjagd dahin verstieg und zwei Tage dort verweilen mußte, durch einen Engel retten läßt? – Heut zu Tage ist es dort nicht mehr so gefährlich, als damals, zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, und auf gangbarem, wenn auch nicht immer bequemem Pfade kann der Reisende den berühmten Punkt jetzt erreichen, die herrliche Aussicht in das sich ausbreitende Innthal und auf die gegenüber liegenden Gebirge genießen und ohne große Gefahr wieder herunter gelangen. – In unsern praktischen Zeiten braucht man keine Engel mehr und bedient sich im schlimmsten Falle, gegen billiges Honorar, eines wegweisenden Hirtenknaben.

Im Sommer des Jahres 1843 – ich war damals Cadet eines österreichischen Infanterie-Regiments, welches in Innsbruck zur Zeit garnisonirte – beschlossen 4 meiner Collegen einen Ferientag zu benutzen und einen Besuch auf der Martinswand zu machen. Ich schloß mich der Partie an, und so machten wir uns, 5 an der Zahl, eines frühen Morgens auf die Beine und erreichten, längs des linken Innufers stromaufwärts schreitend, den etwa 4–5 Stunden westwärts von Innsbruck gelegenen Martinsberg in der Nähe des Dorfes Zal. Der Inn drängt da ziemlich dicht an die steil abstürzenden Berge heran, während jenseit des Flusses, den etwas weiter stromaufwärts eine schöne Brücke ziert, das Thal sich etwas ausbreitet und in Hügel-Gruppirungen successive erhebt. Von einem durch vorspringende Felsmassen der Strömung abgetrotzten Stück Landes kann man indeß auch vom rechten Ufer aus, mit etwas erhobenem Haupte, einen deutlichen Anblick der Martinswand gewinnen. Dieselbe stürzt mit geringen Unterbrechungen beinahe senkrecht nieder. Etwa 600 Fuß hoch sieht man in dieser platt scheinenden, kolossalen grau-gebräunten Granitwand eine offenbar künstlich hergestellte Höhle, an deren Rand Christus am Kreuz nebst den beiden Standbildern Maria und Johannes, in Eisenguß ausgeführt, angebracht zu erblicken sind, – und so von unten betrachtet, scheint es wirklich ganz unmöglich, ohne Benutzung des Luft-Ballons dahin gelangen zu können.

Zur richtigen Angriffsstelle geleitet, schritten wir alsbald heiter plaudernd und scherzend den sich steil hin und her schlingenden, ziemlich bequemen Weg bergauf, und waren nur erstaunt, aller Augenblicke unseren kleinen, im Thale mitgenommenen, etwa 9 Jahre alten Führer verschwinden und dann wieder in beträchtlicher Höhe über uns auf irgend einem Felsen sitzen und sein mitgebrachtes Brod kauen zu sehen. Der kleine Kobold verschmähte den gebahnten Pfad und schwang sich mit der Leichtigkeit einer Gemse, der er seine Kunststücke abgelernt zu haben schien, in die Höhe, unser Herannahen immer abwartend, um wieder in ähnlicher Weise vorauf zu springen. Jetzt aber blieb er sitzen und ließ uns dicht an sich heran kommen. Wir waren so etwa 400 Fuß hoch gestiegen. „Legt’s enkern Sabeln wek, ös könnt’s net geh’n damit“,[1] sagte der kundige Führer. Wir aber trugen Bedenken unsere Waffen so mir nichts dir nichts ohne Obhut im Freien liegen zu lassen. „Des braucht’s enk net z’fürchten, s’kummt Kaner, der enk was stöhlen det,“[2] meinte der junge Mensch, und wir, seinen biederen Worten vertrauend, entschlossen uns seinem erfahrenen Rath zu folgen. – Der Junge schritt jetzt langsamer vor uns her, indeß noch behende genug, so daß wir 5 im Gänsemarsch Folgenden (denn der Weg fing an, immer mehr einer mathematischen Linie ohne Ausdehnung in die Breite zu gleichen) unsere Lungen in arge Contribution setzen mußten, um mit ihm gleichen Schritt zu halten. Die Bergfahrt ging indeß, wenn auch nicht unbeschwerlich, doch ohne namhafte Schwierigkeiten von statten, bis wir jetzt förmlich ins Freie, an die von unten platt scheinende Felswand hinaus treten mußten. In den Granit ist da künstlich ein Pfad gesprengt und gemeißelt und die oben überhängende Felswand ab und zu mit eisernen Ringen, welche in das Gestein mittelst Blei festgegossen sind, versehen.

Besteigen hohe Herrschaften oder reiche Engländer etc. in Begleitung von Damen die Martinswand, wobei die Damen sich unten im Thal bereitgehaltener Beinkleider bedienen, dann kann auf Verlangen und gegen entsprechendes Honorar durch diese Ringe ein Tau geleitet und so ein stetiger Anhalt hergestellt werden. Wir aber hatten von dieser Vorrichtung nur den Vortheil, daß wir die 6–8 und mehr Schritte auseinander reichenden Ringe als Ruhepunkte benutzen konnten, was allerdings auch nicht unwesentlich war. – Kaum hatten wir etwa 20 Schritte dieses wirklich gefährlichen Pfades zurückgelegt, als der Vorderste meiner Cameraden einen unarticulirten Schrei ausstieß! Ich, in der Meinung, er sei gestürzt, drängte mich augenblicklich erschreckt dichter an die Wand, sah indeß, in die Tiefe zu meiner Rechten starrend, daß es nur eine Mütze war, welche hinab fiel und, von der abstürzenden Felswand kaum im senkrechten Falle gehindert, rasch bis ins Thal hinunter gelangte. Der Besitzer der Mütze, plötzlich vom Schwindel ergriffen, hatte sich noch glücklich niedergeworfen und war um keinen Preis zu vermögen wieder aufzustehen oder auch nur den Kopf zu erheben, den er mit festgeschlossenen Augen an die Felswand drängte. Das Alles konnte ich zwar anfänglich nicht sehen, da zwischen mir und dem am Boden Liegenden noch 2 Personen waren, die mir die Aussicht sperrten. Als wir uns jedoch nach einigem Abwarten und vergeblichem Ansprechen entschlossen hatten, ohne den vom Schwindel Ergriffenen vorwärts zu schreiten, waren meine beiden Vorderleute über jenen hinweggestiegen, so daß ich zu dem an der Felswand wie leblos Liegenden gelangte. Mit gespreizten Beinen stellte ich mich nun über denselben, und so gelang es mir, ihm nach und nach solche Hülfe zu leisten, daß er endlich bis zum Knieen aufgerichtet war. Jetzt trat ich ganz hinüber und faßte dessen rechten Arm, während mein Hintermann seinen linken ergriff, und so, alle drei die Gesichter der Felswand zugekehrt, gelang es uns, den noch immer an allen Gliedmaßen Schlotternden seitwärts die gefährlichste Strecke zurück zu schieben.

Wieder auf einigermaßen sicherem, moosbewachsenem Boden angelangt, überfiel den Erkrankten eine Uebelkeit nach der andern, in Begleitung der heftigsten Erbrechungen, und es war demnach keine Aussicht, daß der Anfall vorübergehen und mein Camerad in den Stand kommen würde, die Bergreise wieder antreten zu können; aber auch meinem Hintermann war die Lust weiter zu steigen vergangen, und die Beiden machten mir den Vorschlag, bei dem Waffenversteck meine und der anderen Beiden Rückkehr zu erwarten, falls ich noch Lust hätte in die Höhle hinauf zu steigen.

Gesagt – gethan; ich stieg wieder bergauf! – Der Führer und die beiden Cameraden waren natürlich bereits so weit vorauf, daß ich sie nicht mehr erblicken konnte. Der offene Pfad lag indeß unfehlbar vor mir; ich stieg also hoch und höher, Hollaho! schreiend, das in unzähligen Echo’s mir wiederum zurückklang, so daß ich nicht wußte, ob es meine eigene Stimme oder die Antwort meiner Cameraden war, die ich tönend vernabm. – Etwa 10–12 Minuten lang war ich allein! da oben, zwischen Himmel und Erde, an die Felswand geklebt. Es wurde mir doch ein wenig schauerlich zu Muthe, und ich dachte, weiß es Gott, an Gefahren, die mir wahrscheinlich in Gesellschaft niemals eingefallen wären. Jedoch, immer rüstig vorwärts schreitend, erreichte ich einen Ring nach dem andern und stand nach einer kurzen Wendung vor etwa 6–8, wenn auch weit auseinander reichenden, doch förmlichen Stufen, welche in die nunmehr erreichte Maximilians-Höhle hineinführten.

Meine beiden Cameraden waren bereits mit dem Führer in derselben und ließen den Blick ins weite Thal über den Inn hinüber schweifen. „Hollaho!“ schrie ich, denn die oben bemerkten, mit der Bewunderung des gegenüber liegenden mit Dörfern und Bauten reich geschmückten Mittelgebirges eifrig beschäftigt, meine Annäherung nicht. –

„Ah!“ rief Einer der Beiden, durch mein Gejohle aufmerksam gemacht, zu mir herunter; „bist Du wirklich auch da, Franz? Wir dachten schon, Du hättest auch die Courage verloren!“

Ein paar lustige Sprünge, und ich war oben in der sicheren Höhle. – „Ihr habt Unrecht,“ demonstrirte ich, ganz den Zweck meines hohen Höhlen-Besuches im ersten Eifer vergessend, – „Ihr habt Unrecht, unseren Cameraden der Muthlosigkeit zu beschuldigen, – da ihr ihn doch sonst als einen kecken, unerschrockenen und kaltblütigen Burschen kennt.“ – Und es ist wahr, der Erkrankte hatte schon mehr als einmal wirklich entschlossenen Muth gezeigt, und wir alle sahen ihn früher, bei Gelegenheit eines Duells ruhig in die schwarze Mündung des Pistolenlaufes seines Gegners blicken, dem er dann als Zweiter zum Schuß ins dicke Fleisch des Oberschenkels, wie er das versprochen hatte, schoß. – „Der Schwindel,“ fuhr ich fort, „ist eine Krankheit wie jede andere, es läßt sich dagegen wenig thun.“

„Was da Schwindel!“ entgegnete der Eine, „der feste Wille kann ihn besiegen. –“

„Wenn Du das besser weißt,“ antwortete ich, „so mag es sein; ich kann wenig davon sagen, da ich keinen Schwindel kenne!“

„So!“ fuhr der erste Sprecher fort; „dann steige da hinaus und blicke hinunter in das Thal; dann wirst Du ihn gleich kennen lernen!“ und dabei deutete er lachend auf das ungefähr 12–14 Fuß hohe, dicht am Rande der Höhle befestigte Christus-Kreuz!

„Meinethalben!“ antwortete ich in einem Anfluge leichtsinnigen Muthwillens und stieg auf die in der Höhe von 31/2 Fuß quer vor die Oeffnung der Höhle gelegte Eisenstange, welche, die erwähnten 3 Standbilder, mit ihren Enden in die Felsen versenkt und mit Blei fest gegossen, verbindend, ein haltbares Geländer für die Höhlenbesucher bildet. – Selbst nahe an sechs Fuß lang, war es mir von da aus leicht, den Querbalken des Kreuzes zu erreichen, und eins, zwei, drei, saß ich dem eisernen Christus auf den Schultern. Plötzlich griff einer der Cameraden mit beiden Händen an das Kreuz, und indem er daran zu rütteln versuchte, schrie er wie im Schreck auf: „Jesus Maria – das Kreuz stürzt!“

Wankte das Kreuz wirklich, oder wankte nur mein innerer Mensch? Das Thal brauste in Windeseile zu mir herauf, die Dinge verloren Gestalt und Form, meine Besinnung war hin, und ich stürzte mit gewaltigem Schlage nieder. Das war die letzte Empfindung, deren ich mich dumpf erinnere! Nach einigen Minuten erwachend, fand ich mich mit wundgeschlagenen Gliedmaßen im Hintergrund der Höhle liegend. – Im Schreck war ich mit einem Satz vom Kreuz gesprungen, und glücklich in die Höhle zurück, wo ich augenblicklich besinnungslos niederstürzte.

Es ist ein schlechter Spaß, den ich da erzählte, lieber Leser, das sehe ich heute wohl ein, wir waren sämmtlich 19–20jährige Bursche und junge Soldaten, deren Uebermuth man schon etwas zu Gute halten kann. – Als ich erwacht und kurz darauf wieder leidlich fest auf den Beinen war, frugen mich meine Cameraden, ob ich nun wisse, was der Schwindel ist?! –

[832] und meinten, jetzt könnte ich erst beweisen, ob ich wirklich Muth habe, da ein schönes Stückchen Probe unumgänglich vor mir läge, und bergab die Fahrt noch schlimmer als bergauf sei. – Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich mich entschließen konnte, an den Heimweg zu gehen! Mit meinem sicheren Dahinschreiten war es vorbei, und ich hatte meine liebe Noth, mich an mehreren Stellen aufrecht zu erhalten. Nur dem festen Willen, den Blick weder nach oben noch unten, sondern scharf und gerade auf den Weg vor mir zu richten, hatte ich es zu verdanken, daß ich an der gähnenden Gefahr neben mir schadlos vorüber glitt. Durch meinen Muthwillen hatte ich mir für alle Zeiten die Möglichkeit verscherzt, furchtlos in einen Abgrund blicken zu können, obgleich meine Natur eigentlich nicht zum Schwindel geneigt ist. Selbst bei Tiefe von nur 40–50 Fuß sehe ich jetzt, was noch nie ein Mensch gesehen, daß sich die Erde dreht.
Walter v. S.     



  1. Legt euere Säbel weg (ab), ihr könnt nicht weiter damit gehen.
  2. Ihr braucht euch nicht zu fürchten, es kommt Keiner hierher, der euch etwas stehlen würde.