Zum Inhalt springen

Jud Süß

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Wilhelm Hauff
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Jud Süß
Untertitel:
aus: W. Hauffs Werke, Bd. III: Novellen, S. 380–454
Herausgeber: Max Mendheim
Auflage:
Entstehungsdatum: 1827
Erscheinungsdatum: 1891–1909
Verlag: Bibliographisches Institut
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig und Wien
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans auf commons
Kurzbeschreibung:
siehe auch die Anmerkungen des Herausgebers aus diesem Band
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[380]
Jud Süß.


 „Ein ernstes Spiel wird euch vorübergehen,
 Der Vorhang hebt sich über einer Welt,
 Die längst hinab ist in der Zeiten Strom,
 Und Kämpfe, längst schon ausgekämpfte, werden
 Vor euren Augen stürmisch sich erneun.“
 L. Uhland.[1]

1.

Das Karneval war nie in Stuttgart mit so großem Glanz und Pomp gefeiert worden als im Jahr 1737. Wenn ein Fremder in diese ungeheuern Säle trat, die zu diesem Zwecke aufgebaut und prachtvoll dekoriert waren, wenn er die Tausende von glänzenden und fröhlichen Masken überschaute, das Lachen und Singen der Menge hörte, wie es die zahlreichen Fanfaren der Musikchöre übertönte, da glaubte er wohl nicht in Württemberg zu sein, in diesem strengen, ernsten Württemberg, streng geworden durch einen eifrigen, oft ascetischen Protestantismus, der Lustbarkeiten dieser Art als Überbleibsel einer andern Religionspartei haßte; ernst, beinahe finster und trübe durch die bedenkliche Lage, durch Elend und Armut, worein es die systematischen Kunstgriffe eines allgewaltigen Ministers gebracht hatten.

Der prachtvollste dieser Freudentage war wohl der zwölfte Februar, an welchem der Stifter und Erfinder dieser Lustbarkeiten und so vieles andern, was nicht gerade zur Lust reizte, der [381] Jud Süß[2], Kabinettsminister und Finanzdirektor, seinen Geburtstag feierte. Der Herzog hatte ihm Geschenke aller Art am Morgen dieses Tages zugesandt; das Angenehmste aber für den Kabinettsminister war wohl ein Edikt, welches das Datum dieses Freudentages trug, ein Edikt, das ihn auf ewig von aller Verantwortung wegen Vergangenheit und Zukunft freisprach. Jene unzähligen Kreaturen jeden Standes, Glaubens und Alters, die er an die Stelle besserer Männer gepflanzt hatte, belagerten seine Treppen und Vorzimmer, um ihm Glück zu wünschen, und manchen ehrliebenden biedern Beamten trieb an diesem Tage die Furcht, durch Trotz seine Familie unglücklich zu machen, zum Handkuß in das Haus des Juden.

Dieselben Motive füllten auch abends die Karnevalssäle. Seinen Anhängern und Freunden war es ein Freudenfest, das sie noch oft zu begehen gedachten; Männer, die ihn im stillen haßten und öffentlich verehren mußten, hüllten sich zähneknirschend in ihre Dominos und zogen mit Weib und Kindern zu der prachtvollen Versammlung der Thorheit, überzeugt, daß ihre Namen gar wohl ins Register eingetragen und die Lücken schwer geahnet würden; das Volk aber sah diese Tage als Traumstunden an, wo sie im Rausch der Sinne ihr drückendes Elend vergessen könnten; sie berechneten nicht, daß die hohen Eintrittsgelder nur eine neue indirekte Steuer waren, die sie dem Juden entrichteten.

Der Glanzpunkt dieses Abends war der Moment, als die Flügelthüren aufflogen, eine erwartungsvolle Stille über der Versammlung lag und endlich ein Mann von etwa vierzig Jahren, mit auffallenden, markierten Zügen, mit glänzenden, funkelnden Augen, die lebhaft und lauernd durch die Reihen liefen, in [382] den Saal trat. Er trug einen weißen Domino, einen weißen Hut mit purpurroten Federn, auf welchen er die schwarze Maske nachlässig gesteckt hatte; es war nichts Prachtvolles an ihm, als ein ungewöhnlich großer Solitär[3], welcher am Hals die purpurrote Bajute[4] von Seidenflor, die über den Domino hinabfiel, zusammenhielt. Er führte eine schlanke, zartgebaute Dame, die, in ein mit Gold und Steinen überladenes orientalisches Kostüm gekleidet, aller Augen auf sich zog.

„Der Herr Finanzdirektor, der Herr Minister“, flüsterte die Menge, als er vornehm grüßend durch die Reihen ging, die sich ihm willig öffneten, und als er in der Mitte des Hauptsaales angekommen war, begrüßten ihn Trompeten und Pauken, und ein nicht unbeträchtlicher Teil der Masken klatschte ihm Beifall, während man andere wie von einem unzüchtigen Schauspiele sich abwenden sah. Aber allgemein schien die Teilnahme, womit man die schöne Orientalin betrachtete, die mit dem Minister gekommen war. Seine Lebensweise war zu bekannt, als daß nicht die meisten unter der Larve der reich geschmückten Dame eine seiner Freundinnen geahnet hätten, nur darüber schien man uneinig, welcher von diesen solche Auszeichnung zu teil geworden sei; die eine schien zu klein für diese Figur, die andere zu korpulent für diese zierliche Taille, die dritte zu schwerfällig, um so leicht und beinahe schwebend über den Boden zu gleiten, und einer vierten, bei welcher man endlich stille stehen wollte, konnte nicht dieses glänzend schwarze Haar, das in reichen Locken um den stolzen Nacken fiel, nicht dieses herrliche, dunkle Auge gehören, das man aus der Maske hervorleuchten sah.

Die Menge pflegt, wenn ihre Neugier nicht sogleich befriedigt wird, bei Gelegenheiten von so glänzender und rauschender Art, wie dieser Karneval war, nicht lange bei einem Gegenstand stille zu stehen. „Wenn sie die Maske abnimmt, wird man ja sehen“, sprach man, ohne der Dame noch längere Aufmerksamkeit zu schenken, als nötig war, um zu bemerken, wie sie zum [383] Menuett antrat. Aber drei junge Männer, die müßig hinter den Reihen der Tanzenden standen, schienen diese Erscheinung noch immer unablässig zu verfolgen.

„Wer sie nur sein mag!“ rief der eine ungeduldig; „ich wollte gern dem verzweifelten Juden fünfzig Eintrittskarten abkaufen, wenn er mir sagte, woher dieses Mädchen kommt, das er wie eine Fürstin in den Saal führte.“

„Herr Bruder!“ erwiderte der zweite, indem er unter dem Sprechen kein Auge von der Orientalin abwandte, „Herr Bruder, parole d’honneur![WS 1] diese Widersprüche kann ich nicht vereinigen, und wenn ich bei Cartesius[5] selbst die Logik samt dem cogito, ergo sum studiert hätte; eine so ungewöhnlich feine Gestalt, diese Haltung, diese nach den neuesten und vornehmsten Regeln abgemessene Bewegung, diese Art, das Handgelenk rund und spielend zu bewegen, wie ich sie nur in den bedeutendsten Zirkeln zu Wien und Paris sah, dieser Anstand, womit sie den Nacken trägt“ –

„Gott verdamm’ mich, du hast recht, Herr Bruder“, unterbrach ihn der dritte, „dieses alles und – mit Süß auf den Ball zu kommen! Nein, ein solcher Kontrast ist mir in meinem Leben nicht vorgekommen!“

„Aus unserer Bekanntschaft“, fuhr der erste fort, „aus unsern Kreisen kann sie nicht sein; denn wenn es auch wahr ist, was man flüstert, daß schon mancher elende Kerl von einem Vater seine Tochter mit einer Bittschrift zum Juden schickte, so laut läßt keiner seine Schande werden, daß er sein leibliches Kind mit dieser Mazette[6] auf den Ball schickt!“

„Bitte dich ums Himmelswillen, Herr Bruder, nicht so laut, er hat überall seine Spione, und uns ist er ohnedies nicht grün; denk’ an deine Familie. Willst du dich unglücklich machen? Aber wahr ist’s, es kann kein Mädchen aus bessern Ständen sein, und doch ist ihr Wesen für eine Bürgerstochter zu anständig. Doch halt, wer ist der Sarazene, der dort auf uns zukommt? Die [384] Farbe seines Turbans ist ja dieselbe, wie ihn die Scharmante des Juden hat!“

Die jungen Männer wandten sich um und sahen einen schlanken, schön gewachsenen Mann, der, als Sarazene gekleidet, sich durch die einfache Pracht seines Kostüms wie durch Gang und Haltung vor gemeineren Masken auszeichnete. Auch er schien die jungen Männer ins Auge gefaßt zu haben, denn er ging langsam an sie heran und zögerte, an ihnen vorüber zu schreiten.

„Was ist deine Parole“, fragte der eine der jungen Männer, der in der Maske einen Freund zu erkennen glaubte; „hast du nur dein Allah zum Feldgeschrei oder weißt du sonst noch ein Sprüchlein?“

„Gaudeamus igitur, juvenes dum sumus“[WS 2], erwiderte der Sarazene, indem er stille stand.

„Er ist’s, er ist’s“, riefen zwei dieser jungen Herrn und schüttelten die Hand des Sarazenen; „gut, daß wir die Parole gaben, ich hätte sonst kein Erkennungszeichen für dich gehabt, denn ich war meiner Sache so gewiß, du seiest als Bauer hier, daß ich mit dem Kapitän eine Flasche gewettet habe, du müßtest ein Bauer sein!“

„Laßt uns ans Büffett treten“, sagte der zweite, „ich habe dir hier jemand vorzustellen, Bruder Gustav, der sich auf deine Bekanntschaft freut, und du weißt, in Larven erkennt man sich schlecht.“

„Freund“, erwiderte Gustav, „ich nehme die Larve nicht ab, ich habe Gründe; so angenehm mir die Bekanntschaft dieses Herrn wäre, so muß ich sie doch bis auf morgen versparen.“

„Und wenn es nun Pinassa wäre, nach welchem du so oft gefragt?“ antwortete jener.

„Pinassa? mit dem du dich geschlagen? Nein, das ändert die Sache, den will ich sehen und begrüßen; aber – meine Maske nehme ich nur auf zwei Augenblicke und im fernsten Winkel des Speisesaals ab.“

„Wir sind’s zufrieden, Bruder Sarazene“, antwortete der Kapitän. „Aber laß uns nur erst an die zweite Flasche kommen, dann sollst du auch die Gründe beichten, warum du dein Angesicht nicht leuchten lassen willst vor den Freunden!“


[385]
2.

In dem Speisesaal, welchen sie wählten, waren nur wenige Menschen, denn man verkaufte hier nur ausgesuchte Weine, feine Früchte und warme Getränke, während die größeren Trinkstuben, wo Landwein, Bier und derbere Speisen zu haben waren, die größere Menge an sich zogen. In einer Ecke des Zimmers war ein Tischchen leer, wo der Sarazene, wenn er dem übrigen Teil des Saales den Rücken kehrte, ohne Gefahr erkannt zu werden, die Maske abnehmen konnte. Sie wählten diesen Platz, und als die vollen Römer vor ihnen standen, legten die zwei jungen Krieger die Masken ab, und der Kapitän begann: „Herr Bruder, ich habe die Ehre, dir hier den unvergleichlichen Kavalier Pinassa vorzustellen, den berühmtesten Fechter seiner Zeit; denn es gelang ihm, durch eine unbesiegliche Terz-Quart-Terz, mich, bedenke mich, den Senior des Amicistenordens, in Leipzigs unvergeßlichem Rosenthal hors de combat[WS 3] zu machen. Er hat gleich mir die Musen verlassen, hat gesungen: ‚Will mir Minerva nicht, so mag Bellona raten‘[7], und hat den alten Hieber und sein ungeheures Stichblatt, worauf er sein Frühstück zu verzehren pflegte, mit dem Paradedegen eines herzoglich württembergischen Lieutenants vertauscht.“

„Der Tausch ist nicht übel, Herr von Pinassa, und mein Vaterland kann sich dazu Glück wünschen“, sagte der Sarazene, indem er sich vor dem neuen Lieutenant verbeugte. „Wolltet Ihr einmal in unsern Dienst treten, so war diese Laufbahn die angenehmste. Der Zivilist hat zu dieser Zeit wenig Aussicht, wenn er nicht ein Amt für fünftausend Gulden oder für sein Gewissen und ehrlichen Namen beim Juden kaufen will. Doch diese dünnen Bretterwände haben Ohren – stille davon, es ist doch nicht zu ändern. Wie anders sind Eure Verhältnisse! Der Herzog ist ein tapferer Herr, dem ich einen Staat von zweimalhunderttausend Kriegern gönnen möchte; für uns – ist er zu groß. Der Krieg [386] ist sein Vergnügen, ein Regiment im Waffenglanz seine Freude; leider fällt für uns andere selten eine müßige Stunde ab, und daher kommt es, daß diese Juden und Judenchristen das Zepter führen. Er gilt für einen großen General, er hat mit Prinz Eugen schöne Waffenthaten verrichtet, und ein schlanker junger Mann, mit einer Narbe auf der Stirne, Mut in den Blicken, wie Ihr, Herr von Pinassa, ist ihm jederzeit in seinem Heere willkommen.“

„Was der Sarazene altklug sprechen kann über Juden und Christen!“ sprach der Kapitän. „Doch öffne dein Visier und zeige deine Farben, mein Kamerad soll nun auch wissen, mit wem er spricht; das ist der umsichtige, rechtskundige, fürtreffliche Herr juris utriusque Doctor[WS 4] Lanbek, leiblicher Sohn des berühmten Landschaftskonsulenten[WS 5] Lanbek, welchem er als Aktuarius[WS 6] substituiert ist; ein trefflicher Junge, parole d’honneur! wenn er sich nicht neuerer Zeit hin und wieder durch sonderbare Melancholei prostituierte, noch trefflicher, wenn ihm der Herr auch einen Sinn für das schöne Geschlecht eingepflanzt hätte.“

Lanbek nahm bei diesen Worten die Maske ab und zeigte dem neuen Bekannten ein errötendes Gesicht von hoher Schönheit. Unter dem Turban stahlen sich gelbe Locken hervor und umwallten kunstlos und ungepudert die Stirne. Eine kühn gebogene Nase und dunkle, tiefblaue Augen gaben seinem Gesicht einen Ausdruck von unternehmender Kraft und einen tiefen Ernst, der mit den weichen Haaren und ihrer sanften Farbe in überraschendem Widerspruche war. Doch das Strenge dieser Züge und dieser Augen milderte ein angenehmer Zug um den Mund, als er antwortete: „Ich öffne mein Visier und zeige Euch ein Gesicht, das Euch recht herzlich bei uns willkommen heißt. Ich trinke auf Euer Wohl dieses Glas, dann aber werdet Ihr entschuldigen, wenn ich aufbreche.“

„Pro poena trinkst du zwei“, rief der Kapitän mit komischem Pathos, indem er einen ungeheuern Hausschlüssel aus der Tasche nahm und ihn als Zepter gegen den Sarazenen senkte; „hast du so wenig Ehrfurcht vor deinem Senior, daß du dich erfrechst, in Loco Gläser zu trinken, ohne daß sie dir ordentlich vom Präses [387] diktiert sind? O tempora, o mores![WS 7] Wo ist Zucht und Sitte dieser Füchse hin? Pinassa! Zu unserer Zeit war es doch anders!“

Die jungen Männer lachten über diese klägliche Reminiszenz des ehmaligen Amizistenseniors; der Kapitän aber faßte Lanbek schärfer ins Auge und sagte: „Herr Bruder! nimm mir’s nicht übel, aber in dir steckte schon lang etwas wie ein Fieber, und heute abend ist die Krisis; ich setze meine verlorene Flasche, davon geht nichts ab, aber ich wette zehn neue; sei ehrlich Gustav – du warst heute abend schon als Bauer hier, und dein Alter weiß nichts vom Sarazenen.“

Gustav errötete, reichte dem Freunde die Hand und winkte ihm ein Ja zu.

„Alle Tausend!“ rief der Kapitän; „Junge, was treibst du? Wer hätte das hinter dem stillen Aktuarius gesucht? Auf dem Karneval das Kostüm zu ändern! Und so ängstlich, so geheimnisvoll, so abgebrochen; willst du etwa dem Juden zu Leibe gehen?“

Der Gefragte errötete noch tiefer und nahm schnell die Maske vor; ehe er noch antworten konnte, sagte Reelzingen: „Herr Bruder, du bringst mich auf die rechte Fährte. Wo habt ihr beide, du und die Orientalin, die der Finanzdirektor führte, das Zeug zu euren Turbanen gekauft? Gustav, Gustav!“ setzte er, mit einem Finger drohend, hinzu, „du wohnst dem Juden gegenüber, ich wette, du weißt, wer die stolze Donna ist, die er führt.“

„Was weiß ich!“ murmelte Lanbek unter seiner Larve.

„Nicht von der Stelle, bis du es sagst“, rief der Kapitän; „und wenn du auf deinem Trotz beharrst, so schleiche ich mich an die Orientalin und flüstere ihr ins Ohr, der Sarazene habe mich in sein Geheimnis eingeweiht.“

„Das wirst du nicht thun, wenn ich dich ernstlich bitte, es zu unterlassen“, erwiderte der junge Mann, wie es schien, sehr ernst; „wenn ich übrigens Vermutungen trauen darf, so ist es Lea Oppenheimer, des Ministers Schwester. Und nun adieu! Wenn ihr mir im Saal begegnen solltet, kennt ihr mich nicht, und Reelzingen, wenn mein Vater fragt –“

„So weiß ich nichts von dir, versteht sich“, erwiderte dieser. Der Sarazene erhob sich und ging. Die Freunde aber sahen [388] einander an, und keiner schien zu wissen, ob er recht gehört habe oder wie er dies alles deuten solle? „Hat denn der Jude eine Schwester?“ fragte Pinassa.

„Man sprach vor einiger Zeit davon, daß er eine Schwester zu sich genommen habe, doch hielt man sie für noch ganz jung, weil sie sich nirgends sehen läßt“, erwiderte Reelzingen nachdenklich; „und wie er errötete!“ setzte er hinzu. „Herr Bruder, du wirst sehen, da läßt auch einmal wieder der Satan einen vernünftigen Jungen einen dummen Streich machen!“


3.

Lanbek irrte, als er die Freunde verlassen hatte, in den Sälen umher; seine Blicke gleiteten unruhig über die Menge hin, sein Gesicht glühte unter der Larve, und mühsam mußte er oft nach Atem suchen, so drückend war die Luft in dem Saale und so schwer lag Erwartung, Sehnsucht und Angst auf seinem Herzen. Dichter und stürmischer drängte sich die Menge, als er in die Mitte des zweiten Saales kam; mit Mühe schob er sich noch eine Zeitlang durch, aber endlich riß ihn unwillkürlich der Strom fort, der sich nach einer Seite hindrängte, und ehe er sich dessen versah, stand er an einem Spieltisch, wo Süß mit einigen seiner Finanzräte Karten spielte. Große Haufen Goldes lagen auf dem Tische, und die neugierige Menge beobachtete den berühmtesten Mann ihres Landes und teilte sich flüsternd und murmelnd Bemerkungen mit über die ungeheuern Summen, die er, ohne eine Miene zu verändern, hingab oder gewann.

Gustav hatte den Gewaltigen noch nie so in der Nähe beobachtet wie jetzt, da er, festgehalten durch die Menge, die wie eine Mauer um ihn stand, zum unwillkürlichen Beobachter wurde. Er gestand sich, daß das Gesicht dieses Mannes von Natur schön und edel geformt sei, daß sogar seine Stirne, sein Auge durch Gewohnheit zu herrschen etwas Imponierendes bekommen haben; aber feindliche, abstoßende Falten lagen zwischen den Augbraunen da, wo sich die freie Stirne an die schön geformte Nase anschließen wollte, das Bärtchen auf der Oberlippe konnte einen [389] hämischen Zug um den Mund nicht verbergen, und wahrhaft greulich schien dem jungen Mann ein heißeres, gezwungenes Lachen, womit der jüdische Minister Gewinn oder Verlust begleitete.

Während die Herren, von der Menge umlagert, spielten und auf irgend etwas zu warten schienen, trat ein Mann in der Kleidung eines Bauern aus der Steinlach aus den Reihen der Neugierigen; ein alter Hut auf dem Kopf, eine grobe blaue Jacke, eine rote Weste mit großen Knöpfen von Zinn, Beinkleider von gelbem Leder und schwarze Strümpfe machten sein unscheinbares Kostüm aus; aber er trug eine sehr feine, gutgemalte Larve. Er stützte sich nach Art der Landleute mit der Hand auf den fünf Fuß hohen Knotenstock, legte sein Kinn auf die Hand und sprach in gut nachgeahmtem Dialekt des Steinlachthals:

„Viel Geld habt Ihr da liegen, Herr! und habt alles selbst verdient?“

Der Minister sah sich um und bemühte sich, über diese Maskenfreiheit zu lächeln. Vielleicht mochte ihm diese Gelegenheit erwünscht kommen, um sich ein populäres Ansehen zu geben, denn er antwortete sehr freundlich: „Guten Abend, Landsmann.“

„Euer Landsmann bin ich gerade nicht“, erwiderte der Bauer mit großer Ruhe; „so wie ich tragen sich gewöhnlich die Mausche[WS 8] nicht.“ Ein unterdrücktes Lachen flog durch die Reihen der Zuschauer. Der Minister schien es aber nicht zu bemerken, denn er fuhr ganz leutselig fort:

„Du bist witzig, mein Freund.“

„Gott bewahr’ mich, daß ich Euer Freund sei, Herr Süß“, entgegnete der Bauer. „Wär’ ich Euer Freund, so ging ich wohl nicht in dem schlechten Rock und durchlöcherten Hut; Ihr macht ja Eure Freunde reich.“

„Nun, dann muß ganz Württemberg mein Freund sein, denn ich mache es reich“, sagte Süß und begleitete seine Rede mit heißerem, unangenehmem Lachen.

„Ihr seid ein allerwelts Goldmacher“, entgegnete der Bauer. „Wie schön diese Dukaten sind! Wieviel Schweißtropfen armer Leute gehen wohl auf ein solches Goldstück?“

[390] „Du bist ein kapitaler Kerl!“ rief Süß, ganz ruhig weiter spielend.

Als der Bauer zu einer neuen Rede ansetzen wollte, zog eine neue Gestalt die Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein Mann, dessen Kostüm beinahe ebenso war wie des Bauers, nur hatte er einen langen, spitzen Bart am Kinn und trug einen Tressenrock. Der Bauer sah ihn eine Zeitlang verwundert an, schüttelte ihm dann die Hand und rief: „Ei Hans! Wo kommst du her, und so schmuck und stattlich! Gar nicht mehr wie unsereiner!“

„Das macht“, erwiderte Hans, indem er aus einer silbernen Dose schnupfte, „ich bin bei einem fürnehmen Herrn in Dienst getreten.“

„Wer ist denn dein Herr?“ fragte der Bauer.

„Ein Schinder, aber ein fürnehmer. Meinst du, er schindet gemeines Vieh, Pferde, Hunde und dergleichen? Nein, ein Leuteschinder ist er, und noch überdies ein Kartenfabrikant.“

„Ein Kartenfabrikant?“ rief der Bauer.

„Jawohl, denn alle Karten im Lande muß man von ihm kaufen, er stempelt sie; er ist aber auch ein Gerber.“

„Wie das?“

„Nun, alle Gerber im Lande müssen die Häute gegerbt von ihm kaufen; er ist aber auch ein Prägestock.“

„Wie! Ein Prägestock?“

„Ja, er macht alles Geld, was im Lande ist.“

„Das ist erlogen“, sagte der Bauer, „du willst sagen, er macht alles zu Geld, was im Land ist; aber darum ist er noch kein Prägestock. Es gibt nur einen Prägestock in Württemberg, der dem Land seinen Namenszug aufgedrückt hat.“

Die Menge hatte bisher nur ihren Beifall gemurmelt, aber bei der letzten Anspielung auf die Münze brach sie in lautes Gelächter aus; die Stirne des Gewaltigen verfinsterte sich etwas, aber noch immer spielte er ruhig weiter.

„Aber warum hast du dir den Bart so spitzig wachsen lassen?“ fragte der Bauer weiter. „Das sieht ja ganz jüdisch aus.“

„Es ist halt so Mode“, erwiderte Hans, „seit die Juden Meister im Lande sind; bald will ich vollends ganz jüdisch werden.“

[391] Als Hans diese letzten Worte sprach, rief eine vernehmliche Stimme aus dem dicksten Haufen: „Warte noch ein paar Wochen, Hans, dann kannst du gut katholisch werden!“

Wem je der schreckliche Anblick wurde, wie in einer volkreichen Straße, durch Unvorsichtigkeit oder Bedacht entzündet, eine Tonne Pulvers aufspringt, dem bot sich kaum eine so seltsame Szene dar als die, welche diese wenigen geheimnisvollen Worte hervorbrachten. Der Minister, bleich wie eine Leiche, springt vom Sessel auf, er wirft die Karten mit wütendem Blick auf den Tisch: „Wer sagt dies? Greift ihn im Namen des Herzogs!“ ruft er und stürzt, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, auf die Menge; seine Genossen, nicht weniger bestürzt, aber besonnener, ergreifen seinen Arm und ziehen ihn zurück, suchen ihn zu beschwichtigen – sein dunkles Auge will sich durch die Menge bohren, um den Gegenstand seiner Wut zu fassen, die Masken murmeln unwillig und drängen sich; doch als der gefürchtete Mann seine Hand nach dem Bauer ausstreckt und ruft: „So sollst du mir für ihn haften“, da ist er plötzlich von einer drohenden Menge umringt; „Maskenfreiheit, Jude!“ hört man in dumpfen, gefährlichen Tönen, der Bauer und sein Geselle sind in einem Augenblicke von ihm getrennt, verschwunden, und so schnell, als er vorhin umringt war, ist er wieder verlassen, denn die Menge zerstiebt, von geheimer Furcht gejagt, nach allen Seiten.

Das Gedränge riß Gustav Lanbek mit sich hinweg; seine Gedanken verwirrten sich, es war ihm noch nicht möglich, sich klar vorzustellen, was diesen seltsamen Auftritt verursacht haben könnte. So stand er einige Augenblicke in seinen Gedanken verloren, als er plötzlich seine Hand von einer andern ergriffen fühlte; er sah sich um, die Orientalin stand vor ihm.


4.

„Wo stammt die Rose her auf deinem Hut, Maske?“ fragte die Orientalin mit zitternder Stimme.

„Vom See Tiberias“, war die Antwort des Sarazenen.

[392] „Schnell! Folgen Sie mir!“ rief die Dame und schlüpfte durchs Gedränge. Er folgte, mit Mühe sich durch die Massen schiebend, und nur ihr Turban zeigte ihm hin und wieder den Weg; sein Herz pochte lauter, sein Auge sah keinen andern Gegenstand mehr als sie. In einer dunkleren Ecke des zweiten Saales hielt sie an und wandte sich um.

„Gustav, ich beschwöre Sie, was ist mit meinem Bruder vorgefallen? Die Menschen flüstern allenthalben seinen Namen; ich weiß nicht, was sie sagen, aber ich denke es ist nichts Gutes; hat er Streit gehabt? Ach, ich weiß wohl, diese Menschen hassen unser Volk.“

Der junge Mann war in peinlicher Verlegenheit. Sollte er mit einemmal den arglosen Wahn dieses liebenswürdigen Geschöpfs zerstören? Sollte er ihr sagen, daß auf ihrem Bruder der Fluch der Württemberger ruhe, daß sie für alle Menschen beten und nur ihn aus dem Gebet ausschließen, daß es zur Sitte geworden sei, zu bitten: „Herr, erlöse uns von allem Übel und von dem Juden Süß?“ – „Lea“, antwortete er sehr befangen, „Ihr Bruder wurde von einigen Masken im Spiel gestört und hatte einen Wortwechsel, der vielleicht gerade an diesem Ort auffiel, ängstigen Sie sich nicht.“

„Was bin ich doch für ein thörichtes Mädchen!“ sagte sie, „ich habe so schwere Träume, und dann bin ich den Tag über so traurig und niedergeschlagen. Und so reizbar bin ich, daß mich alles erschreckt, daß ich immer gleich an meinen Bruder denke und glaube, es könnte ihm Unglück zugestoßen sein.“

„Lea“, flüsterte der junge Mann, um diese Gedanken zu zerstreuen, „erinnerst du dich, was du versprachst, wenn wir uns auf dem Karneval träfen? Wolltest du mir nicht einmal eine einsame Stunde schenken, wo wir recht viel plaudern könnten?“

„Ich will“, sagte sie nach einigem Zögern; „Sara, meine Amme, steht am Ausgang und wird mich begleiten. Doch wo?“

„Dafür ist gesorgt“, erwiderte er; „folge mir, verliere mich nicht aus dem Auge; am Eingang rechts.“

[393] Der erfinderische Sinn des jüdischen Ministers hatte, als er das Karneval in Stuttgart arrangierte und diese Säle schnell aus Holz aufrichten ließ, dafür gesorgt, daß wie in großen Häusern und Schlössern an diese Säle auch kleinere Zimmer stoßen möchten, wo kleine Zirkel ein Abendessen verzehren konnten, ohne gerade im allgemeinen Speisesaal ihr Inkognito abzulegen. Der Aktuarius hatte durch eine dritte Hand und hinlängliche Bezahlung sich den Schlüssel zu einem dieser Zimmer zu verschaffen gewußt, eine kleine Kollation stand dort bereit, und Lea freute sich über diese Artigkeit des jungen Christen, der sein möglichstes gethan hatte, den Sinn einer in der Küche erfahrnen Dame zu befriedigen, obgleich das Zimmerchen, das nur einen Tisch und wenige Stühle von leichtem Holz enthielt, wenig Bequemlichkeit bot.

„Wie bin ich froh, endlich die lästige Larve ablegen zu können“, sagte sie, als sie mit ihrer Amme eintrat; sie sah sich nach einem Spiegel um, und als sie nur leere Bretterwände erblickte, setzte sie lächelnd hinzu: „Sie müssen mir schon statt eines Spiegels dienen, Gustav, und sagen, ob diese drängende Menge mir den Haarputz nicht verdorben hat?“

Entzückt und mit leuchtenden Blicken betrachtete der junge Mann das schöne Mädchen. Man konnte ihr Gesicht die Vollendung orientalischer Züge nennen. Dieses Ebenmaß in den fein geschnittenen Zügen, diese wundervollen dunkeln Augen, beschattet von langen seidenen Wimpern, diese kühn gewölbten, glänzendschwarzen Braunen und die dunkeln Locken, die in so angenehmem Kontrast um die weiße Stirne und den schönen Hals fielen und den Vereinigungspunkt dieser lieblichen Züge, zarte rote Lippen und die zierlichen weißen Zähne, noch mehr hervorhoben; der Turban, der sich durch ihre Locken schlang, die reichen Perlen, die den Hals umspielten, das reizende und doch so züchtige Kostüm einer türkischen Dame – sie wirkten, verbunden mit diesen Zügen, eine solche Täuschung, daß der junge Mann eine jener herrlichen Erscheinungen zu sehen glaubte, wie sie Tasso beschreibt, wie sie die ergriffene Phantasie der Reisenden bei ihrer Heimkehr malte.

[394] „Wahrlich“, rief er, „du gleichst der Zauberin Armida[8], und so denke ich mir die Töchter deines Stammes, als ihr noch Kanaan bewohntet. So war Rebekka und die Tochter Jephthas.“

„Wie oft schon habe ich dies gesagt“, bemerkte Sara, „wenn ich mein Kind, meine Lea in ihrer Pracht anblickte; die Poschen[9] und Reifröcke, die hohen Absatzschuhe und alle Modewaren stehen ihr bei weitem nicht wie diese Tracht.“

„Du hast recht, gute Sara“, erwiderte der junge Mann; „doch setze dich hier an den Tisch; du hast zu lange unter Christen gelebt, um vor diesem Punsch und diesem Backwerke zurückzuschaudern; unterhalte dich gut mit diesen Dingen.“

Sara, welche den Sinn und die Weise des Nachbars kannte, sträubte sich nicht lange und erbarmte sich über die Kunstprodukte der Zuckerbäcker; der junge Mann aber setzte sich einige Schritte von ihr neben die schöne Lea. „Und nun aufrichtig, Mädchen“, sagte er, „du hast Kummer, du hast gestern kaum das Weinen unterdrückt, und auch heute wieder ist eine Wolke auf dieser Stirne, die ich so gern zerstreuen möchte. Oder glaubst du etwa nicht, ungläubiges Kind, daß ich dein Freund bin und gerne alles thun möchte, um dich aufzuheitern?“

„Ich weiß es ja, o, ich sehe es ja immer, und auch heute wieder“, sagte sie, mühsam ihre Thränen bekämpfend, „und es macht mich ja so glücklich. Als Sie mich das erstemal an unserem Gartenzaun grüßten, als Sie[WS 9] nachher, es war anfangs Oktobers, mit mir über den Zaun hinüber sprachen, und nachher und immer so freundlich und traulich waren, gar nicht wie andere Christen gegen uns, da wußte ich ja wohl, daß Sie es gut mit mir meinen, und – es ist ja mein einziges, mein stilles Glück!“ Sie sagte es und einzelne Thränen stahlen sich aus den schönen Augen, indem sie sich bemühte, ihn freundlich und lächelnd anzusehen.

„Aber dennoch – ?“ fragte Gustav.

[395] „Aber dennoch bin ich nicht glücklich, nicht ganz glücklich. In Frankfurt hatte ich meine Gespielinnen, hatte meine eigene Welt, wollte nichts von der übrigen. Ich dachte nicht nach über unsere Verhältnisse, es kränkte mich nicht, daß uns die Christen nicht achteten, ich saß in meinem Stübchen unter Freunden und wollte nichts von allem, was draußen war. Mein Bruder ließ mich zu sich nach Stuttgart bringen. Man sagte mir, er sei ein großer Herr geworden, er regiere ein Land, in seinem Hause sei es herrlich und voll Freude und die Christen leben mit ihm wie wir unter uns; ich gestehe, es freute mich, wenn meine Freundinnen meine Zukunft so glänzend ausmalten; welches Mädchen hätte sich an meiner Stelle nicht gefreut?“

Thränen unterbrachen sie aufs neue, und der junge Mann, voll Mitleid mit ihrem Kummer, fühlte, daß es besser sei, ihre Thränen einige Augenblicke strömen zu lassen. Es gibt ein Gefühl in der menschlichen Brust, das wehmütiger macht als jeder andere Kummer, ich möchte es Mitleiden mit uns selbst heißen, es übermannt uns, wenn wir am Grabe zerstörter Hoffnungen in die Tage zurückgehen, wo diese Hoffnungen noch blühten, wenn wir die fröhlichen Gedanken zurückrufen, mit welchen wir einer heiteren Zukunft entgegengingen; wahrlich, dieser bittere Kontrast hat wohl schon stärkere Herzen in Wehmut aufgelöst als das Herz der schönen Jüdin.

„Ich habe alles anders gefunden“, fuhr Lea nach einer Weile fort; „in meines Bruders Hause bin ich einsamer als in meiner Kindheit. Ich darf nicht kommen, wenn er Bälle und große Tafeln gibt. Die Musik tönt in mein einsames Zimmer, man schickt mir Kuchen und süße Weine wie einem Kinde, das noch nicht alt genug ist, um in Gesellschaft zu gehen. Und wenn ich meinen Bruder bitte, mich doch auch einmal, nur in seinem Hause wenigstens, teilnehmen zu lassen, so schlägt er es entweder ganz kalt ab, oder wenn er gerade in sonderbarer Laune war, erschreckte er mich durch seine Antwort.“

„Was antwortete er denn?“ fragte der Jüngling gespannt.

„Er sieht mich dann lange und seufzend an, seine Augen werden trüber, seine Züge düster und melancholisch, und er antwortet, [396] ich dürfe nicht auch verloren gehen; ich solle unablässig zu dem Gott unserer Väter beten, daß er mich fromm und rein erhalte, auf daß meine Seele ein reines Opfer werde für seine Seele.“

„Thörichter Aberglaube!“ rief der junge Mann unmutig. „Darum also sollst du, armes Kind, allen Freuden des Lebens entsagen, damit er –“

„Hat er sich denn so arg versündigt?“ fragte Lea, als ihr Freund, wie bei einer unbesonnenen Rede, schnell abbrach. „Was soll ich denn büßen? Solche hingeworfene Worte machen mich so unglücklich; es ist mir, als schwebe irgend ein Unglück über meinem Bruder, als sei nicht alles recht, was er thut. Niemand steht mir darüber Rede, auch Saras Worte kann ich nicht deuten, denn wenn ich sie darüber befrage, weicht sie aus oder nennt ihn geheimnisvoll den Rächer unsers Volkes.“

„Sie ist nicht klug“, erwiderte der junge Mann befangen; „dein Bruder hat, wie es überall geht, eine mächtige Gegenpartei; manche seiner Finanzoperationen werden getadelt; aber wegen seiner darfst du ruhig schlafen“, setzte er bitter lachend hinzu, „der Herzog hat ihm heute einen Freibrief geschenkt, der ihn vor jeder Gefahr und Verantwortung sichert.“

„O, wie danke ich dies dem guten Herzog!“ sagte sie aufgeheitert, indem sie die dunkeln Locken aus der weißen Stirne strich. „So hat er also gar niemand zu fürchten? Die Christen können ihn nicht verfolgen? – Sie antworten nicht? Gestehen Sie nur, Gustav, Sie sind meinem armen Bruder gram?“

„Deinem armen Bruder? – Wenn er arm wäre, könnte ich ihn vielleicht um seines Verstandes willen ehren! Aber was geht uns dein Bruder an?“ fuhr Lanbek düster lächelnd fort. „Ich liebe dich, und hättest du alle bösen Engel zu Brüdern; aber eines versprich mir, Lea; die Hand darauf.“

Sie sah ihn erwartungsvoll und zärtlich an, indem sie ihre Hand in die seinige legte.

„Bitte deinen Bruder niemals wieder“, fuhr er fort, „dich zu seinen Zirkeln zuzulassen. Mag er nun Gründe haben, welche er will, es ist gut, wenn du nicht dort bist; so viel kann ich dich [397] versichern“, setzte er mit blitzenden Augen hinzu, „wenn ich wüßte, daß du ein einziges Mal dort gewesen, kein Wort mehr würde ich mit dir sprechen!“

Befangen und mit Thränen im Auge wollte sie eben um Aufschluß über dieses neue Rätsel bitten, als ein lauter Zank im Nebenzimmer die Liebenden aufstörte. Mehrere Männer schienen mit der Polizei sich zu streiten, man hatte die Thüre des Kabinetts gesprengt, und über diesen Eingriff in die Rechte des Karnevals wurde schnell und mit Heftigkeit gestritten.

„Mein Gott! Das ist meines Vaters Stimme“ rief der junge Lanbek, „schleiche dich mit Sara in den Saal, Mädchen; nehmet den Schlüssel dieser Thüre zu euch, vielleicht können wir später uns wiedersehen.“ Er drückte der überraschten Lea schnell einen Kuß auf die Stirne, nahm seine Maske vor, und noch ehe sie sich über diesen schnellen Wechsel besinnen konnte, war der Aktuarius schon aus der Thüre gestürzt. Im Korridor, den er jetzt betrat, stand schon eine dichte Menschenmasse um die geöffnete Thüre des Nebenzimmers versammelt. Deutlicher vernahm er die gewichtige, tiefe Stimme seines Vaters; er stieß und drängte sich wie ein Wütender durch und kam endlich in das Gemach. Fünf alte Herren, die ihm als ehrenwerte Männer und Freunde seines Vaters wohl bekannt waren, standen um den alten Landschaftskonsulenten Lanbek; die einen zankten, die andern suchten zu beruhigen. Es war damals eine gefährliche Sache, mit der Polizei in Streit zu geraten; sie stand unter dem besondern Schutz des jüdischen Ministers, und man erzählte sich mehrere Beispiele, daß biedere, ruhige Bürger und Beamte, vielleicht nur, weil sie einem Diener dieser geheimen Polizei widersprochen oder Gewaltthätigkeit verhindert hatten, mehrere Wochen lang ins Gefängnis geworfen und nachher mit der kahlen Entschuldigung, es sei aus Versehen geschehen, entlassen worden waren. Doch der alte Lanbek schien keine Furcht vor diesen Menschen zu kennen, er bestand darauf, daß die Häscher das Zimmer sogleich verlassen müßten, und es wäre vielleicht noch zu schlimmern Händeln als einem Wortwechsel gekommen, wenn nicht in diesem Augenblick ein ganz anderer Gegenstand die Aufmerksamkeit des Anführers der Häscher [398] auf sich gezogen hätte. Der junge Lanbek hatte sich beinahe bis an die Seite seines Vaters vorgedrängt, bereit, wenn es zu Thätlichkeiten kommen sollte, den alten Herrn kräftig zu unterstützen. Er hatte eben seine Maske fester gebunden, damit sie ihm im Handgemenge nicht verloren gehen möchte, als ihn der Polizeidiener erblickte und mit lauter Stimme, indem er auf ihn deutete, rief: „Im Namen des Herzogs, diesen greift, den Türken dort, der ist der rechte.“

Die Überraschung und sechs Arme, die sich plötzlich um ihn schlangen, machten ihn wehrlos. So nahe seinem Vater, der ihn hätte retten können, wagte er doch nicht, sich auch nur durch einen Laut zu erkennen zu geben, weil er den Zorn seines Vaters noch mehr fürchtete als die Gewalt des Juden.

Die alten Herrn waren stumm vor Staunen über diesen Vorfall, der Anführer der Häscher wurde, als er seinen Zweck erreicht hatte, artiger und entschuldigte sich, worauf jene kalt und abgemessen dankten. Willenlos ließ sich der junge Mann dahinführen. Die Menge, die sich vor der Thüre versammelt hatte, teilte sich, aber manche schauten ihm neugierig in die Augen, um zu erraten, wer es sein möchte, den man hier mitten aus der öffentlichen Lust herausriß. Gustav hörte, als er weiter hingeführt wurde, einen schwachen Schrei; er sah sich um, und beim schwachen Schein der Lampen glaubte er den Turban der schönen Orientalin gesehen zu haben. Schmerzlich bewegt ging er weiter, und erst als die kalte Winternacht schneidend auf ihn zuwehte, erwachte er aus seiner Betäubung und übersah nicht ohne Besorgnis die Folgen, die seine Gefangennehmung haben könnte.


5.

Die Polizeidiener hatten den Sarazenen, wahrscheinlich aus Rücksicht auf seine feine und reiche Kleidung, in das Offizierszimmer der Hauptwache gebracht. Der wachhabende Offizier wies ihm mit einer mürrischen Verbeugung eine Bank, die in der fernsten Ecke des Zimmers stand, zu seiner Schlafstätte an, und ermüdet von dem langen Umherirren auf dem Ball, fand der junge Mann dieses Lager nicht zu hart, um nicht bald einzuschlafen.

[399] Trommeln weckten ihn am nächsten Morgen; schlaftrunken sah er sich in dem öden Gemach um, blickte bald auf sein hartes Lager, bald auf seine Kleidung, und nach einer geraumen Weile erst konnte er sich besinnen, wo er sei und wie er hieher gekommen. Er trat ans Fenster, noch war alles still auf dem Platze vor der Hauptwache, und nur die Kompanie, die gerade vor seinem Fenster zur Ablösung aufzog, unterbrach die Stille des trüben Februarmorgens. Indem die Trommeln auf der Straße schwiegen, hörte er von der Stiftskirche acht Uhr schlagen, und der Ton dieser Glocke rief ihn alles Unangenehme und Besorgliche seiner Lage zurück. „Bald wird er nach dir fragen“, dachte er, „und wie unangenehm wird es ihn überraschen, wenn er hört, ich sei in dieser Nacht nicht zu Hause gekommen!“ – Im Hause des alten Landschaftskonsulenten Lanbek ging alles einen so geordneten Gang, daß dieses Ereignis allerdings sehr störend erscheinen mußte. Zu dieser Stunde pflegte der alte Herr seit vielen Jahren sein Frühstück zu nehmen; mit dem ersten Glockenschlag erschien dann, zugleich mit dem Diener, der den Kaffee auftrug, sein Sohn; man besprach sich über Tagesneuigkeiten, über den Gang der Geschäfte, und zu jener Zeit ließ es der allgewaltige Minister nicht an Stoff zu solchen Gesprächen fehlen. Das Gespräch war regelmäßig mit dem Frühstück zu Ende; der Aktuarius küßte dem Alten die Hand und ging dann einen Tag wie den andern ein Viertel vor neun Uhr nach seiner Kanzlei. Diese langjährige Sitte des Hauses rief sich Gustav in diesen Augenblicken zurück. „Jetzt wird Johann die Tassen bringen“, sagte er zu sich, „jetzt wird er erwartungsvoll nach der Thüre sehen, weil ich noch nicht eingetreten bin, jetzt wird er mich rufen lassen; – daß ich doch dem guten, alten Herrn solchen Ärger bereiten mußte!“ Er warf unwillig seinen Turban weg, stützte die Stirne in die Hand und beschloß, den Offizier, sobald er wieder erscheinen würde, um die Ursache seiner Verhaftung zu fragen.

Die Trommeln ertönten wieder, die Abgelösten zogen weiter, er hörte die Gewehre zusammenstellen, und bald darauf trat ein Offizier in das halbdunkle Gemach. Er warf einen flüchtigen Blick nach seinem Gefangenen in der Ecke, legte Hut und Degen [400] auf den Tisch und setzte sich nieder. Lanbek, der jenen nicht zuerst anreden mochte, bewegte sich, um anzudeuten, daß er nicht mehr schlafe. „Bon jour, mein Herr!“ sagte der Offizier, als er ihn sah. „Wollen Sie vielleicht mein Dejeuner mit mir teilen?“

Die Stimme schien Gustav bekannt; er stand auf, trat höflich grüßend näher, und mit einem Ausruf des Staunens standen sich die beiden jungen Männer gegenüber. „Parole d’honneur, Herr Bruder!“ rief der Kapitän von Reelzingen, „dich hätte ich hier nicht gesucht! Wie kömmst du in Arrest? Weiß Gott, Blankenberg hatte nicht unrecht, als er prätendierte, du werdest irgend etwas contra rationem riskieren.“

„Ich möchte dich fragen, Kapitän“, entgegnete der junge Mann, „warum ich hier sitze? Mir hat kein Mensch den Grund angegeben, warum man mich gefangen nehme; du hast die Wache, Reelzingen; bitte dich, du mußt doch wissen –“

„Dieu me garde! ich?“ rief der Kapitän lachend. „Meinst du, er habe mich mit seiner besondern Ästimation beehrt und in seine Konfidence gezogen? Nein, Herr Bruder! Als ich ablöste, sagte mir der Lieutenant von gestern: ‚Oben sitzt einer, den sie vom Karneval auf ausdrücklichen Befehl hergebracht haben.‘ Er pflegt es gewöhnlich so zu machen.“

„Wer pflegt es so zu machen?“ fragte Lanbek erblassend.

„Wer?“ erwiderte jener leise flüsternd. „Dein Schwager in spe, der Jude.“

„Wie?“ fuhr jener errötend fort. „Du glaubst er selbst? Ich hoffte bisher, es sei vielleicht eine Verwechslung vorgefallen; du hast wohl von dem Auftritte gehört, der, bald nachdem ich euch verlassen hatte, mit dem Juden vorfiel, man rief etwas von katholisch werden, und da fuhr der Finanzdirektor auf –“

„Was sagst du?“ unterbrach ihn der Kapitän mit ernster Miene, indem er näher zu dem Freund trat und seine Hand faßte. „Das war es also? Uns hat man es anders erzählt; wie ging es zu? Was hat man gerufen?“

Den Aktuarius befremdete der Ernst, den er auf den Zügen des sonst so fröhlichen und sorglosen Freundes las, nicht wenig; er erzählte den Vorfall, wie er ihn mit angesehen hatte, und sah, [401] wie sich die Neugierde des Freundes mehr und mehr steigerte, wie seine Blicke feuriger wurden; als er aber beschrieb, wie Süß nach jenem geheimnisvollen Ausruf wütend geworden und aufgesprungen sei, da fühlte er die Hand des Kapitäns auf sonderbare Weise in der seinigen zucken. „Was bewegt dich so sehr?“ fragte Gustav befremdet. „Wie nimmst du nur an solchen Karnevalsscherzen, die am Ende auf irgend eine Thorheit hinauslaufen, solchen Anteil? Wenn ich nicht wüßte, daß du evangelisch bist, ich glaubte, mein Bericht habe dich beleidigt.“

„Herr Bruder!“ erwiderte der Kapitän, indem er seinen Ernst hinter einem gleichgültigen Lächeln zu verbergen suchte. „Du kennst mich ja, mich interessiert alles auf der Welt, und ich bin erstaunlich neugierig; überdies ist manches ernster, als man glaubt, und im Scherz liegt oft Bedeutung.“

„Wie verstehst du das?“ sagte der Aktuarius verwundert. „Was macht dich so nachdenklich? Hast du wieder Schulden? Kann ich dir vielleicht mit etwas dienen?“

„Bruderherz“, entgegnete der Soldat, „du mußt in den letzten Wochen gewaltig verliebt gewesen sein, sonst wäre deinem klaren Blick manches nicht entgangen, was selbst an meinem leichten Sinn nicht vorüberschlüpfte. Sag’ einmal, was spricht der Papa von diesen Zeiten? Sprichst du den Obrist von Röder nie bei ihm? Waren nicht am Freitag abend die Prälaten in eurem Hause?“

„Du sprichst in Rätseln, Kapitän!“ antwortete der junge Mann staunend. „Was soll mein Vater mit einem Obrist von der Leibschwadron und mit Prälaten?“

„Freund, mach’ es kurz!“ sagte Reelzingen. „Halte mich in solchen Dingen nicht für leichtsinnig; ich will mich nicht in euer Vertrauen eindrängen, aber ich kann dir sagen, daß ich dennoch schon ziemlich viel weiß, und – parole d’honneur!“ setzte er hinzu, „ich denke darüber, wie es einem Edelmann und meinem Portepee geziemt.“

„Was geht mich dein alter Adelsbrief und dein neues Portepee an?“ erwiderte unmutig der Aktuar. „Und wie kömmst du dazu, dich mit diesen Dingen gegen mich breit zu machen? Ich sage dir, daß ich von allem, was du da so geheimnisvoll schwatzst, [402] keine Silbe verstehe, und kann dir mein Wort darauf geben, und damit genug, Herr von Reelzingen!“

„O mon Dieu!“ rief jener lächelnd. „Herr Bruder, wir sind nicht mehr in Leipzig, dies Zimmer ist nicht der göttliche Ratskeller, sondern eine Wachstube; wir sind keine Musen mehr, sondern du bist herzoglicher Aktuar und ich – Soldat, aber Freunde sind wir noch in Not und Tod, und darum sei vernünftig und brause nicht mehr auf wie vorhin. Ich glaube dir ja aufs Wort, daß du nichts weißt, aber gut wäre es von deinem Vater gewesen, wenn er dich präveniert hätte, deine Amour mit der Jüdin ist überdies jetzt ganz und gar nicht an der Zeit, wir alle bitten dich, laß deine Scharmante, mit der du doch niemals eine vernünftige und ehrenvolle Liaison treffen kannst –“

„Was wißt ihr denn von diesem Verhältnis?“ unterbrach ihn der junge Mann düster und erbittert. „Ich dächte, ehe ich euch hierüber um Rat gefragt, könntet ihr billigerweise mit eurer Mahnung warten.“

Der feurige junge Soldat, um seinem Freunde zu nützen, wollte eben in derselben Sprache etwas erwidern, als man an der Thüre pochte. Der Kapitän schloß auf, und einer seiner Sergeanten winkte ihm, herauszutreten. Gustav hörte sie einige Worte wechseln und sah den Freund bald darauf mit verstörter Miene wieder zurückkehren: „Du bekömmst einen sonderbaren Besuch“, flüsterte er ihm zu, „er wird gleich selbst eintreten, und ich darf nicht zugegen sein.“

„Wer doch? Mein Vater?“ fragte Gustav bestürzt.

„Er kömmt“, sagte der Kapitän, indem er eilends Hut und Degen vom Tische nahm, „der Jud Süß!“


6.

Vor der Thüre des Offizierszimmers hatten seine Diener dem Minister den spanischen Mantel abgenommen, und er trat jetzt ein, stattlich geschmückt und vornehm gekleidet, wie es einem Günstling des Glücks und eines Herzogs in damaliger Zeit zukam. Er trug einen roten Rock mit goldenen Trotteln und Quasten [403] besetzt, die goldgestickten Aufschläge seines Rocks gingen bis zum Ellbogen zurück und die Weste von Goldbrokat reichte herab bis an das Knie. Ein kurzer breiter Degen mit reichbesetztem Griff hing an seiner Seite, ein mächtiger Stock unterstützte seine Hand, und auf den reichen hellbraunen Locken, die bis tief in den Nacken herabfielen, saß ein Hütchen von feinem schwarzen Wachstuch, mit Gold und weißen Federn verbrämt. Die Züge dieses merkwürdigen Mannes waren, in der Nähe betrachtet, zwar etwas zu kühn geschnitten, um schön und anmutig zu heißen, aber sie waren edler als sein Gewerbe und ungewöhnlich; sein dunkelbraunes Auge, das frei und stolz um sich blickte, konnte sogar für schön gelten; die ganze Erscheinung imponierte, und sie hätte sogar etwas Würdiges und Erhabenes gehabt, wäre es nicht ein hämischer, feindlicher Zug um die stolz aufgeworfenen Lippen gewesen, was diesen Eindruck störte und manchen, der ihm begegnete, mit unheimlichem Grauen füllte.

Der Kapitän stand fest und aufgerichtet an der Thüre, den Hut in der einen, den Degengriff in der andern Hand, als der Minister Süß eintrat. Dieses nahm sein Hütchen ab, musterte, auf seinen Stock gestützt, den Soldaten mit scharfem Blick und sagte dann kurz und mit leiser Stimme: „Wie ist der Name?“

„Hans von Reelzingen, Kapitän im zweiten Grenadierbataillon, dritte Kompanie.“

„Man hat studiert?“ fuhr der Jude etwas artiger fort.

„Die Jurisprudenz in Leipzig“, antwortete der Kapitän mit militärischer Kürze.

„Wie lange dient der Herr Kapitän?“

„Ein Jahr und zwei Monate; zuerst bei –“

„Schon gut“, unterbrach ihn der Minister mit einer gnädigen Bewegung der Hand; „können abtreten.“

Der Kapitän Reelzingen verbarg seinen Verdruß über das stolze Wesen des Emporkömmlings unter einer tiefen Verbeugung und trat ab. Dem Aktuarius aber, obgleich er keine Menschenfurcht kannte, pochte das Herz, als er nun mit dem Manne allein war, vor dem ein ganzes Land mit abergläubischer Furcht zitterte. Er errötete unwillkürlich, als jener ihn lange und prüfend ansah [404] und ihm Gelegenheit gab, auch seine Züge zu mustern und hin und wieder etwas zu finden, das ihn an die schöne Lea erinnerte. Der Minister setzte sich endlich in den Armstuhl, den die Offiziere der Garnison zur Bequemlichkeit dieses Zimmers gestiftet hatten, und winkte dem Sarazenen herablassend, sich auf einer Bank, die unfern stand, niederzulassen.

„Junger Mann“, sprach er, „wenn Euch Eure eigene Ruhe und Wohlfahrt lieb ist, so antwortet mir auf das, was ich Euch fragen werde, offen und ehrlich; denn Ihr könnet leichthin denken, daß es mir nicht schwer werden kann, Euch jeder Lüge, die Ihr waget, zu überweisen.“

„Ich bin herzoglich württembergischer Aktuar“, erwiderte der junge Mann, „und der Eid, den ich als Christ und Bürger –“

„Laissez cela“, fiel ihm der Jude ins Wort, „Ihr wäret nicht der erste, der seinen Eid gebrochen. Wer waren gestern, frag’ ich, die beiden Masken, die sich an meinem Tisch zur Belustigung des Publikums unterhielten? Ihr wißt es, Ihr standet zunächst bei mir.“

„Das ist mir nicht bekannt, Ew. Exzellenz“, sagte Gustav mit fester Stimme.

„Nicht bekannt?“ rief der Minister. „Bedenket wohl, was Ihr gesagt, ich stehe hier als Euer Richter; habt Ihr keinen an der Stimme gekannt?“

„Keinen.“

„Keinen?“ fuhr jener heftiger fort. „Und Euren Vater solltet Ihr nicht an der Stimme kennen?“

„Meinen Vater!“ rief der junge Mann erblassend; doch besonnen setzte er nach einer Weile hinzu: „Ihr irrt Euch, Herr Finanzdirektor, oder vielmehr Ihr seid schlecht berichtet; mein Vater ist ein ruhiger, gesetzter Mann, und sein Charakter, sein Amt, seine Jahre verbieten ihm, das Publikum auf einem Maskenball zu amüsieren.“

„Sie sollten es ihm verbieten“, erwiderte jener mit blitzenden Augen, „und ich werde Mittel finden, es ihm zu verbieten. Ich weiß recht wohl, daß ich diesen Herren von der Landschaft ein Dorn im Auge bin, und zwar aus dem einzigen Grund, weil [405] die Herren nicht rechnen können; verständen sie das Einmaleins so gut wie ich, sie würden sehen, was dem Lande frommt. Noch ist aber nicht aller Tage Abend, und ich will diesen Rebellen zeigen, wer sie sind und wer ich bin!“

„Herr Finanzdirektor!“ rief der junge Mann mit der Röte des Unmutes auf den Wangen.

„Herr Aktuarius?“ erwiderte Süß mit spöttischem Lächeln.

„Mein Vater ist ein Ehrenmann“, fuhr Gustav fort, ohne sich von der stolzen Miene des Gewaltigen einschüchtern zu lassen; „Sie sprechen von Rebellen? Wie können Sie sagen, daß mein Vater dem Herzog nicht immer treu gedient hat? Wie können Sie wagen, ihn einen Rebellen zu schimpfen?“

„Wagen?“ lachte Süß. „Hier ist von keiner Wagnis die Rede, Herr Aktuarius, aber Rebell ist jeder, der nur dem Land und nicht dem Herzog dient; er ist des Herzogs Diener, aber er dient ihm schlecht; doch das soll nicht lange mehr so bleiben. Das mögt Ihr übrigens dem Herrn Landschaftskonsulenten, Eurem Vater, sagen, daß ich recht wohl weiß, was die beiden Masken wollten, und daß sie es mit dem dritten abgekartet hatten; ich konnte ihn gestern nacht so gut wie Euch verhaften lassen, und wenn ich es nicht that, so verdankt er diese Schonung nur Euch.“

„Mir?“ antwortete der junge Mann staunend. „Mir? Und ist dies etwa auch Schonung, daß ich, ohne ein Verbrechen begangen zu haben, diese Nacht in diesem Zimmer zubringen durfte?“

„Nein!“ fuhr jener gütig lächelnd fort. „Dies war nur zur Abkühlung auf Euer Rendezvous veranstaltet.“ Er weidete sich einige Augenblicke an der Verlegenheit des Jünglings und fuhr dann fort: „Das gute Kind, wie hat sie mich gefleht und auf den Knieen gebeten, Euch zu retten! Sie glaubte nicht anders, als Ihr seiet wegen irgend eines Kapitalverbrechens gefangen. Wie? Und habt Ihr mir gar nichts zu sagen, Herr Lanbek?“

„Ihr kanntet mich nicht“, erwiderte Gustav, „und es ist mir nun wohl begreiflich, warum Ihr so hart mit mir verfuhret; aber Leas Charakter hätte Euch wohl dafür bürgen können, daß nichts Strafbares in diesem Verhältnis liege.“

„Wirklich? Mort de ma vie!“ rief der Minister; „nichts [406] Strafbares! Meinen Sie, wenn ich etwas Strafbares in diesem Verhältnis ahnete, Sie hätten es mit einer Nacht auf der Wache abgebüßt? Bei den Gebeinen meiner Väter! Wenn ich – auf Neuffen oder Asperg[10] gibt es Keller und Kasematten, wo kein Mond und keine Sonne scheint, da hätte ich den Herrn Sarazenen sitzen lassen, bis er sein Schwabenalter[11] erreicht hätte. Oder meint Ihr etwa in Eurem christlichen Hochmut, einem Israeliten gelte die Ehre seiner Famile nicht ebenso hoch als einem Nazarener?“

Der junge Mann erschrak vor dieser Drohung, denn er bedachte, daß es dem Allgewaltigen ein Leichtes gewesen wäre, ihn spurlos von der Erde verschwinden zu lassen; aber sein mutiger Sinn lehnte sich auf gegen den Übermut dieses Mannes, der seine Privatsache zu einer öffentlichen machte und zur Wahrung seines Hausrechtes mit den Festungen des Landes drohte: „Exzellenz“, sagte er mit Blicken, vor welchen der Minister die Augen niederschlug, „wie Sie über Ihre eigene Ehre denken, weiß ich nicht, doch scheint es mir nicht sehr ehrenvoll zu sein, solche Drohungen auszustoßen. Mein Vater ist zwar nur ein geringer Mann in Vergleich mit einem so gewaltigen und hohen Herrn, aber der Landschaftskonsulent Lanbek weiß, wo man in Deutschland Gerechtigkeit findet. Wien ist nicht so fern von Stuttgart, und Euern Gnadenbrief von gestern hat der Kaiser nicht unterzeichnet; was aber die Ehre Eurer Schwester betrifft, so kann ich Euch versichern, daß sie mir nicht minder teuer ist als meine eigene.“

„Ihr habt hübsche Anlagen zu einem Landschaftskonsulenten“, sagte der Jude ruhig lächelnd; „übrigens im Vertrauen gesagt, auf den Kaiser müßt Ihr nicht zu sehr pochen; wegen eines württembergischen Schreibers fängt man in Wien mit uns keine Händel an. Aber Ihr gefallt mir, mein Schatz; ich habe Eure Arbeiten loben hören, und Köpfe wie der Eure kann man zu etwas Besserem brauchen als Akten zu heften und Faszikel[WS 10] zu binden; Ihr seid Expeditionsrat mit sechshundert Gulden Besoldung, und es freut mich, daß ich der erste bin, der Euch hiezu gratuliert.“

[407] Der junge Mann sprang von seiner Bank auf und wollte reden, aber Überraschung und Schrecken schloß ihm den Mund. Hundert Gedanken kreuzten sich in seinem Kopf. Es war nicht die Freude, vier Stufen, durch welche man sich sonst lange und mühevoll schleppte, nun in einem Augenblicke übersprungen zu haben, was seine Seele füllte, es war der schreckliche Gedanke, vor der Welt für einen Günstling dieses Mannes zu gelten, vor seinem Vater, vor allen guten Männern gebrandmarkt dazustehen.

„Exzellenz!“ sprach er befangen, „ich darf, ich kann diese Gnade nicht annehmen! Bedenken Sie, was wird man sagen, so viele ältere, verdiente Männer –“

„Was da! Ich habe Euch Platz gemacht“, antwortete der Jude in befehlendem Ton, „ich habe Euch zum Rat ernannt, und Ihr seid es. Keinen Dank, keine übergroße Delikatesse, ich liebe das nicht. – Nun“, fuhr er gütig, beinahe zärtlich fort, „und wie steht Ihr mit meiner Lea? Ihr habt mir ja das stille, blöde Kind ganz verzaubert. Fürchtet Euch nicht vor mir, junger Herr, ich bin nicht der Mann, der gerade so sehr auf Reichtum sieht; Eure Familie gehört unter die ältesten und angesehensten Bürgerfamilien, und das gilt mir in diesem Fall so viel oder mehr als Reichtum. Euer Vater wird Euch zwar nicht viel mitgeben, aber mit mir sollt Ihr zufrieden sein, fürstlich will ich meine Lea ausstatten.“

Die Felsenkeller von Neuffen und die tiefen Kasematten von Asperg wären in diesem Augenblick dem jungen Manne willkommener gewesen als diese Versicherung; er dachte an seinen stolzen Vater, an seine angesehene Familie, und so groß war die Furcht vor Schande, so tief eingewurzelt damals noch die Vorurteile gegen jene unglücklichen Kinder Abrahams, daß sie sogar seine zärtlichen Gefühle für die schöne Tochter Israels in diesem schrecklichen Augenblick übermannten. „Herr Minister!“ sprach er zögernd, „Lea kann keinen wärmeren Freund als mich haben; aber ich fürchte, daß Sie dieses Gefühl falsch deuten, mit einem andern verwechseln, das – ich möchte nicht, daß Sie mich falsch verstehen, und Lea wird Ihnen nie gesagt haben, daß ich jemals davon gesprochen hätte –“

Der stolze Mann errötete, warf seine Lippen auf, drückte die [408] Augen beinahe zu, und an seiner Stirne begann eine Ader hoch anzuschwellen. „Was ist das?“ sagte er streng, „wie soll ich diese Redensart deuten?“

„Herr Minister“, erwiderte Gustav gefaßter, „bedenken Sie doch den Unterschied der Religion.“

„Habt Ihr diesen bedacht, Herr! als Ihr meiner Schwester diese Liebeleien in den Kopf setztet? Aber ich kann Euch darüber trösten, Lea wird Euch in dieser Hinsicht kein Hindernis geben. Ihr schweigt?“ fuhr er heftiger fort, „soll ich mit Eurem Vater darüber reden, junger Mensch? War etwa meine Schwester gut genug dazu, Eure müßigen Stunden auszufüllen, zur Gattin aber wollt Ihr sie nicht? Wehe Euch, wenn Ihr so dächtet, dich und deinen ganzen Stamm würde ich verderben! Euer Vater ist gestern eines schweren Verbrechens schuldig worden, es steht in meiner Hand, ihn zur Verantwortung zu ziehen; in Eure Hand lege ich nun das Schicksal Eures Vaters; entweder – Ihr macht Eure Unvorsichtigkeit gegen mein Haus gut und heiratet meine Schwester, oder ich erkläre Euch öffentlich für einen Schurken und lasse den Herrn Konsulenten in Ketten legen. Vier Wochen gebe ich Euch Bedenkzeit; mein Haus steht Euch offen, Ihr könnt Eure Braut besuchen, so oft Ihr wollt; vier Wochen, versteht Ihr mich? Jetzt seid Ihr frei, und morgen, Herr Expeditionsrat, werdet Ihr Euer Amt antreten.“

Nach diesen Worten verbeugte er sich kurz und verließ stolzen Schrittes das Zimmer; dem Kapitän, den er im Vorzimmer traf, befahl er, Kleider für den Herrn Expeditionsrat herbeischaffen zu lassen und ihm seine Freiheit anzukündigen.

Staunend über diesen ganzen Vorfall, besonders über die letzten Worte des Ministers, trat Reelzingen in sein Zimmer. Er fand den Freund bleich und verstört, die Arme über die Brust gekreuzt, das Haupt kraftlos auf die Brust herabgesunken. „Nun, sag’ mir ums Himmelswillen“, fing der Kapitän an, indem er vor Gustav stehen blieb, „was wollte er bei dir? Warum ließ er dich verhaften? Was hat sein Besuch zu bedeuten?“

„Er kam, um mir zu gratulieren“, antwortete er mit sonderbarem Lächeln.

[409] „Zu gratulieren? Wozu? Daß du eine Nacht auf der Wache zubrachtest?“

„Nein, weil ich in dieser Nacht Expeditionsrat geworden bin.“

„Du?“ rief der Kapitän lachend. „Gottlob, daß du so heiter bist und scherzen kannst; als ich hereintrat und dich sah, glaubte ich dich nicht so spaßhaft zu finden; aber im Ernst, Freund, was wollte der Jude?“

„Ich sagte es ja, und es ist Ernst; zum Rat hat er mich gemacht. Ist das nicht ein schönes Avancement[WS 11]?“

Der Kapitän sah ihn mit zweifelhaften Blicken lange an; endlich sagte er gerührt: „Nein, du kannst nicht auch zum Schurken werden, Gustav; Gott weiß, wie dies zusammenhängen mag! Aber siehe, wenn ich dich nicht so lange und so genau kennte – glaube mir, die Welt wird dich hart beurteilen; doch nein, du lächelst, gestehe, es ist alles Scherz. Expeditionsrat! Ebensogut könntest du seine Schwester heiraten.“

„Ei, das wird ja auch geschehen“, sagte Lanbek düster lächelnd; „in vier Wochen, meint mein Schwager, soll die Hochzeit sein.“

„Tod und Hölle!“ fuhr der Kapitän auf, „mach’ mich nicht rasend mit diesen Antworten. Wahrhaftig, mit solchen Dingen ist nicht zu spaßen.“

„Wer sagt dir denn, daß ich spaße?“ erwiderte Lanbek, indem er langsam aufstand; „es ist alles so, wie ich sagte, auf Ehre.“

Dem Kapitän schwamm eine Thräne im Auge, als er den Freund, den er geliebt hatte, also sprechen hörte; doch nur einen Augenblick gab er diesen weichern Empfindungen nach, dann trat er heftig auf den Boden, setzte seinen Hut auf und rief: „So sei der Tag verflucht, an welchem ich dich zum erstenmal sah und Bruder nannte. Geh’, hilf deinem Juden dem armen Land das Fell vollends vom Leib ziehen, schinde dir auch ein Stück herunter und mach’ dich reich. O Lanbek, Lanbek! Aber mein Portepee, ja ein Jahr meines Lebens wollte ich verhandeln, um einem meiner Kameraden die Wache abzukaufen; ich selbst will die Exekution kommandieren, wenn man dich und den Juden zum Galgen führt.“

[410] „So hoch werde ich mich wohl nicht poussieren“, erwiderte Gustav ruhig und ernst, „aber meiner Leiche kannst du folgen, wenn sie mich morgen um Mitternacht neben der Kirchhofsmauer einscharren.“

Der Kapitän sah ihn erschrocken an; er mochte tiefen Ernst auf der Stirne des jungen Mannes lesen, denn er wiederholte diesen Blick und begegnete Gustavs Auge. „Willst du mich fünf Minuten lang anhören, Reelzingen?“ fragte er. „Du wirst dann über die Uneigennützigkeit dieses Ministers staunen. Sonst war doch der Preis einer Amtei zweitausend, und ein Expeditionsrat galt seine dreitausend Gulden unter Brüdern; aber ich Glückskind bekomme ihn umsonst, rein pour rien! Denn das Glück meines Lebens, die Ruhe meiner Familie, der heitere Frieden meines Vaters – daß diese bei dem Handel verloren gehen, ist ja gering zu achten. Doch höre.“

Staunend vernahm der Kapitän diese Worte; aufmerksam setzte er sich neben Gustav nieder. Je höher der Glaube an seinen Freund während seiner Erzählung stieg, desto ängstlicher wurde er für ihn und seine Familie besorgt. Er schloß ihn in seine Arme, er versuchte es, ihm Trost einzusprechen, obgleich er selbst an diese Trostgründe nicht glaubte. „Der Jude ist ein feiner Spieler“, sagte er, „deine besten Tarocks[12] hat er dir abgejagt, und das Spiel scheint in seiner Hand zu liegen; aber – er könnte sich verrechnet haben, wir wollen sehen, wie er beschlagen ist, wenn wir – Spadi[13] anspielen.“


7.

Wir führen unsre Leser aus dem Offizierszimmer der Hauptwache in Stuttgart nach dem Hause des Landschaftskonsulenten Lanbek. In einem weiten, geräumigen Zimmer, dessen Hausrat nicht überladen und prächtig, aber solid und stattlich ist, finden wir einen ältlichen Mann von mehr als mittlerer Größe. Sein [411] Gesicht und seine Gestalt beweisen, daß er, als er in den Fünfzigen stand, wohlbeleibt gewesen sein mochte, jetzt, zehn Jahre später, hatten sich Falten um Mund und Stirne gelegt, und der weite Schlafrock von feinem grünen Tuch, mit Pelz verbrämt, war für eine reichliche Fülle gefertigt und schlug jetzt weite Falten um den Leib; aber die rötlichen Wangen, die klaren grauen Augen, der feste Schritt, womit er im Zimmer auf und ab ging, ließen, noch ehe man seine volle, sonore Stimme vernahm, ahnen, daß der alte Konsulent an Geist und Körper noch frisch und rüstig sei.

In der Vertiefung des breiten Fensters saßen zwei schöne Mädchen von achtzehn bis zwanzig Jahren, die dem Alten, so oft er ihnen den Rücken wandte, besorglich und ängstlich nachschauten, wohl auch untereinander flüsterten, solange sie von ihm nicht gesehen wurden. Die eine war bemüht, des Vaters ungeheure Allongeperücke in Ordnung zu bringen, und trotz dem Kummer, der aus ihren Blicken sprach, schien sie doch Freude an dem schönen Kontrast zu finden, welchen die schwarzen Locken dieses Haargebäudes mit ihren zarten, weißen Händchen bildeten. Die dunkelblauen Augen der andern jungen Dame schienen mehr mit der Straße als mit der feinen Arbeit, an welcher sie nähte, beschäftigt, doch waren ihre Züge zu ernst, als daß man es müßiger Neugier hätte zuschreiben dürfen.

Sie hatten mehrere Minuten lang geschwiegen, denn die Mädchen waren viel zu streng erzogen, als daß sie den Vater, der seinen Gedanken nachhing, mit Fragen belästigt hätten; plötzlich sprang die junge Nähterin auf, ließ ihre schöne Arbeit zu Boden fallen, beugte den schlanken Hals näher ans Fenster und sah gespannt nach der Straße. Der Vater sah diese Bewegungen, hielt seine Schritte an, blickte aufmerksam nach seiner Tochter und fragte nur mit Blicken; Käthchen, die jüngere Schwester, vollendete schnell noch eine Stirnlocke der Perücke, setzte dann das Prachtwerk behutsam auf eine Kommode und kam eben noch zeitig an, um mit Hedwig zu rufen: „Er ist’s, er hat heraufgesehen, Vater; er geht sehr schnell; sieh’ doch, was er für einen sonderbaren Rock anhat!“

[412] „Das ist Blankenbergs Jagdkleid“, sagte Hedwig leise zu ihrer Schwester.

„Geh’ doch, was weißt du von Blankenbergs Garderobe?“ erwiderte die jüngere, bedeutungsvoll lächelnd.

„Er hat Gustav schon oft in diesem Kleid besucht“, antwortete sie, indem eine dunkle Röte über ihre Wangen flog.

Die Ankunft Gustavs verhinderte seine jüngere Schwester, Hedwig nach ihrer Gewohnheit noch länger zu quälen. Der Vater sah noch ernster aus als vorhin, er hatte sich in seinen Lehnstuhl gesetzt und die strengen Augen auf die Thüre geheftet; bang und ängstlich pochte den Schwestern das Herz, als jetzt die Thüre aufging und ihr Bruder hereintrat. – Nach dem ersten „guten Morgen“ trat für alle drei Partien eine peinliche Pause ein; endlich trat der Sohn bescheiden zum Vater. „Sie haben mich wohl diesen Morgen vermißt, Vater?“ fragte er. „Es ist allerdings ein seltener Fall in unserm Hause, und Sie wurden vielleicht besorgt um mich.“

„Das nicht“, antwortete der Alte sehr ernst; „du bist alt genug, um nicht verloren zu gehen; aber zweierlei ist mir aufgefallen, nämlich, daß man dich nur eine Stunde auf dem Karneval sah, und daß du diese Nacht und ihre Lustbarkeiten so unregelmäßig lang bis morgens neun Uhr ausdehnst; du solltest schon seit einer halben Stunde in deiner Kanzlei sein.“

„Ich bin heute dort entschuldigt“, sagte Gustav lächelnd; „ich habe aber auch seit heute früh ein Uhr so schrecklich geschwärmt und so unordentlich gelebt, daß es kein Wunder ist, wenn man so spät zu Hause kömmt; ratet einmal, ihr Mädchen, wo ich gewesen bin.“

Die Schwestern sahen ihn unwillig an, denn sie befürchteten mit Recht, dieser leichtfertige Ton möchte dem alten Herrn mißfallen. „Wie können wir dies wissen?“ erwiderte Hedwig; „ich habe nie darnach gefragt, wo du dich mit deinen Kameraden umtreibst; doch heute, Bruder, bist du mir ein Rätsel.“

„Und in einem Lustschloß bin ich gewesen“, fuhr der junge Mann fort, „wo weder ihr beiden noch Papa jemals waren; ihr erratet es doch nie – auf der Wache.“

[413] „Auf der Wache!“ riefen die Schwestern entsetzt.

„Das ist mir sehr unangenehm, Gustav“, setzte der Landschaftskonsulent hinzu; „meines Wissens bist du der erste Lanbek, den man auf die Wache setzte.“

„Mir ist es doppelt unangenehm“, antwortete sein Sohn, indem er den Vater fest anblickte, „weil es im Grunde eine Namensverwechslung zu sein scheint; denn meines Wissens bin nicht ich jener Lanbek, der die Szene an dem Tische des Juden aufführte.“

Der Alte sah ihn bleich und betroffen an. „Gehet ins Nebenzimmer, Mädchen!“ rief er, und als sich die Schwestern staunend, aber schnell und gehorsam zurückgezogen hatten, faßte er die Hand seines Sohnes, zog ihn auf einen Stuhl neben sich nieder und fragte hastig, aber mit leiser Stimme: „Was ist das? Woher weißt du? Wer sagte dir davon?“

„Er selbst“, antwortete der Sohn.

„Der Jude?“ fragte der Alte. „Wie ist dies möglich?“

„Er war bei mir auf der Wache; ich sehe, wie Sie staunen, Vater, aber bereiten Sie sich auf noch wunderlichere Dinge vor.“ Der junge Mann hielt es für das beste, seinem Vater soviel als möglich zu entdecken; er erzählte ihm also, wie aufgebracht der Minister auf den Konsulenten und seine Partei sei, wie der Sohn ihm widersprochen, wie der Minister, statt in heftigeren Zorn zu geraten, ihn plötzlich zum Expeditionsrat ernannt habe. Nur Leas erwähnte er mit keiner Silbe, der Kapitän hatte ihm dies geraten, und er beschloß, davon zu schweigen, bis er seine Maßregeln getroffen hätte oder die Entdeckung des unglücklichen Verhältnisses unvermeidlich wäre.

„Ich sehe, was ich sehe“, sprach der Konsulent nach einigem Nachdenken. „Meinst du, wenn er uns nicht gefürchtet hätte, er würde mich geschont und dich dafür ergriffen haben, um mich gleichsam durch seine Gnade zu beschämen? Er hat mich gefürchtet, und er hat alle Ursache dazu. Ich bin ihm zu populär, und auch du wirst ihm nach und nach zu bekannt mit den hiesigen Bürgern, weil du jetzt statt meiner die Armenprozesse führst. Der [414] Expeditionsrat ist – eine Falle, die er uns beiden legen wollte, der kluge Fuchs.“

„Wie verstehen Sie dies, Papa?“ fragte Gustav, dem es leichter ums Herz wurde, seit er ahnete, wie sein Vater die Sache aufnehme.

„Sieh’, Freund“, sprach der Alte zutraulicher, als er je gethan, „du wirst das Opfer dieser Kabale, aber so wahr ich dein Vater bin, du sollst es nicht lange sein. Dieser Jude denkt aber also: Verwehre ich dir, diese Stelle anzunehmen, weil du dadurch in übeln Geruch kommen könntest, so macht er es zu seiner Ehrensache, beklagt sich beim Herrn und ergreift die einzige Gelegenheit, die sich bot, mich zu zwingen, auch mein Amt aufzugeben. Er kennt mich, er weiß, daß er sowenig als der Herzog mich absetzen kann, er weiß auch, wer der alte Lanbek ist, nämlich – sein Feind. Nehmen wir die Stelle an, kalkulierte er weiter, so werden wir verdächtig bei allen, die das Bessere wollen. Der Vater, Konsulent der Landschaft, würde man denken, der Sohn – Expeditionsrat; gekauft hat ihm der Alte die Stelle nicht, und der Süß gibt bekanntlich nichts ohne großen Gewinn an Geld oder geheimem Einfluß, folglich – sind wir übergetreten zu dem Gewaltigen. So glaubt er, werden die Leute urteilen, und er hat es recht klug gemacht, aber er kennt mich nicht ganz; noch weiß ich, Gottlob! ein Mittel, uns das Vertrauen der Bessern zu erhalten, und du – wirst und bleibst Expeditionsrat; ändern sich die Verhältnisse, so wirst du wieder Aktuarius, und die Menschen erkennen dann deine Unschuld.“

„Aber Vater!“ sagte der junge Mann zaudernd, „Ihr Ruf ist felsenfest, aber der meinige? Wie lange wird es noch anstehen, bis die Verhältnisse sich ändern!“

„Sohn!“ erwiderte der Alte nicht ohne Rührung, „du siehst, wie dieses schöne Land bis in sein innerstes Mark zerrüttet ist; meinst du, es könne immer so fortgehen? – Glaube mir, ehe der Frühling ins Land kommt, muß es anders werden; schlechter kann es nimmer werden, aber besser. Darum glaube mir und vertraue auf Gott!“


[415]
8.

Während der alte Lanbek noch so sprach und seinem Sohn Mut einzureden suchte, wurde die Hausglocke heftig angezogen, und bald darauf trat ein Offizier in das Zimmer, dem der Konsulent freundlich entgegeneilte. Wenn man das dunkelrote Gesicht, die freien, mutigen Züge und das kleine, aber scharfblickende Auge dieses Mannes sah, so konnte man die Sage von kühner Entschlossenheit und beinahe fabelhafter Tapferkeit, die er unter dem Herzog Alexander[14] und dem Prinzen Eugenius[15] bewiesen haben sollte, glaublich finden.

„Mein Sohn, der vormalige Aktuarius Lanbek“, sprach der Alte, „der Obrist von Röder[16], den du wenigstens dem Namen nach kennen wirst.“

„Wie sollte ich nicht“, erwiderte Gustav, indem er sich verbeugte; „wenn unsere Truppen von Malplaquet[17] und Peterwardein[18] erzählen, so hört man diesen Namen immer unter die ersten und glänzendsten zählen.“

„Zu viel Ehre für einen alten Mann, der nur seine Schuldigkeit gethan“, antwortete der Obrist; „aber Konsulent, was sagt Ihr dazu, daß der Jude jetzt auch uns ins Handwerk greift? Ich komme zu Euch eigentlich nur, um zu fragen: soll ich oder soll ich nicht?“

[416] „Wie soll ich das verstehen?“ fragte der Konsulent staunend; „Röder, nur jetzt keinen übereilten Streich!“

„Das ist es eben!“ rief jener, auf den Boden stampfend, „meine Ehre und die Ehre des ganzen Korps ist gekränkt; einen meiner talentvollsten Offiziere sollte ich nach Fug und Recht kassieren lassen um dieses Hundes willen, und thu’ ich’s, so bin ich morgen selbst außer Dienst.“

„Aber so sprecht doch, Obrist!“ sagte der Alte, indem er seinem Sohn winkte, Stühle zu setzen, „setzt Euch, Ihr seid noch in der ersten Hitze.“

„Mein Regiment hat gestern und heute den Dienst“, fuhr jener eifrig fort; „da bringt man nun gestern nacht von der Redoute weg einen Menschen auf unsere Wache mit dem ausdrücklichen Befehl vom Juden, ihn wohl zu bewachen, aber keinen weitern Rapport abzustatten; heute früh zieht der Kapitän Reelzingen auf, findet einen Gefangenen im Offizierszimmer, von welchem nichts im Rapport steht, und denkt Euch – nach einer halben Stunde kömmt der Minister selbst, schickt den Kapitän aus dem Zimmer, verhört auf unserer Wache den Gefangenen insgeheim, entläßt ihn dann und befiehlt dem Kapitän noch einmal, keinen Rapport abzustatten und – nimmt ihm das Ehrenwort ab – er, einem Offizier auf der Wache – nimmt ihm das Wort ab, den Namen des Gefangenen nicht zu nennen; dahin also ist es gekommen, daß jeder Schreiber oder gar ein hergelaufener Jude uns kommandiert? Nach Kriegsrecht muß ich den Kapitän kassieren lassen; meine Ehre fordert, daß ich es nicht dulde, denn ich hatte den Dienst, und ich muß mich rühren, sollte es mich auch meine Stelle kosten.“

Die beiden Lanbek hatten sich während der heftigen Rede des Obristen bedeutungsvolle Blicke zugeworfen. „Der Jude ist listiger, als wir dachten“, sagte, als jener geendet hatte, der Vater; „also auch auf den Obrist war es abgesehen, auch für ihn war die Falle aufgestellt! Wer meint Ihr wohl, daß der Gefangene war? Da, seht ihn, mein leiblicher Sohn saß heute nacht auf Eurer Wache!“

[417] Der Obrist fuhr staunend zurück, und so groß war der Unmut über den Eingriff in seine militärischen Rechte, daß er sich nicht enthalten konnte, einen unwilligen, finstern Blick auf den jungen Mann zu werfen. Als aber der alte Lanbek fortfuhr und ihm erzählte, wie er selbst eigentlich die Ursache dieses Vorfalls gewesen, und wie alles andere so sonderbar gekommen sei, als er ihm den arglistigen Plan des Ministers näher auseinandersetzte, da sprang Herr von Röder von seinem Stuhl auf. „Wohlan, Alter!“ sagte er mit bewegter Stimme zu dem Konsulenten, „daß er mich verfolgt und haßt, hat am Ende nichts zu bedeuten, und daran ist nur der General Römchingen schuld, der mich nie leiden konnte; aber über dir soll er den Hals brechen, oder ich will nicht selig werden! Herr Aktuarius, die Stelle müßt Ihr annehmen, das ist jetzt keine Frage mehr, denn Euer Vater darf jetzt nicht von seinem Amt kommen, oder Verfassung und Religion stehen auf dem Spiel. Aber zum Herzog will ich gehen, will sprechen, und sollt’ es mich mein Leben kosten.“

„Das werdet Ihr nicht thun, Obrist!“ sagte der Alte mit Nachdruck und Ernst; „leset diesen Brief, den man uns aus Würzburg schickt, und sagt mir dann, ob Ihr noch waget, zum Herzog zu gehen und zu sprechen.“ Der Obrist nahm aus seiner Hand ein Schreiben und fing an zu lesen; doch je weiter er las, desto bestürzter wurden seine Züge, bis er staunend, aber mit zornsprühenden Augen den Alten anblickte und die Arme sinken ließ.

„Vater!“ sprach der junge Mann, der betroffen bald den Alten, bald den Obristen betrachtete, „Vater, Sie machen mich hier zum Zeugen eines Auftrittes, bei welchem ich vielleicht besser nicht zugegen gewesen wäre. Ich soll aber gezwungenerweise eine Rolle übernehmen, die mir nicht zusagt. Ich bin zum Expeditionsrat ernannt und weiß nicht warum; ich darf die Stelle nicht ablehnen, obgleich sie mich vor der Welt zum Schurken macht, und weiß nicht warum; es gehen Dinge vor im Staat und in meines Vaters Hause, man verhehlt sie mir, und ich weiß wieder nicht warum. Herr Obrist von Röder, Sie überreden mich, eine Stelle nicht auszuschlagen, die meines Vaters Namen beschimpft; von [418] Ihnen, glaube ich Gründe verlangen zu können, warum ich es nicht thun soll?“

„Gott weiß, er hat recht!“ rief Röder, indem er den jungen Mann nachdenkend betrachtete; „ich weiß auch nicht, Alter, warum Ihr ihm nicht längst den Schlüssel gegeben habt. Wenn Ihr ihm übrigens die Augen nicht öffnen wollt, so will ich ihm diesen Dienst thun, weil ich weiß, wie drückend es ist, ein wichtiges Geheimnis halb zu erraten und halb zu ahnen.“

„Es sei“, sagte der Vater, „setzet Euch wieder. Wenn ich dich, mein Sohn, bis jetzt nicht mit Dingen dieser Art vertraut gemacht habe, so geschah es nur aus Furcht, für einen allzu stolzen Vater zu gelten, denn wir hatten uns das Wort gegeben, nur erprobten und ausgezeichneten Männern uns anzuvertrauen. Ich darf dir nicht erst sagen, was in drei Jahren, seit Alexander regiert, aus Württemberg geworden ist. Man soll von einem Lanbek nicht sagen können, daß er gegen seinen Herrn gemurrt hätte; er ist ein tapferer Mann und nach Prinz Eugenius vielleicht der erste Feldherr seiner Zeit, aber das Feldregiment taugt wohl im Lager und vor dem Feind, nicht so in der Kanzlei. Er sieht die Regierung des Ländchens, wie er sagt, etwas zu heldenmäßig an, das heißt, er sieht darüber hinweg und läßt andere dafür sorgen.“

„Dieses Ländchen!“ rief der Obrist bitter, „dieses schöne Württemberg! Es heißt wohl ein alter Spruch, daß, wenn man auch sich alle Mühe gebe, dieses Land doch nicht könne zu Grunde gerichtet werden; aber nous verrons! Wenn es so fortgeht, wenn man es durch den Verkauf der Ämter, durch Verhöhnung der Bessern, durch Erhebung der niederträchtigsten Bursche geflissentlich verderbt, wenn man seine Kräfte bis aufs Mark aussaugt –“

„Kurz, mein Freund“, fuhr der Alte fort, „es kann nicht so fortgehen. Nach und nach kann es nicht besser werden, denn schon jetzt sitzen bei uns in der Landschaft fünf Schurken, die nicht einmal der Gottseibeiuns für sich repräsentieren ließe, alle Ämter sind verkauft oder für Süßsche Kreaturen käuflich; also kann es nur schlechter werden. Aber es sind zwei Partien, die da sagen: [419] ‚Es muß anders werden.‘ Die eine Partie ist Süß, der schnöde Jude, der General Römchingen[19], der feinste von diesen Burschen, Hallwachs[19], dein neuer Kollege, Metz[19] und noch einige von der Landschaft. Wir wissen, was sie wollen, und es ist nichts Geringeres, als die Stände und den Landtag völlig aufzuheben.“

„Und, Gott sei geklagt“, sagte Herr von Röder, „den Herzog haben sie von seiner edelmütigen Seite gepackt, er ist alles zufrieden. Das Land sei aufgebracht über die Stände, sagen sie ihm, man murre über die Landschaft, und nun hat er sich entschlossen, das Institut wie ein Korps Invaliden aufzulösen, dem Lande die jährlichen Kosten der Stände edelmütig zu schenken und allein zu regieren.“

„Wie? Verstehe ich recht?“ rief der junge Lanbek, „also unser letzter Schutz gegen den übeln Willen oder gegen die unrichtige Ansicht eines Herrn will man uns rauben? Auf die Verfassung ist es abgesehen? Doch das ist nicht möglich, Alexander hat sie ja beschworen, und mit welchen Mitteln will er dies wagen? Meinen Sie wirklich, Herr Obrist, der württembergische Soldat werde seine eigenen Rechte unterdrücken?“

„Hier sind die Hunde“, erwiderte der Obrist, indem er auf den Brief zeigte, „die man bei diesem Treibjagen hetzen will.“

„Nur ruhig“, sprach der Landschaftskonsulent, „höre mich ganz. Der Herzog ist aufs abscheulichste getäuscht; er glaubt fest, daß es ihm nur ein Wort koste, so werden die Stände nicht mehr sein, und alle Herzen werden ihm zufliegen. So haben es der Jude und Römchingen ihm vorgeschwatzt; aber sie kennen uns besser und wissen, daß Gewalt zu einem solchen Schritt gehört. Hier ist ein Brief an den Erzbischof von Würzburg, den der General Römchingen geschrieben: man wolle zum Besten des Landes einige Änderungen vornehmen, man könne sich aber auf die Truppen im Lande nicht verlassen, daher solle der Bischof bewirken, daß die Truppen des fränkischen Kreises an einem bestimmten [420] Tag an unserer Grenze seien. Auch an einige Reichsstände in Oberschwaben hat er ähnliche Schreiben erlassen.“

„Und im Namen des Herzogs?“ fragte der junge Mann.

„Nein, sie lassen ihn nur so durchblicken. Aber eine andere Lockspeise haben sie dem Bischof hingeworfen; man sagt nicht umsonst, daß unser alter Reformator Brenz[20] seit einigen Nächten aus seinem Grab aufstehe und die Kanzel besteige – katholisch wollen sie uns machen. Du staunst? Du willst nicht glauben? Auch ich glaube, daß sie es nicht aus Religiösität thun wollen, sondern entweder soll es den Bischof und die Oberschwaben enger für die Sache verbinden, oder sie meinen dem Herzog gefällig zu sein, wenn sie in vierundzwanzig Stunden den Glauben reformieren, wie sie das alte Recht reformieren wollen.“

„Es kann, es darf nicht sein!“ rief der junge Mann; „die Grundpfeiler unseres Glückes und unserer Zufriedenheit mit einem Schlag umstürzen? Es ist nicht möglich, der Herzog kann es nicht dulden.“

„Er weiß und denkt nicht, daß sie dies alles vorhaben“, sagte der Obrist; „sein Ruhm ist ihm zu teuer, als daß er ihn auf diese Weise beflecken möchte; aber wenn es geschehen ist, ohne daß die Schuld auf ihn fällt, dann, fürchte ich, wird er das Alte nicht wiederherstellen. Zu welchem Zweck, glaubt Ihr denn, habe der Jude dem Herzog das Edikt von gestern abgeschwatzt, worin er für Vergangenheit und Zukunft von aller Verantwortlichkeit freigesprochen wird? Das soll ihn schützen in dem kaum denkbaren Fall, wenn der Herzog über die treuen und ergebenen Herren Räte erbost würde, die ihm die unumschränkte Macht zu Füßen legen und in der Stiftskirche einen Krummstab aufpflanzen.“

„Und gegen diese wollt ihr kämpfen?“ fragte Gustav besorgt und zweifelhaft.

„Kämpfen oder zusammen untergehen“, sprach der Alte. „Wer mit uns verbunden ist, mußt du jetzt nicht wissen, es genügt dir zu erfahren, daß es die Trefflichsten des Adels und die Wackersten [421] der Bürger sind. Wir wollten den Kaiser um Schutz anflehen, aber die Umstände sind ungünstig, die Zeit ist zu kurz, um durch alle Umwege zu ihm zu gelangen, und überdies hat der Herzog einen gewaltigen Stein im Brett seit den letzten Kriegen; man würde uns abweisen. Uns bleibt nichts übrig als –“

„Wir müssen“, rief der Obrist mutig und entschlossen, „das Prävenire müssen wir spielen; St. Joseph, den 19. März haben sie sich zum Ziel gesteckt; aber einige Tage zuvor müssen wir die Feinde des Landes gefangen nehmen, die treuen Truppen nach Stuttgart ziehen, das Landvolk zu unserer Hülfe aufrufen und, wenn es gelungen ist, dem Herzog von neuem huldigen und ihm zeigen, an welchem furchtbaren Abgrund er und wir gestanden. Und dann – er ist ein tapferer Soldat und ein Mann von Ehre, dann wird er erröten vor der Schande, zu welcher ihn jene Elenden verführen wollten.“

„Aber der Herzog“, fragte der junge Mann, „wo soll er sein und bleiben, während ihr diese furchtbare Gegenmine auffliegen lasset?“

„Das ist es ja gerade, was uns zur Eile zwingt“, erwiderte der Obrist; „sie haben ihn überredet, im nächsten Monate die Festungen Kehl und Philippsburg zu bereisen, und hinter seinem Rücken wollen sie reformieren. Den 11. will er abreisen; schon sind die Adjutanten ernannt, die ihn begleiten sollen, und, wenn ich es sagen darf, mit solchem Gepränge, und so viel und laut wird von dieser Reise gesprochen, daß ich fürchte, die ganze Fahrt ist nur Maske, und der Herzog wird nicht über die Grenze gehen.“

„Du kennst jetzt unsere Plane“, sprach der alte Herr zu seinem Sohn. „Sei klug und vorsichtig. Ein Wort zu viel kann alles verraten. Darum, wie es unter uns gebräuchlich ist, lege deine Hand in die deines Vaters und dieses tapfern Mannes und schwöre uns, zu schweigen.“

„Ich schwöre“, sagte Lanbek mit fester Stimme, aber bleich und mit starrem Auge, und sein Vater und der Obrist zogen ihn an ihre Brust und begrüßten ihn als einen der Ihrigen.

[422]
9.

Ein drückender, trüber Nebel lag über Stuttgart und gab den Bergen umher und der Stadt ein trauriges, ödes Ansehen; gerade so lag auch ein trüber, ängstlicher Ernst auf den Gesichtern, die man auf den Straßen sah, und es war, als hätte ein Unglück, das man nicht vergessen konnte, oder ein neuer Schlag, den man fürchtete, alle Herzen wie die sonst so lieblichen Berge umflort und in Trauer gehüllt. Am Abend eines solchen Tages schlich der junge Lanbek durch die feuchten Gänge des Gartens. Sein Gesicht war bleich, sein Auge trübe, sein Mund heftig zusammengepreßt, seine hohe Gestalt trug er nicht mehr so leicht und aufgerichtet wie zuvor, und es schien, als sei er in den letzten acht Tagen um ebenso viele Jahre älter geworden. Was er vorausgesehen hatte, war eingetroffen; niemand, der die Lanbeks auch nur dem Rufe nach kannte, konnte die schnelle Erhebung des jungen Mannes begreifen oder rechtfertigen. Die Günstlinge und Kreaturen des mächtigen Juden traten ihm mit jener lästigen Traulichkeit, mit jener rohen Freude entgegen, wie etwa Diebe und falsche Spieler einem neuen Genossen ihrer Schlechtigkeit beweisen, und des jungen Lanbeks Gefühl bei solchen neuen, werten Bekanntschaften läßt sich am besten mit den unangenehmen und wehmütigen Empfindungen eines Mannes vergleichen, den das Unglück in einen Kerker mit dem Auswurf der Menschen warf, und der sich von Räubern und gemeinen Weibern als ihresgleichen begrüßen lassen muß. Die gnädigen Blicke, die ihm der Minister hin und wieder öffentlich, beinahe zum Hohn, zuwarf, bezeichneten ihn als einen neuen Günstling. Jetzt erst sah er, wie viele gute Menschen ihm sonst wohlgewollt hatten, denn so manches bekannte Gesicht, das sonst dem Sohne des alten Lanbek einen guten Tag gelächelt hatte, erschien jetzt finster, und selbst wackere Bürgersleute und jene biederen, ehrlichen Weingärtner, die sich bei ihm und dem Alten so oft Rats erholt hatten, wandten jetzt die Augen ab und gingen vorüber, ohne den Hut zu rücken.

Der Gedanke an Lea erhöhte noch sein Unglück. Er wußte [423] genau, wie unglücklich sein alter Vater, er selbst und die Seinigen werden könnten, wenn der verzweifelte Schlag, den sie führen wollten, mißlang, und doch, so groß der Frevel war, den jener fürchterliche Mann auf sich geladen hatte, dennoch graute ihm, wenn er sich die Folgen überlegte, die sein Sturz nach sich ziehen würde. Was sollte aus der armen Lea werden, wenn der Bruder vielleicht monatelang gefangen saß? Konnte der Herzog, ein so strenger Herr, Vergehungen und Pläne wie die des Juden vergeben, selbst wenn er ihm durch jenes Edikt Straflosigkeit zugesichert hatte?

Und dann durchzuckte ihn wieder die Erinnerung an jene schreckliche Drohung, die Süß gegen ihn ausgestoßen, als er das Verhältnis des jungen Mannes zu seiner Schwester berührte. Alle Angst vor seinem alten Vater, vor der Schande, die eine solche Verbindung, wenn sie auch nur besprochen würde, brächte, kam über ihn. Es gab Augenblicke, wo er seine Thorheit, mit der schönen Jüdin auch nur ein Wort gewechselt zu haben, verwünschte, wo er entschlossen war, den Garten zu verlassen, sie nie wiederzusehen, seinem Vater alles zu sagen, ehe es zu spät wäre; aber wenn er sich dann das schöne Oval ihres Hauptes, die reinen, unschuldigen und doch so interessanten Züge und jenes Auge dachte, das so gerne und mit so unnennbarem Ausdruck auf seinen eigenen Zügen ruhte, da war es, ich weiß nicht ob Eitelkeit, Thorheit, Liebe oder gar der Einfluß jenes wunderbaren Zaubers, der sich aus Rahels Tagen unter den Töchtern Israels erhalten haben soll – es zog ihn ein unwiderstehliches Etwas nach jener Seite hin, wo ihn, seit die Dämmerung des ersten Märzabends finsterer geworden war, die schöne Lea erwartete.

„Endlich, endlich“, sagte Lea mit Thränen, indem sie ihre weiße Hand durch die Staketen bot, welche die beiden Gärten trennten. „Wenn nicht der Frühling indes hätte kommen müssen, wahrhaftig, ich hätte gedacht, es sei schon ein Vierteljahr vorüber. Ich bin recht ungehalten; wozu denn auch in den Garten gehen bei dieser schlimmen Jahreszeit, wenn Ihr frei und offen durch die Hausthüre kommen dürft? Wisset nur, Herr Nachbar, ich bin sehr unzufrieden.“

[424] „Lea“, erwiderte er, indem er die schöne Hand an seine Lippen zog, „verkenne mich nicht, Mädchen! Ich konnte wahrhaftig nicht kommen, Kind! Zu dir durfte ich nicht kommen, und in die Zirkel deines Bruders gehe ich nicht; und wenn ich wüßte, daß du ein einziges Mal da warst, würde ich dich nicht mehr sprechen.“ Trotz der Dunkelheit glaubte der junge Mann dennoch eine hohe Röte auf Leas Wangen aufsteigen zu sehen. Er sah sie zweifelhaft an; sie schlug die Augen nieder und antwortete: „Du hast recht, ich darf nicht in die Zirkel meines Bruders gehen.“

„So bist du da gewesen? Ja, du bist dort gewesen!“ rief Lanbek unmutig; „gestehe nur, ich kann jetzt doch schon alles in deinen Augen lesen.“

„Höre mich an“, erwiderte sie, indem sie bewegt seine Hand drückte, „die Amme hat dir gesagt, was nach dem Karneval vorging und wie ich bat und flehte, dich frei zu lassen. Seit jener Zeit hat sich sein Betragen ganz geändert; er ist freundlicher, behandelt mich, wie wenn ich auf einmal um fünf Jahre älter geworden wäre, und läßt mich zuweilen sogar mit sich ausfahren. Vor einigen Tagen befahl er mir, mich so schön als möglich anzukleiden, legte mir ein schönes Halsband in die Hand, und abends führte er mich die Treppe herab in seine eigenen Zimmer. Da waren nur wenige, die ich kannte, die meisten Herrn und Damen waren mir fremd. Man spielte und tanzte, und von Anfang gefiel es mir sehr wohl, nachher freilich nicht, denn –“

„Denn?“ fragte Lanbek gespannt.

„Kurz, es gefiel mir nicht, und ich werde nicht mehr hingehen.“

„Ich wollte, du wärest nie dort gewesen“, sagte der junge Mann.

„Ach, konnte ich denn wissen, daß die Gesellschaft nicht für mich passen würde?“ erwiderte Lea traurig; „und überdies sagte mein Bruder ausdrücklich, es werde meinen Herrn Bräutigam freuen, wenn ich auch unter die Leute komme.“

„Wen hat er gesagt, wen werde es freuen?“ rief Lanbek.

„Nun dich“, antwortete Lea; „überhaupt, Lanbek, ich weiß gar nicht, wie ich dich verstehen soll; du bist so kalt, so gespannt, gerade jetzt, da wir offen und ohne Hindernis reden können, bist [425] du so ängstlich, beinahe stumm; statt ins Haus zu uns zu kommen, bestellst du mich heimlich in den Garten, ich weiß doch nicht, vor wem man sich so sehr zu fürchten hat, wenn man einmal in einem solchen Verhältnis steht?“

„In welchem Verhältnis?“ fragte Lanbek.

„Nun, wie fragst du doch wieder so sonderbar! Du hast bei meinem Bruder um mich angehalten, und er sagte dir zu, im Fall ich wollte und der Herzog durch ein Reskript[WS 12] das Hindernis wegen der Religion zwischen uns aufhöbe. Ich bin nur froh, daß du nicht Katholik bist, da wäre es nicht möglich, aber ihr Protestanten habt ja kein kirchliches Oberhaupt und seid doch eigentlich so gut Ketzer wie wir Juden.“

„Lea! um Gotteswillen, frevle nicht!“ rief der junge Mann mit Entsetzen. „Wer hat dir diese Dinge gesagt? O Gott, wie soll ich dir diesen furchtbaren Irrtum benehmen?“

„Ach, geh’ doch!“ erwiderte Lea. „Daß ich es wagte, mein verhaßtes Volk neben euch zu stellen, bringt dich auf. Aber sei nicht bange; mein Bruder, sagen die Leute, kann alles, er wird uns gewiß helfen, denn was er sagt, ist dem Herzog recht. Doch eine Bitte habe ich, Gustav; willst du mich nicht bei den Deinigen einführen? Du hast zwei liebenswürdige Schwestern; ich habe sie schon einigemal vom Fenster aus gesehen; wie freut es mich, einst so nahe mit ihnen verbunden zu sein! Bitte, laß mich sie kennen lernen.“

Der unglückliche junge Mann war unfähig, auch nur ein Wort zu erwidern; seine Gedanken, sein Herz wollten stille stehen. Er blickte wie einer, der durch einen plötzlichen Schrecken aller Sinne beraubt ist, mit weiten, trockenen Augen nach dem Mädchen hin, das, wenn auch nicht in diesem Augenblick, doch bald vielleicht noch unglücklicher werden mußte als er, und das jetzt lächelnd, träumend, sorglos wie ein Kind an einem furchtbaren Abgrund sich Blumen zu seinem Kranze pflückte.

„Was fehlt dir, Gustav?“ sprach sie ängstlich, als er noch immer schwieg. „Deine Hand zittert in der meinigen; bist du krank? Du bist so verändert.“ Doch – noch ehe er antworten konnte, sprach eine tiefe Stimme neben Lea: „Bon soir, Herr [426] Expeditionsrat; Sie unterhalten sich hier im Dunkeln mit dero Braut? Es ist ein kühler Abend; warum spazieren Sie nicht lieber herauf ins warme Zimmer? Sie wissen ja, daß mein Haus Ihnen jederzeit offen steht.“

„Mit wem sprichst du hier, Gustav?“ sagte der alte Lanbek, der beinahe in demselben Augenblick herantrat; „deine Schwestern behaupten, du unterhaltest dich hier unten mit einem Frauenzimmer.“

„Es ist der Minister“, antwortete Gustav beinahe atemlos.

„Gehorsamer Diener“, sprach der Alte trocken; „ich habe zwar nicht das Vergnügen, Ew. Exzellenz zu sehen in dieser Dunkelheit, aber ich nehme Gelegenheit, meinen gehorsamsten Dank von wegen der Erhebung meines Sohnes abzustatten; bin auch sehr scharmiert, daß Sie so treue Nachbarschaft mit meinem Gustav halten.“

„Man irrt sich“, erwiderte Süß, heiser lachend, „wenn man glaubt, ich bemühe mich, mit dem Herrn Sohn im Dunkeln über den Zaun herüber zu parlieren, ich kam nur, um meine Schwester abzuholen, weil es etwas kühles Wetter ist und die Nachtluft ihr schaden könnte.“

„Mit Ihrer Schwester?“ sagte der Alte streng; „Bursche, wie soll ich das verstehen, sprich!“

„Echauffieren sich doch der Herr Landschaftskonsulent nicht so sehr!“ erwiderte der Jude; „Jugend hat nicht Tugend, und er macht ja nur meiner Lea in allen Ehren die Kour.“

„Schandbube!“ rief der alte Mann, indem er seine Hand um den Arm seines Sohnes schlang und ihn hinwegzog, „geh’ auf dein Zimmer; ich will ein Wort mit dir sprechen; und Sie, Jungfer Süßin, daß Sie sich nimmer einfallen läßt, mit dem Sohn eines ehrlichen Christen, mit meinem Sohn, ein Wort zu sprechen, und wäre Ihr Bruder König von Jerusalem, es würde meinem Hause dennoch keine Ehre sein.“ Mit schwankenden, unsichern Schritten führte er seinen Sohn hinweg. Lea weinte laut, aber der Minister lachte höhnisch. „Parole d’honneur!“ rief er, „das war eine schöne Szene; vergessen Sie übrigens nicht, Herr [427] Expeditionsrat, daß Sie nur noch vierzehn Tage Frist zu Ihrer Werbung haben; bis dahin und von dort an werde ich mein Wort halten.“


10.

Die an Furcht grenzende Achtung des jungen Lanbek hieß ihn geduldig und ohne Murren dem Vater folgen, und langjährige Erfahrungen über den Charakter des Alten verboten ihm in diesem Augenblick, wo der Schein so auffallend gegen ihn war, sich zu entschuldigen. Der Landschaftskonsulent warf sich in seinem Zimmer in einen Armsessel und verhüllte sein Gesicht. Besorgt und ängstlich stand Gustav neben ihm und wagte nicht zu reden, aber die beiden schönen Schwestern des jungen Mannes flogen herbei, als sie die Schwäche des Vaters sahen, fragten zärtlich, was ihm fehle, suchten seine Hände vom Gesicht herabzuziehen und benetzten sie mit ihren Thränen. – „Das ist der Bube“, rief er nach einiger Zeit, indem sein Zorn über seine körperliche Schwäche siegte; „der ist es, der das Haus eures Vaters, unsern alten guten Namen, euch, ihr unschuldigen Kinder, mit Elend, Schmach und Schande bedeckt; der Judas, der Vatermörder – denn heute hat er den Nagel in meinen Sarg geschlagen.“

„Vater! um Gotteswillen! Gustav!“ riefen die Mädchen bebend, indem sie ihren bleichen Bruder scheu anblickten und sich an den alten Lanbek schmiegten.

„Ich weiß“, sagte der unglückliche junge Mann, „ich weiß, daß der Schein gegen mich –“

„Willst du schweigen!“ fuhr der Konsulent mit glühenden Augen und einer drohenden Gebärde auf. „Schein? Meinst du, du könnest meine alten Augen auch wieder blenden wie damals nach dem Karneval? Nicht wahr, es wäre weit bequemer, wenn sich diese beiden Augen schon ganz geschlossen, wenn sie den alten Lanbek so tief verscharrt hätten, daß keine Kunde von der Schande seines Namens mehr zu ihm dringt. Aber verrechnet hast du dich, Elender! Enterben will ich dich; hier stehen meine lieben Kinder, du aber sollst ausgestoßen sein, meines ehrlichen Namens beraubt, verflucht –“

„Vater!“ riefen seine drei Kinder mit einer Stimme, die [428] Töchter stürzten sich auf ihn, und zum erstenmal wagte es Hedwig, ihre Lippen auf die geheiligten Lippen des Vaters zu legen, indem sie ihm den zum Fluch geöffneten Mund mit Küssen verschloß. Die jüngere hatte sich unwillkürlich vor Gustav gestellt, seine Hand ergriffen, als wolle sie ihn verteidigen, der junge Mann aber riß sich kräftig los; nie so als in diesem Augenblick glich sein Gesicht, sein drohendes Auge den Zügen seines Vaters, und die beengte Brust weit vorwerfend, sprach er: „Ich habe alles ertragen, was möglicherweise ein Sohn von seinem Vater ertragen darf, ich habe aber noch andere Pflichten, meine eigene Ehre muß ich wahren, und wäre es mein eigener Vater, der sie antastet. Es hätte Ihnen genügen können, wenn ich bei allem, was mir heilig ist, versichere, daß ich nicht das bin, wofür Sie mich halten. Wenn Sie keinen Glauben mehr an mich haben, wenn Sie mich aufgeben, dann bleibt nichts mehr übrig. Lebet wohl – ich will euch nur noch eine Schande machen.“

„Du bleibst!“ rief ihm der Alte, mehr ängstlich und bebend als befehlend nach. „Meinst du, dies sei der Weg, einen gekränkten Vater zu versöhnen? Hast du so sehr Eile, mir voranzugehen und einen Weg einzuschlagen, wo ich dich nie mehr träfe? Denn ich habe redlich und nach meinem Gewissen gelebt, dich aber und deine Absicht verstand ich wohl.“

„Aber Vater“, sprach seine jüngste Tochter mit sanfter Stimme, „wir hatten ja alle Gustav immer so lieb, und Sie selbst sagten so oft, wie tüchtig er sei; was kann er denn so Schreckliches verbrochen haben, daß Sie so hart mit ihm verfahren?“

„Das verstehst du nicht, oder ja, du kannst es verstehen: des Juden Schwester liebt er, und mit ihr und seinem Herrn Schwager Süß hat er sich am Gartenzaun unterhalten. Jetzt sprich! Kannst du dich entschuldigen? O ich Thor, der ich mir einbildete, man habe ihn, um mir eine Falle zu legen, erhoben und angestellt! Seine jüdische Scharmante hat ihn zum Expeditionsrat gemacht!“

„Der Vater will nicht verstehen“, sprach der junge Mann, mit Thränen in den Augen, „darum will ich zu euch sprechen. Euch, lieben Schwestern, will ich redlich erzählen, wie [429] die Umstände sich verhalten, und ich glaube nicht, daß ihr mich verdammen werdet.“ Die Mädchen setzten sich traurig nieder, der Alte stützte seine gefurchte Stirne auf die Hand und horchte aufmerksam zu. Gustav erzählte, anfangs errötend und dann oft von Wehmut unterbrochen, wie er Lea kennen gelernt habe, wie gut und kindlich sie gewesen sei, wie gerne sie mit ihm gesprochen habe, weil sie sonst niemand hatte, mit dem sie sprechen konnte. Er wiederholte dann das Gespäch mit dem jüdischen Minister und dessen arglistige Anträge; er versicherte, daß er nie dem Gedanken an eine Verbindung mit Lea Raum gegeben habe, und daß er diesen Abend dem Minister es selbst gesagt haben würde, wäre nicht der Vater so plötzlich dazwischengekommen.

„Du hast sehr gefehlt, Gustav“, sagte Hedwig, seine ältere Schwester, ein ruhiges und vernünftiges Mädchen. „Da du nie, auch nur entfernt an eine Verbindung mit diesem Mädchen denken konntest, so war es deine Pflicht als redlicher Mann, dich gar nicht mir ihr einzulassen. Auch darin hast du sehr gefehlt, daß du nicht gleich damals schon deinem Vater alles anvertraut hast; aber so hast du jetzt deine ganze Familie unglücklich und zum Gespött der Leute gemacht, denn meinst du, der Süß werde nicht halten, was er gedroht? Ach! er wird sich an Papa, an dir, an uns allen rächen.“

„Geh’, bitte den Vater um Verzeihung!“ sprach das schöne Käthchen weinend. „Du mußt ihm nicht noch Vorwürfe machen, Hedwig, er ist unglücklich genug. Komm’, Gustav“, fuhr sie fort, indem sie seine Hand ergriff und ihn zu dem Vater führte, „bitte, daß er dir vergibt; ja, wir werden recht unglücklich werden, der böse Mann wird uns verderben, wie er das Land verdorben hat, aber dann lasset doch wenigstens Frieden unter uns sein. Wenn wir uns nur noch haben, so haben wir viel, wenn er uns alles übrige nimmt.“

Der Alte blickte seinen Sohn lange, doch nicht unwillig an. „Du hast gehandelt wie ein eitler junger Mensch, und die Aufmerksamkeit, die dir diese Jüdin schenkte, hat dich verblendet. Du hast, ich fühle es für dich, vielleicht schon seit geraumer Zeit, gewiß aber diesen Abend dafür gebüßt. Katharine hat recht; [430] ich will dir nicht länger grollen; wir müssen uns jetzt gegen einen furchtbaren Feind waffnen. Glaubst du, daß er Wort halten wird mit den vierzehn Tagen Frist, die er dir nachrief?“

„Ich glaube und hoffe es“, antwortete der junge Mann. „Um jene Zeit muß sich mehr entscheiden, als nur das Schicksal unseres Hauses“, fuhr der Alte fort; „Römchingen und Süß – oder wir; wer verliert, bezahlt die Zeche. Jetzt gelobe mir aber, Gustav, die Jüdin nie mehr, weder im Garten noch sonstwo aufzusuchen, und unter dieser Bedingung will ich deine Thorheit verzeihen.“

Gustav versprach es mit bebenden Lippen und verließ dann das Zimmer, um seine Bewegung zu verbergen. Noch lange und mit unendlicher Wehmut dachte er dort über das unglückliche Geschöpf nach, dessen Herz ihm gehörte, und das er nicht lieben durfte. Er teilte zwar alle strengen religiösen Ansichten seiner Zeit, aber er schauderte über dem Fluch, der einen heimatlosen Menschenstamm bis ins tausendste Glied verfolgte und jeden mit ins Verderben zu ziehen schien, der sich auch den Edelsten unter ihnen auf die natürlichste Weise näherte. Es fand zwar keine Entschuldigung für sich selbst und seine verbotene Neigung zu einem Mädchen, das nicht auch seinen Glauben teilte, aber er gewann einigen Trost, indem er sein eigenes Schicksal einer höheren Fügung unterordnete.

Sein Vater und die Schwestern unterhielten sich noch lange über ihn und diese Vorfälle, und die Erinnerung an so manche schöne Tugend des jungen Mannes versöhnte nach und nach den Alten, so daß er selbst das Geheimhalten jener Vorschläge des Ministers einigermaßen entschuldigte. Als aber spät abends die beiden Schwestern allein waren, sagte Käthchen: „Wahr ist es doch, Gustav hat zwar gefehlt, aber an seiner Stelle hätte jeder andere auch gefehlt. Ich habe sie einmal am Fenster und einmal im Garten gesehen; so schön und anmutig sah ich in meinem ganzen Leben nichts; was sind alle Gesichter in Stuttgart, was ist selbst die schöne Marie, von der man so viel Wunder macht, gegen dieses herrliche Gesicht! Nein, Hedwig, ich hätte mich ganz in sie verlieben können.“

[431] „Wie magst du nur so thöricht schwatzen!“ erwiderte Hedwig unwillig; „mag sie sein wie sie will, sie ist und bleibt doch nur eine Jüdin.“


11.

Nicht die unglückliche Liebe ihres Bruders allein war es, was in den folgenden Tagen die schönen Töchter des Landschaftskonsulenten Lanbek ängstigte; nein, es war das sonderbare und drückende Verhältnis, das zwischen Vater und Sohn zu herrschen schien, was die vier schönen blauen Augen im stillen so manche Thräne kostete. Man konnte nicht sagen, daß sie sich finster angeblickt, mürrisch gefragt oder kalt geantwortet hätten; aber dennoch sah man ihnen beiden an, daß Gram und Sorgen sie beschäftigen, und die Mädchen wurden immer wieder in ihren Vermutungen über den Grund dieses Grämens irre geleitet, wenn sie zuweilen den alten Mann und seinen Sohn in einer Fensternische beisammen stehen und zutraulicher, aber auch ernster als je zusammen flüstern sahen. Endlich wurden sie sogar für drei Abende in der Woche förmlich aus dem großen Familienzimmer, das Winters allen zum Aufenthalt diente, verwiesen, und, was ihres Wissens nie geschehen war, Papas kleines Bibliothekzimmer wurde ihnen für solche Abende besonders geheizt und ihnen die Erlaubnis gegeben, sich an den trefflichen Juristen und Philosophen zu amüsieren.

Freilich bedachten bei solchem Exil weder Vater noch Sohn, daß man von der Bibliothek im obern Stock in das Studierzimmer, von diesem in das Gastzimmer und von dem Gastzimmer in die sogenannte Rumpelkammer kommen könne, von welcher eine viereckige Öffnung, mit einem kleinen Deckel versehen, in das Wohnzimmer hinabging, um Luft oder Wärme in dieses Gemach zu leiten; sie bedachten auch nicht, daß weibliche Neugierde wohl noch stärkere Schranken durchbrochen haben würde als diese, die zwischen jener Kammer und der Bibliothek lagen. Einige Abende hatte übrigens doch ein noch mächtigeres Gefühl als Neugierde die Mädchen in der Bibliothek zurückgehalten, nämlich Furcht. Hedwig behauptete, schon öfters oben in jener Kammer Fußtritte [432] und ein schreckliches Stöhnen gehört zu haben, und dem schönen Käthchen graute, dort hinzugehen, weil jenes Gemach nur eine dünne Wand aus Holz und Backsteinen von den Zimmern des gefürchteten Juden Süß trennte.

Eines Abends jedoch, als man die Mädchen schon längst weggeschickt hatte, sah Käthchen, die sich bis auf die Mitte der Treppe hinabgeschlichen hatte, drei Männer bei ihrem Vater eintreten, die ihre Neugierde aufs höchste trieben. Der erste, der sich langsam und schnaubend die untere Treppe heraufschob und auf der Hausflur einige Minuten stehen blieb, um Atem zu sammeln, war niemand Geringeres als der lutherische Prälat Klinger. Seine schneeweiße Perücke, seine Prälatenkette, die gerade auf dem Magen ruhte, und seine alten, verwitterten Züge flößten dem Mädchen ungemeine Ehrfurcht ein; ihm folgte hastigen Schrittes der Obrist und Stallmeister von Röder, ein Mann, den man für sehr klug und tapfer, aber zugleich auch in seinen Sitten für sehr unheilig hielt, und über den dritten hätte sie beinahe laut aufgelacht, es war der fröhliche Kapitän Reelzingen, der so drollige Geschichten und Schnurren zu erzählen wußte und sie schon auf manchem Ball beinahe zum Lachen gebracht hatte. Heute hatte er sein Gesicht in ganz ehrbare Falten gelegt und sah gerade aus wie damals, als er ihr auf parole d’honneur schwur, daß er sie vraiment liebe. Sie sah ihm lächelnd nach, bis sein ungeheurer Degen in der Thüre verschwunden war, und eilte dann in das Bibliothekzimmer, wo sie die blonde Hedwig traf, welche die Augen fest zugeschlossen hatte, um nicht über ein Gespenst zu erschrecken, wenn etwa zufällig eines in der Bibliothek auf und ab wandelte. „Heute müssen wir hinunter gucken!“ erklärte Käthchen, „und komm’ nur jetzt gleich mit; denke dir, die Leute kommen hier zusammen wie beim Karneval. Hast du je sonst den Prälaten Klinger und den Kapitän Reelzingen in einem Zimmer gesehen und dazu den Obrist Röder, und“ – setzte sie hinzu, als die Schwester zauderte – „ich müßte mich sehr irren, wenn ich nicht, als die Thüre einmal aufging, auch Blankenberg gesehen hätte.“

Dieser letzte Name entschied; Käthchen nahm das Licht und [433] ging mit pochendem Herzen voran, Hedwig folgte ihr, so nahe als möglich an die mutigere Schwester gedrängt, und als jene die verhängnisvolle Kammerthüre aufschloß, hielt sie sich fest an ihrem Kleide. Die Öffnung war gerade über dem Ofen des Wohnzimmers, das einen Stock tiefer lag, angebracht, und Käthchen konnte, als sie die Klappe aufzog, selbst wenn sie sich auf die Kniee legte und den Kopf tief herabbeugte, doch nicht mehr als 4 oder 5 der versammelten Männer sehen; auch Hedwig beugte sich jetzt herab und versuchte es, noch tiefer zu blicken als ihre Schwester, aber verdrießlich stand sie wieder auf und sagte: „Nichts als den breiten Rücken des Prälaten, einige Perücken und die Uniform des Obristen kann ich sehen; weißt du denn gewiß, daß Blankenberg zugegen ist?“

„Sicher!“ erwiderte Käthchen, schalkhaft lächelnd. „Doch laß uns horchen, was sie sprechen, vielleicht kennst du deinen Liebhaber an der Stimme.“

Sie setzten sich auf den Fußboden neben der Öffnung und lauschten; die angenehme Wärme, die von dem Ofen heraufdrang, und ihre Neugierde ließen sie eine Zeitlang die empfindliche Kälte der Märznacht vergessen; endlich richtete sich Hedwig unmutig auf. „Meinst du, wir werden klug werden aus diesem Geplauder, wovon man nur die Hälfte versteht? Sie schwatzen wieder, wie immer, vom Wohl des Landes, vom Herzog, von Süß, von allem; was geht das uns an! Komm’! Es ist gar schaurig hier und kalt. Mädchen, so steh’ doch auf!“

Aber Käthchen winkte ihr zu schweigen; man hörte jetzt eben den Obrist Röder mit bestimmter und vernehmlicher Stimme etwas vorlesen, die tiefe Stille umher unterbrach nur zuweilen ein schnell verrauschendes Murmeln des Unwillens. Jetzt sprach der alte Lanbek; Käthchens fröhliche Züge gingen nach und nach in Staunen und Angst über, endlich, als die Männer unten wieder laut, aber beifällig zusammen sprachen und die Gläser anstießen, flog eine hohe Röte über das schöne Gesicht des Mädchens, ihre Augen leuchteten, als sie vorsichtig die Klappe schloß, die Lampe ergriff und mit ihrer Schwester den Rückweg einschlug.

„Hast du was verstanden?“ fragte Hedwig; „du schienst auf [434] einmal so aufmerksam; was haben sie denn Besonderes gesprochen?“

„Ich weiß nicht alles, ich kann nicht alles sagen“, erwiderte Käthchen nachdenkend; „mir ist’s, als hätte mir alles geträumt. Höre – aber schweig’! Es könnte uns alle unglücklich machen. Das sind gefährliche Menschen in Vaters Zimmer unten. Mir graut, wenn ich daran denke, was daraus entstehen kann.“

„So sprich doch, einfältiges Kind! Ich bin zwei Jahre älter als du, und du sollst keine Geheimnisse vor mir haben.“

„Denke dir“, fuhr Käthchen mit leiser Stimme fort, „der Süß will uns katholisch machen und die Landschaft umstürzen; da verlöre der Vater und alle andern verlören ihre Stellen!“

„Katholisch!“ rief Hedwig mit Entsetzen, „da müßten wir ja Nonnen werden, wenn wir ledig blieben! Nein, das ist abscheulich!“

„Ach, warum nicht gar“, erwiderte Käthchen, lächelnd über den Jammer ihrer Schwester, „da müßte es viele Nonnen geben, wenn alle, die keine Männer bekommen, ins Kloster gingen; aber sei ruhig, es kommt nicht so weit. In drei Tagen, sagte Röder, werde der Herzog verreisen, und während er in Philippsburg ist, wollen die Männer da unten den Juden und alle seine Gehülfen im Namen der Landschaft gefangen nehmen und dann dem Herzog beweisen, wie schlecht seine Minister waren.“

„Ach Gott, ach Gott! das geht nicht gut“, sagte Hedwig weinend; alles werden sie verlieren, denn der Herzog traut allen eher als denen von der Landschaft; ich weiß ja, was mir einmal die Obristjägermeisterin über den Vater sagte. Du wirst sehen, es geht unglücklich!“

„Und wenn auch“, antwortete[WS 13] Käthchen, „so sind wir die Töchter eines Mannes, der, was er thut, zum besten seines Vaterlandes thut. Das kann uns trösten.“ Das mutige Mädchen holte aus dem Schranke eine mit vielen schönen Kupfern geschmückte Bibel. Sie gab der weinenden Schwester das Neue Testament, um sich an den Kupfern und Reimsprüchen zu zerstreuen. Sie selbst schlug sich das Alte Testament auf. Sie verbarg ihre eigene Besorgnis um ihren Vater unter einem Liedchen, das sie [435] leise vor sich hinsang, während ihre schönen Finger emsig die vergelbten Blätter von einem Bilde zum andern durcheilten.


12.

Es gibt im Leben einzelner Staaten Momente, wo der aufmerksame Beschauer noch nach einem Jahrhundert sagen wird, hier, gerade hier mußte eine Krise eintreten; ein oder zwei Jahre nachher wären dieselben Umstände nicht mehr von derselben Wirkung gewesen. Es ist dann dem endlichen Geist nicht mehr möglich, eine solche Fügung der Dinge sich hinweg zu denken und aus der unendlichen Reihe von möglichen Folgen diejenigen aneinander zu knüpfen, die ein ebenso notwendig verkettetes Ganze bilden, als ein verflossenes Jahrhundert mit allen seinen historischen Wahrheiten. Hier zeigte sich der Finger Gottes, pflegt man zu sagen, wenn man auf solche wichtige Augenblicke im Leben eines Staates stößt. Es hat aber zu allen Zeiten Männer gegeben, die, mochte ihr eigener Genius, mochte das Studium der Geschichte sie leiten, solche Momente geahnet, berechnet haben, und sie wirkten dann am überraschendsten, wenn sie sich nicht begnügten, solche Krisen vorhergesehen zu haben, sondern wenn sie Mut genug besaßen, zu rechter Zeit selbst einzuschreiten, Kraft genug, um eine Rolle durchzuführen. Die Geschichte hat längst über die kurze Regierung der Minister Karl Alexanders entschieden. Sie flucht keinem Sterblichen, sonst müßte sie die Thränen und Seufzer Württembergs in schwere Worte gegen die Urheber seines Unglücks im Jahre 1737 verwandeln; aber sie gedenkt mit Liebe einiger Männer, die sich nicht von dem Strome der allgemeinen Verderbnis hinreißen ließen, die ahneten, es müsse anders kommen, die vor dem Gedanken nicht zitterten, eine Änderung der Dinge herbeizuführen, und die auch dann mit Ruhe und Gelassenheit die Sache ihres Landes führten, als ein Höherer es übernommen hatte, einen unerwartet schnellen Wechsel der Dinge herbeizuführen, indem er zwei feurige Augen schloß und ein tapferes Herz stille stehen hieß.

Wer sollte es diesem heiteren Stuttgart und seinen friedlichen Straßen ansehen, daß es einst der Schauplatz so drückender Besorgnisse [436] war? Wie beruhigt über den Gang der Dinge sind die Enkel derer, die in jenem verhängnisvollen März jede Stunde für das Schicksal ihrer Familien, für die alten Rechte ihres Landes, selbst für ihren Glauben zittern mußten.

Wer den übermütigen Süß in seiner Karosse, mit sechs Pferden bespannt, durch die „reiche Vorstadt“ fahren sah, wie er stolz lächelnd auf die bleichen, feindlichen Gesichter herabblickte, die ihm überall begegneten; wer den schrecklichen Hallwachs, seinen innigen Freund und Ratgeber, neben ihm sah und bedachte, wie viele verderbliche Pläne dieser Mann ersonnen, wie viele unerhörte Monopole er eingeführt habe, und wie er immer neue zu erfinden trachte; wer das unbegrenzte Vertrauen kannte, das der Herzog in diese Menschen setzte, der mußte wohl an der Möglichkeit der Rettung verzweifeln.

Dazu kamen noch die sonderbaren und widersprechenden Gerüchte, die im Umlauf waren. Die einen sagten, der Herzog sei nach Philippsburg und Kehl gereist, habe aber das Regiment nicht an den Geheimrat, sondern das Siegel dem Juden Süß gegeben; andere widersprachen und behaupteten, man habe den Herzog an einem Fenster des Ludwigsburger Schlosses gesehen, auch seien seine Pferde noch dort, und er sei nicht abgereist. In einem Dorf an der österreichischen Grenze im Oberland sollen die Katholiken plötzlich über die protestantischen Einwohner hergefallen sein, und als letztere den Kampfplatz behaupteten, sei eine Kompanie Kreistruppen über die Grenze herein ins Dorf gerückt. Am sonderbarsten klang das Gerücht, das sich überdies noch bestätigte, der Oberfinanzrat Hallwachs habe ein kostbares Meßgewand beim Hofsticker bestellt und ihm befohlen, es bis zum 18. März fertig zu machen, und wenn er mit fünfzig Gesellen arbeiten müßte; bring’ er es nicht fertig, so werde er eingesetzt. Ein lutherischer Geistlicher, den man mit Namen nannte, soll den Kindern in der Schule Kreuzchen, aus Holz geschnitzt, geschenkt haben, mit den Worten: „Nur wenn ihr diese in Händen haltet, könnet ihr recht beten.“ Endlich erzählte man sich als etwas Verbürgtes, der Jude habe zum Herzog über der Tafel gesagt: „Ihre Stände, Durchlaucht, sind eigentliche Widerstände; aber [437] sie stehen schon so lange, daß sie müde und matt sind.“ Karl Alexander habe ihm lächelnd zur Antwort gegeben: „C’est vrai; allons donc leur donner des chaises, et une fois assis, ils ne se leveront plus.“ Auch jene Männer, die entschlossen waren, dem drohenden Verderben zuvorzukommen, hörten diese Gerüchte. Aber sie waren dabei kalt und ruhig; wußten sie ja doch, Württemberg stehe eine solche Veränderung bevor, daß es entweder erleichtert oder so tief ins Unglück gestürzt werden würde, daß der Jammer des einzelnen davor verstummen müßte. Man erzählt sich, sie haben alles, was dazu gehört, einem mächtigen und bösartigen Feind mit Hülfe des Landvolks zu begegnen, vorbereitet gehabt, und wenn ihr Unternehmen gelingen sollte, so verdankten sie es nur den wenigen hellstrahlenden Namen einiger Männer aus der Landschaft; denn an diese war man in Württemberg gewöhnt, das Interesse des Landes zu ketten.

Es war spät abends den 11. März, als der Landschaftskonsulent Lanbek mit seinem Sohne und dem Kapitän Reelzingen in seiner Wohnstube beim Wein saß. Die beiden Lanbek waren ernst und düster, der Kapitän aber konnte auch jetzt seinen fröhlichen Lebensmut nicht verbergen, denn er teilte seine Aufmerksamkeit und sein Gespräch zwischen der Fensternische, wo die beiden Schwestern Gustavs saßen, und zwischen den beiden Männern an seiner Seite. Hedwig sah bleich und still vor sich hin auf ihre Nadeln, aber auf Käthchens Gesichtchen lag eine höhere Röte als gewöhnlich, und alle Augenblicke zeigte sie die weißen Zähne und die schönen Grübchen in ihren Wangen, denn der Kapitän wußte wieder wunderschöne „Späße und Geschichten“.

„Wie ist Euer Pferd, Kapitän?“ fragte der alte Lanbek.

„Mein Fuchs ist ein besserer Infanterist als ich selbst“, erwiderte er; „wenn ich die sechs ersten Stunden Trab und bergauf Schritt reite, so kann ich die nächsten sechs bequem Galopp reiten. Er hat nur einen Fehler, den, daß er noch nicht bezahlt ist, und macht mir durch diese Untugend oft großen Jammer.“

„Ihr könnt“, fuhr der Alte fort, „wenn Ihr von der Galgensteige an scharf Trab reitet, zwischen eilf und zwölf Ludwigsburg passieren; um vier Uhr müßt Ihr in Heilbronn sein, und dort [438] laßt ihr die Pferde ruhen; zwischen acht und zehn Uhr seid ihr morgen in Öhringen.“

„Aber Vater“, fiel Gustav ein, „wäre es nicht ratsamer, gegen Heidelberg zu reiten? Ich wollte darauf wetten, wir sind gegen Öhringen hin nicht mehr sicher. Bedenken Sie, daß der Deutschorden dort tief herein sich erstreckt, daß sie in Mergentheim gewiß von dem Bischof in Würzburg unterrichtet sind, daß –“

„Daß“, fuhr der Vater fort, „ihr auf der Straße nach Heidelberg viel mehr auffallet, und daß ihr, wenn ihr etwa die Gegend nicht mehr rein fändet, eine letzte Zuflucht bei meinem alten Herrn und Gönner, dem Herzog in Neustadt, habt, der euch gewiß in den ersten Tagen nicht herausgibt. Ist dann Karl Alexander zufrieden mit dem, was wir hier gethan, so könnet ihr immer zurückkehren, wo nicht, so gehet ihr, wie schon gesagt, weiter nach Frankfurt.“

„Gott! daß ich euch in einer solchen Krisis zurücklassen soll!“ rief Gustav mit Thränen; „daß ich vielleicht an eurem Unglück schuld bin; daß alles schlecht gehen kann, wenn Süß meine Flucht erfährt und sich an Ihnen, Vater, rächt! Nein, ich kann, ich darf nicht gehen!“

„Nein, Vater“, fiel Hedwig ein, indem sie noch bleicher als zuvor herbeieilte und ihres Vaters Hand ergriff, „er darf uns nicht verlassen; o, ihr habt schreckliche Dinge vor, ich weiß es wohl, ihr wollt eine Verschwörung gegen die mächtigen Menschen machen. Lassen Sie ab davon, Vater, Süß und die andern werden Ihnen verzeihen; ach, mich tötet die Angst!“

„Geh’, Mädchen“, sprach Käthchen, die auch herangetreten war; „was Männer thun und was unser Vater thut, geht uns nicht an. Aber warum soll denn gerade jetzt Gustav so schnell hinweg? Er könnte uns allen so nützlich sein.“

„Weil ich keine Jüdin zur Tochter mag“, sagte der Alte streng, „darum soll er fort. Weil ich ein Briefchen seiner Scharmanten aufgefangen und mit Protest an den Juden geschickt habe, und weil dieser jetzt wütet und euren Bruder mit Gewalt zum Schwager haben oder auf Neuffen setzen will, darum soll und muß er ihm jetzt aus dem Wege gehen. Doch, ich wollte dir in [439] dieser Stunde nicht wehe thun, Gustav; wir scheiden als Freunde, und alles andere soll vergessen sein; wer weiß, wann und wo wir uns wiedersehen!“

Indem der Alte die letzten Worte sprach und seinem Sohn die Hand reichte, wurde schnell und heftig an der Thüre gepocht, und ehe noch jemand antwortete, trat plötzlich eine Gestalt, in einen Mantel gehüllt, ein. „Was soll dies?“ fuhr der alte Lanbek auf. „Wer drängt sich so bei Nacht in mein Haus, wer sind Sie?“

„Blankenberg!“ rief Hedwig, als jener den Mantel abwarf, und trat schnell und errötend einige Schritte vor.

„Verzeihung, Herr Konsulent“, sprach der junge Mann eilend, „die Not muß mich entschuldigen. Gustav, du mußt im Augenblick fort; der Lieutenant Pinassa schrieb mir soeben, daß er dich auf Befehl des General Römchingen heute nacht zwischen eilf und zwölf Uhr aufheben müsse. Der ehrliche Junge möchte dich nicht gern im Nest treffen.“

„Dank, Dank!“, erwiderte der Alte, indem er Blankenberg die Hand drückte. „Trinket aus, Kinder, und macht den Abschied schnell; hier, mein lieber Reelzingen“, fuhr er fort und drückte dem überraschten Kapitän einen großen Beutel in die Hand; „man kann nicht wissen, ob sich euer Weg nicht teilt. Sie sind so edelmütig, meinen Sohn zu begleiten.“

„Und mit Geld wollen Sie dies lohnen?“ unterbrach ihn der Kapitän unmutig. „Parole d’honneur, Herr! Ich begleite meinen Bruder, weil wir alte Amizisten sind, und nicht wegen Ihrer Spießen. Da soll mich doch –“

„Reelzingen“, sagte Käthchen mit ihrer süßen Stimme, „Ihr versteht doch gar keinen Scherz; es sind lauter Kupfermünzen, und ich habe dem Vater den Beutel gegeben, Euch in April zu schicken.“

„Ich verstehe“, flüsterte der Kapitän, indem er errötend dem schönen Mädchen die Hand küßte. „Ich will Euch dafür etwas Schönes von Frankfurt mitbringen.“

„Bringet mir“, antwortete sie, indem sie die Thränen nicht mehr zurückhalten konnte, „nur unsern Gustav wohlbehalten [440] zurück, und“, sie setzte durch Thränen lächelnd hinzu, „machet mir keine tollen Streiche, die Euch verraten könnten.“

„Die Pferde sind vor dem Seethor“, sprach der Alte zu Reelzingen und seinem Sohn; „ihr dürft nicht das Thor selbst passieren, denn die erste Runde ist schon vorüber. Begleiten Sie meinen Sohn, Herr von Blankenberg, durch die Gärten, und bringen Sie mir Nachricht, wie sie fortgekommen sind.“

Der junge Lanbek umarmte Vater und Geschwister, die Schwestern folgten ihm und seinen Freunden weinend bis unter die Gartenthüre, und als nachher Hedwig ihre jüngere Schwester bitter tadelte, weil sie erlaubt habe, daß der Kapitän sie auf den Mund küsse, antwortete jene: „Du hast gefehlt, nicht ich, daß du es unterlassen hast; solche Höflichkeit waren wir einem Manne schuldig, der für unsern Bruder so viel thut.“

„Ei“, erwiderte Hedwig errötend, „Blankenberg hat ihn eigentlich doch auch gerettet.“


13.

Die beiden jungen Männer ritten schweigend durch die finstere Nacht hin. Kein Stern war am Himmel, und der Wind heulte um die Berge. „Hu! Siehst du dort?“ flüsterte Reelzingen, als sie an dem eisernen Galgen vorbeiritten, den einst (1597) Herzog Friedrich[21] dem Alchimisten Honauer[22] aus dem Metall errichten ließ, das er in Gold zu verwandeln versprochen hatte. „Schau’, diese ungeheure Menge Raben, es ist, als witterten sie eine neue Beute.“

Sein Freund blickte schweigend hinauf, schlug aber plötzlich wieder die Augen nieder, denn ihm war, als sehe er Leas feine, liebliche Gestalt klagend unter dem Galgen sitzen. „Fest genug ist diese Schandsäule aus Eisen“, fuhr der Kapitän fort, „um alle Schurken im Lande zu tragen; aber wollte man das Gold [441] mit aufhängen, das sie eingesackt haben, würde selbst dieser Galgen wie ein morscher Stab zusammenbrechen! Wie diese Raben schaurige Melodien singen! Doch wie? – Dieu nous garde, Camarade! Gib deinem Roß die Sporen, wahrhaftig, dort sitzt ein Gespenst am Galgen!“

Es war, als ob die Pferde selbst diesen Ort des Schreckens fürchteten, denn auf diesen Ruf jagten sie mit Sturmeseile den Berg hinan und waren nicht mehr ruhig, bis man das Gekreisch der Raben nicht mehr hörte.

Es liegt eine kleine Brücke zwischen Stuttgart und Ludwigsburg, von welcher das Volk viel Schauerliches zu erzählen weiß; so viel ist gewiß, daß schon Unerklärliches dort vorgefallen ist, und daß mancher Mann sein Gebet spricht, wenn er nachts allein über diese Stelle reitet. Die Sage sagt, daß der Sohn des Konsulenten und sein Freund, der muntere Kapitän, glücklich und in kurzer Zeit bis an jene Brücke gekommen seien; dort aber seien ihre Pferde nicht mehr von der Stelle gegangen und haben geschnaubt und gezittert. Die jungen Leute spornten und gebrauchten ihre Peitschen, als eine alte, zitternde Stimme rief: „Gebt einem alten Mann doch ein Almosen!“

„Wer wird bei Nacht und Nebel den Beutel ziehen? Zurück, Alter, von der Brücke weg, unsere Pferde scheuen vor Euch, zurück, sag’ ich, oder Ihr sollt meine Peitsche fühlen!“

„Nicht so rasch, junges Blut! Nicht so rasch!“ sagte der Alte, dessen dunkle Gestalt sie jetzt auf dem Brückengeländer sitzen sahen. „Eile mit Weile! Kommet noch früh genug, gebt einem alten Mann ein Almosen!“

„Jetzt ist meine Geduld zu Ende“, rief der Kapitän und schwang seine Peitsche in der Luft. „Ich zähle drei, wenn du nicht weg bist, hau’ ich zu.“

Der Alte hüstelte und kicherte; Gustav kam es vor, als wachse seine dunkle Gestalt ins Unendliche und – ein langer Arm streckte einen großen Hut heran, und zum drittenmal, aber drohend und mit furchtbarer Stimme, krächzte der Mann von der Brücke: „Einem alten Mann gib ein Almosen! Es wird dir Glück bringen, und reite nicht so schnell, vor zwölf Uhr darfst du nicht dort sein.“

[442] Reelzingen ließ kraftlos und zitternd seinen Arm sinken; er gestand nachher, daß ihn eine kalte Hand angefaßt habe. Gustav aber zog mit pochendem Herzen die Börse und warf ein Silberstück in den großen Hut. „Wieviel Uhr ist’s, Alter?“ fragte er.

„Weiß keine Stund’ als zwölf Uhr“, sprach die Gestalt, die wieder auf dem Geländer zusammenkauerte, mit dumpfer Stimme. „Dank dir, sollst Glück haben; reit’ zu!“ Er sagte es und stürzte rücklings mit einem dumpfen Fall in den Sumpf, über den die Brücke führte. Entsetzt gab Reelzingen seinem Pferde die Sporen, daß es sich hoch aufbäumte und dann in zwei Sprüngen über die Brücke setzte. Gustav aber hielt erschrocken sein Pferd an, stieg ab und blickte über das Geländer der Brücke. Es rührte sich nichts. „Alter!“ rief er hinab, „hast du Schaden genommen? Kann ich dir helfen?“ – Keine Antwort, und alles war still unten wie im Grabe.

Jetzt faßte auch den jungen Lanbek eine unerklärliche Angst; er fühlte, als er aufstieg, wie sein Pferd zitterte; er wagte es nicht, sich noch einmal nach dem grauenvollen Ort umzusehen, als er seinem Freund nachjagte.

„Das ist jetzt das zweite Mal, daß er mir begegnet ist“, flüsterte Reelzingen tief aufatmend, als Lanbek wieder an seiner Seite war.

„Wer?“ fragte dieser betroffen.

„Der Teufel“, antwortete der Kapitän.

Lanbek gab ihm keine Antwort auf die sonderbare Rede, und sie jagten weiter durch die Nacht hin. In Zuffenhausen schlug es Viertel vor zwölf Uhr, als sie durchritten; in den meisten Häusern brannten noch die Kerzen, und da und dort hörte man geistliche Lieder aus den Stuben. Der Nachtwächter stieß eben ins Horn und rief die Stunde; der Kapitän hielt an und fragte ihn, was diese späten Gesänge und Gebete zu bedeuten haben.

„Ach Herr! das ist eine arge Nacht“, antwortete dieser; „es hat ein Mann an vielen Häusern gepocht und befohlen, die Leute sollen die ganze Nacht bis zwölf Uhr beten.“

„Wer ist der Mann?“ fragte Lanbek staunend.

„Alte Leute, Herr, die ihn gesehen haben, versichern, es sei [443] unser alter Pfarrer gewesen; Gott hab’ ihn selig, er ist seit zwanzig Jahren tot; aber es war ja nichts Unchristliches, was er verlangte, drum beten und singen sie in den Lichtkarzstuben[23] und spinnen dazu.“

„Diese Nacht kann mich noch wahnsinnig machen“, rief der Kapitän, indem sie wegritten. „Gustav, ich glaube, heute nacht geht er leibhaftig auf der Erde um; ich denke, es wäre jetzt gerade die beste Zeit, den alten Burschen zu citieren, wenn man etwa schnell Obrist werden oder zweimalhunderttausend spanische Quadrupel[24] haben möchte.“

„Thor!“ antwortete der Freund; „der, den du meinst, hat mit dem Gebet nichts gemein.“

Es war, als ob ihre Pferde nur zum Schein die Beine aufhöben, denn jede Viertelstunde, die sie zurücklegten, schien zu einer neuen anzuwachsen. Noch immer wollte Ludwigsburg nicht erscheinen, und die Nacht war so finster, daß sie auch an der Gegend nicht erkennen konnten, ob sie fehl geritten oder ob sie der Stadt schon nahe seien. Endlich, nachdem sie etwa wieder eine halbe Stunde geritten sein mochten, sahen sie in der Entfernung von etwa tausend Schritten Lichter schimmern, fanden aber auch zugleich ihren Weg durch vier Pferde versperrt, die, an einen Reisewagen gespannt, quer über die Landstraße standen.

„Führ’ deine Pferde hinweg, Fuhrmann!“ rief der Kapitän, „oder meine Peitsche wird sie bald weggetrieben haben; warum versperrst du den Weg?“

„Gemach, ihr Herrn, soll gleich geschehen“, antwortete ein Mann, der von dem Wagen stieg. Aber die Zeit, die er dazu brauchte, die herabgefallenen Zügel aufzunehmen und zu ordnen, dauerte dem raschen Soldaten zu lange, er versuchte über die schlaff liegenden Stränge des vordersten Gespanns wegzusetzen und forderte seinen Freund auf, ein Gleiches zu thun; doch wie es in solchen Fällen blinder Eilen zu geschehen pflegt, in demselben Augenblick zog der Mann am Wagen die Zügel an, und das [444] Pferd des Kapitäns blieb mit einem Fuß in den straff aufgerichteten Strängen hängen.

Lanbek sprang ab, um dem Freund zu helfen, der Kutscher lief bedauernd herzu, und eben war der Fuß des unbezahlten Rosses frei, als man einige Reiter in aller Eile von der Stadt herbeijagen hörte. Der erste mochte einen Vorsprung von fünfhundert Schritten, aber kein gutes Pferd haben, denn der Kapitän unterschied deutlich, daß es kurzen Paradegalopp ging; die Tritte der nachfolgenden Pferde schlugen zwar minder kräftig auf, waren aber flüchtiger. „Platz – allons! – Platz!“ rief der erste Reiter; aber in demselben Augenblick hörten auch die beiden jungen Männer eine bekannte Stimme, die mit dem wildesten Ausdruck rief: „Halt, Jude! oder ich schieß’ dich mitten durch den Leib.“

Unter dem Volke in Württemberg hört man zuweilen noch einen Reim, der diesen merkwürdigen Moment bezeichnet; er heißt:

„Da sprach der Herr von Röder:
Halt, oder stirb entweder!“

Und der alte Obrist war es auch, der in diesem Augenblick, seinen Begleitern weit voran, eine Pistole in der Hand, aufsprengte, den ersten Reiter wütend am Arm packte und schrie: „Wo hinaus, Jude? Warum so schnell zu Roß, als ich dir nachrief zu warten?“

„Mäßigt Euch, Herr Obrist“, erwiderte der Erste mit stolzem Ton, in welchem aber doch einige Angst durchzitterte; „ich gehe nach Stuttgart, der Frau Herzogin Durchlaucht zu sagen, was in diesem Augenblick für Maßregeln –“

„Das ist auch mein Weg, Herr!“ erwiderte der Obrist mit furchtbarer Stimme; „und keinen Augenblick geht Ihr von meiner Seite, sonst werde ich mit meiner Pistole Beschlag auf Euch legen. Platz da, wer steht hier im Weg?“

„Der Kapitän von Reelzingen von der ersten Kompanie und der Expeditionsrat Lanbek.“

„Guten Abend, meine Herrn!“ fuhr Röder fort. „Habt Ihr geladene Pistolen, Kapitän?“

„Ja, mein Herr Obrist“, war die Antwort des Soldaten, indem er sie aus den Halftern losmachte.

[445] „Ich kommandiere Euch, in welchem Auftrag Ihr jetzt auch sein möget, auf der linken Seite des Herrn Ministers Süß zu reiten. Bei Eurem Dienst und Eurer Ehre als Edelmann, sobald er Miene macht, zu entfliehen, jagt ihm eine Kugel nach. Die Verantwortung nehme ich auf mich.“

„Herr Expeditionsrat“, rief Süß, „ich nehme Euch zum Zeugen, daß mir hier schändliche Gewalt geschieht. Obrist Röder, ich warne Sie noch einmal; dieser Auftritt soll gerochen werden!“

„Aber Herr von Röder“, flüsterte Gustav; „ums Himmelswillen, übereilen Sie nichts, bedenken Sie, was daraus entstehen kann. Bedenken Sie“, setzte er lauter hinzu, „den furchtbaren Zorn des Herzogs.“

„Der Herzog ist tot“, sagte Röder laut genug, daß es alle hören konnten.

„Karl Alexander tot?“ rief der Kapitän, auf den alle Begebenheiten dieser Nacht mit einemmal in schrecklichen Erinnerungen hereinstürzten.

„Hat man sichere Nachricht? Gott! welch ein Fall!“ sagte Gustav besorgt. „War er in Kehl?“

„Er ist in Ludwigsburg vor einer Viertelstunde schnell und plötzlich gestorben. Drum ist es unsre Pflicht, diesen Herrn da, der sich mit der Regierung sehr stark beschäftigte, schnell an das verwaiste Staatsruder zu bringen.“

„Wie, in Ludwigsburg sagt Ihr“, rief Lanbek, „und schnell gestorben? O, ewige Vorsicht!“

„In diesem Ludwigsburg hier“, sagte Röder wehmütig, „und im Bette am Schlag gestorben. Friede mit seiner Asche! Er war ein tapferer Herr. Aber jetzt weiter, ihr Freunde, daß die Nachricht nicht vor uns nach Stuttgart kömmt!“

„Meine Herrn“, rief Süß mit einer Stimme, die Zorn und Angst beinahe erstickte, „noch bin ich Minister und erinnere Sie an das Edikt des Herzogs, das mich von aller Verantwortung freispricht; ich sage Ihnen, es kann Ihnen allen schlimm gehen, wenn Sie sich mit Herrn von Röder verbinden. Im Namen des Herzogs und seines Erben befehle ich Ihnen, von mir abzulassen.“

[446] „Jetzt hat dein Reich ein Ende, Jude“, rief der Kapitän, lachte wild, riß ihm den Zaum aus der Hand und schlug sein Pferd mit der langen Peitsche auf den Rücken; der Obrist ritt an der rechten Seite, seine Pistole in der Hand; der Zug setzte sich in Galopp, und Gustav folgte halb träumend durch das singende Dorf, an dem alten Mann, der heiser lachend wieder auf der Brücke saß, und an dem Galgen vorüber, wo die Raben krächzten und mit den Flügeln schlugen. Erst hier, als er einen scheuen Blick nach der Richtstätte warf, fiel ihm mit ängstlicher Ahnung Lea und ihr unglückliches Schicksal bei.


14.

Als die Stuttgarter am Morgen nach dieser verhängnisvollen Nacht erwachten, wurden sie von zwei beinahe ganz unglaublichen Nachrichten überrascht. Der Herzog sei, statt außer Landes verreist zu sein, in dieser Nacht zu Ludwigsburg schnell gestorben. Er war ein gesunder, kräftiger Mann gewesen, dem mancher, der ihn gesehen, wohl noch zwanzig – dreißig Jahre gegeben hätte. Die Klagen um seinen Tod verstummten beinahe vor der Freude über eine andere Nachricht; der Jude Süß sei mit mehreren der höchsten Hofherren im Ludwigsburger Schloß gewesen, als der Herzog so plötzlich starb; er habe sich alsobald, nachdem er die Leiche gesehen, aufs Pferd geschwungen und sei halb wahnsinnig Stuttgart zugeritten; Herr von Röder aber, ein Mann, mit dem sich nicht spaßen lasse, habe ihn eingeholt und bewacht nach Stuttgart geführt. Man lachte über die sonderbare Täuschung des Juden: Als er nämlich von der Frau Herzogin, welcher er noch in der Nacht aufgewartet hatte, um zu kondolieren, heraustrat und eine Eskorte nach Haus verlangte, weil er wichtige Akten holen müsse, schloß sich ein Lieutenant mit sechs Mann an ihn an. Am Ende des Korridors machte ihm ein Hauptmann das Kompliment und folgte mit zwölf Mann; jener meinte zwar lächelnd, „es sei zu viel Ehre“, als er aber an Lanbeks Haus um die Ecke bog und vier Schildwachen vor seinem Palais bemerkte, als er oben an der Treppe Bajonette blitzen sah und Lea bleich, [447] verstört und weinend ihm entgegen stürzte, da merkte er, welche Stunde geschlagen habe, und rief: „Ciel, je suis perdu!“

Obgleich das Testament des verstorbenen Herzogs im Fall seines Todes eine Administration bestellt hatte, welche seinen Ministern angenehmer gewesen wäre, so übernahm doch Herzog Rudolf von Neustadt[25] trotz seines hohen Alters als der nächste Agnat die Administration, und das Land fühlte sich erleichtert und zufrieden dabei. Er ließ, außer anerkannt schlechten Menschen, jeden in der Würde, in der er unter der vorigen Regierung stand, und es war dies wirklich eine Art von Gnadenakt, wenn man bedenkt, daß früher zwei Drittteile aller Ämter im Lande gekauft worden waren. Nur einer war nicht zufrieden mit dem Amt, das ihm der Herzog Administrator mit den huldreichsten Ausdrücken bestätigt hatte; es war der junge Lanbek. Er wurde nicht nur als Expeditionsrat aufs neue ernannt, sondern, als der alte Röder, im Feuer der Freundschaft für den Landschaftskonsulenten, dessen Sohn als einen klugen Kopf und trefflichen Juristen schilderte, wählte ihn der Herzog sogar in die Kommission, die den Prozeß gegen den Juden Süß zu führen hatte. Der alte Lanbek fühlte sich dadurch nicht wenig geehrt und nannte seinen Sohn mehrere Male den Stolz und die Stütze seines Alters; aber Gustav machte diese Wahl unausprechlich unglücklich. Nicht als ob er nicht, wie jeder andere Bürger, den Mann verdammt hätte, der das Land in so tiefes Elend gestürzt; nicht als ob es gegen sein Gewissen gewesen wäre, Verbrechen ans Licht zu ziehen, die man so künstlich verborgen hatte; aber Lea – es war ja ihr Bruder, den er richten sollte, und dieser Gedanke war es, der ihm dieses Geschäft zum Abscheu machte. Kleine Seelen sättigen sich gerne an Rache, und manchem wäre es eine innige Freude gewesen, einen Mann, der noch vor kurzem so hoch stand, jetzt in der tiefsten Kasematte der Festung zu besuchen, mit herrischer Stimme ihn von seinem Lager aufzujagen und ihn zu martern und zu peinigen. Dieser Mann hatte sich noch überdies [448] gegen Gustav persönlich verfehlt, er hatte ihn mit dem empörendsten Übermut behandelt, ihm sogar mit demselben Gefängnis gedroht, in welchem er jetzt selbst, bange um künftige Freiheit, vielleicht selbst um sein Leben, schmachtete. Aber das Herz des jungen Mannes war zu groß, als daß es hätte freudig pochen sollen, als er zum erstenmal als Richter in den Kerker des Mannes trat, der jetzt, entblößt von aller irdischen Herrlichkeit, angethan mit zerlumpten Kleidern, bleich, verwildert, sich langsam aus seinen rasselnden Ketten aufrichtete. Erinnerte ihn doch jetzt noch dieses Gesicht an die Züge eines unglücklichen, geliebten Wesens, und er konnte sich kaum der Thränen enthalten, als nach dem Schlusse des Verhörs der Gefangene sprach: „Herr Lanbek, es gibt ein unglückliches, unschuldiges Mädchen, das wir beide kennen; als man in meinem Hause versiegelte, haben sie die rohen Menschen auf die Straße gestoßen – sie war ja eine Jüdin und verdiente also kein Mitleid. – Mir, Herr, ist kein Pfenning geblieben, womit ich ihr Leben fristen könnte; ich weiß nicht, wo sie ist – wenn Sie etwas von ihr hören sollten – sie hat nichts als das Kleid, das sie trug, als man sie von der Schwelle stieß – geben Sie ihr aus Barmherzigkeit ein Almosen.“

Der junge Mann ließ seinen Thränen freien Lauf, als er allein den Berg von Hohen-Neuffen herabstieg; er erfuhr zwar nachher, daß ihn der Jude belogen habe, daß er, obgleich man über 500,000 Gulden in Gold und Juwelen in seinem Hause fand, doch beinahe 100,000 in Frankfurt in sichern Händen habe, und Gustav konnte leicht einsehen, daß ihn Süß durch diese Vorstellungen von Elend nur habe weich stimmen wollen; aber dennoch konnte er den Gedanken nicht entfernen, daß Lea verlassen und unglücklich sei, und dieser Gedanke wurde immer peinlicher, als er trotz seiner Nachforschungen keine Spur von ihr entdecken konnte.

Der Frühling, Sommer und Herbst waren vorübergegangen, und noch immer dauerte der Prozeß. Es waren Dinge zur Sprache gekommen, wovor selbst den kältesten Richtern graute; aber obgleich der junge Lanbek der Kommission mit edlem Unwillen vorstellte, daß noch vier andere Männer nicht minder schuldig seien als Süß, so schien man doch nur gegen diesen ernstlich verfahren [449] zu wollen, weil ihn der allgemeine Haß als den schuldigsten bezeichnete.

Es war an einem trüben Oktoberabend; der alte Konsulent war seit einigen Tagen verreist, und sein Sohn arbeitete im Bibliothekzimmer an einem neuen Verhör, als seine jüngere Schwester, jetzt die glückliche Braut des Kapitän Reelzingen, ernster als gewöhnlich zu ihm eintrat. Sie sprach anfangs Gleichgültiges, schien aber nur mit Mühe eine Thräne unterdrücken zu können, die endlich wirklich in dem sanften Auge glänzte, als sie sagte, ob er ihr nicht zürnen werde, wenn sie eine bekannte Person zu ihm führe? Er sah sie staunend und verwundert an, doch noch ehe er eine Antwort zu geben vermochte, eilte Käthchen weinend aus dem Zimmer und trat bald darauf mit einem verschleierten Mädchen wieder ein. Noch ehe die trübe Kerze ihre Umrisse deutlich zeigte, noch ehe sie den Schleier zurückschlug, sagte ihm sein ahnendes Herz, wen er vor sich habe; errötend sprang er auf, aber schon hatte die Unglückliche sich vor ihm niedergeworfen, den Schleier zurückgeschlagen, und Lea war es, welche die einst so geliebten Augen düster und bittend zu ihm aufschlug und die bleichen, magern Hände ineinander gerungen flehend nach ihm hinstreckte: „Barmherzigkeit!“ rief sie, „nur nicht sterben lassen Sie ihn; man sagt, er müsse sterben; seine einzige Hoffnung ruht noch auf Ihnen. Wo soll ich Worte nehmen, Ihr großmütiges Herz zu erweichen? Welche Sprache soll ich erdenken, an ein Ohr zu sprechen, das mich einst so wohl verstand?“ – Thränen ließen sie nicht weiter reden, und auch Käthchen weinte bitterlich. Voll von Schmerz und Überraschung faßte Gustav ihre kalten Hände und richtete sie auf; er sah sie an – wie schmerzlich war ihm ihr Anblick! Ihre Wangen waren bleich und eingefallen, die schönen Augen lagen tief, und der Mund, der sonst nur zum Lächeln geschaffen schien, zeigte, daß er jenes süße Lächeln längst nicht mehr kenne. Das schwarze Haar, das um die weiße Stirne hing, und das bleiche Gesicht vollendeten das Gespenstige ihres Anblicks.

„Lea! Unglückliche Lea!“ rief der junge Mann. „Wie lange haben Sie sich verborgen gehalten und Ihren Freunden den letzten [450] Trost geraubt, zu wissen, ob es Ihnen an nichts gebricht, ob die Freunde etwas für Sie thun können?“

„Ach! das ist es nicht, um was ich Ihre edelmütige Schwester gebeten habe, mich hieher zu führen“, sagte sie schmerzlich lächelnd. „Warum soll es mir denn nicht gut gehen? Ich habe alle meine Hoffnungen und Träume längst begraben, ich pflanzte die Erinnerungen als Blumen auf das Grab und begieße diese Blumen mit meinen Thränen. Nein! Sie waren immer so großmütig gegen Unglückliche, geben Sie mir nur den Trost, daß mein Bruder nicht sterben muß; ach! es ist so bitter, zu sterben, und was nützt sein Tod diesem Lande?“

„Lea“, antwortete der junge Mann verlegen, „gewiß, es ist bis jetzt noch nicht davon die Rede gewesen, und ich glaube auch nicht – Sie dürfen sich trösten – es wird nicht so weit kommen.“

„Es wird, und in Ihrer Hand liegt sein Schicksal“, flüsterte sie; „er hat es mir gesagt, ich habe ihn gesprochen; ‚wenn nur der Brief nicht wäre, der Brief kann mich verderben’. O Gustav! halten Sie ihn jahrelang, auf immer im Gefängnis, was liegt an ihm, wenn er in Ketten sitzt? Nur nicht sterben; Gustav, sei’n Sie edelmütig – vergessen Sie den Brief, um den niemand weiß als Sie – mit jener schwachen Kerze dort können Sie das Leben eines Menschen retten.“

„Bruder“, sagte Katharina näher tretend, indem sie seine Hand faßte, „thu’ es, dein Gewissen kann nicht gefährdet werden, denn er ist ja auf immer unschädlich gemacht; verbrenne den Brief, er kann sich ja verloren haben.“

Der junge Mann sah die weinenden Mädchen an; ein unabweisbares Gefühl kämpfte in ihm, er schwankte einen Augenblick, und Lea, die diesen Kampf in seinen Mienen las, faßte seine Hand, drückte sie stürmisch an ihr Herz, zog sie zärtlich an ihre Lippen. „Er will!“ rief sie entzückt; „o, ich wußte es wohl, er ist edel; er will sich nicht wie die andern an dem Unglücklichen rächen, der ihn einst beleidigt hat, er läßt ihn nicht sterben, belastet mit Sünden, er läßt ihn leben und fromm und weise werden. Wie gütig bist du, o Gott, daß du noch deiner Engel einen gesendet [451] hast auf diese öde Erde, der mit der offenen Hand der Barmherzigkeit segnet und nicht mit dem flammenden Schwert der Rache den Verbrecher zerschmettert!“

„Nein – nein – es ist nicht möglich!“ sprach Lanbek mit tiefem Schmerz. „Sieh’, Lea, mein Leben möchte ich hingeben, um deine Ruhe zu erkaufen, aber meine Ehre! Gott! meinen guten Namen! Es ist nicht möglich! Sie wissen um den Brief, einige haben ihn gelesen, und – morgen soll ich ihn vortragen. Käthchen, sprich, ich beschwöre dich, kann, darf ich es thun?“

Käthchen weinte, und eine leise Bewegung ihres Hauptes schien anzudeuten, daß es auch ihr unmöglich scheine. Lea aber hatte ihm mit starren Blicken zugehört; über die bleichen Wangen ergoß sich die Röte der Angst, sie beugte sich vor, als könne sie die schreckliche Verneinung nicht recht vernehmen; sie sah, als sich Gustav auf seine Schwester berief, mit einem Blick voll schmerzlicher Zuversicht nah dieser hin, sie streckte die Hand krampfhaft aus, wie ein Ertrinkender, der nach dem schwachen Zweig am Ufer die Hand ausstreckt – vergebens.

„So muß er sterben“, sagte sie nach einer Weile leise, „und du – du brichst ihm den Stab? Das war es also, warum ich lebte und – liebte? Es ist ein sonderbares Rätsel, das Leben! Hätte ich dies gedacht, als ich noch ein fröhliches Kind war? Hätte ich gedacht, daß wir so untergehen müßten?“

„Armes, unglückliches Mädchen!“ sprach Käthchen und schloß sie in ihre Arme. „Ach, gewiß, er kann nicht anders handeln, ich sehe es selbst ein; und wenn es dich trösten kann, komm’ zu mir, so oft du willst, du sollst gewiß treue Teilnahme finden –“

„Lea“, unterbrach sie ihr Bruder, „wenn wir etwas für Sie thun können; Sie sind an Wohlstand gewöhnt – dieses Kleid hier sagt mir, daß Sie in Not sind.“

„Komm’, Lea“, fuhr Käthchen fort, „wir sind beinahe von derselben Größe, nimm von meinen Tüchern, von meinen Kleidern, du machst mir Freude, wenn du es thun willst.“

„Das Vermögen Ihres Bruders, das er außer Landes besitzt“, sagte Gustav, „soll und muß für Sie gerettet werden, Sie haben die nächsten Ansprüche, und ich will gewiß das meinige thun.“

[452] „Guter Gustav“, unterbrach sie ihn, indem sie sich zu einem Lächeln zwang; „lassen wir das; die Leute sagen, daß er sein Vermögen den Armen dieses Landes entzogen habe. Da hatte er unrecht, und es wäre besser, er hätte dieses Land nie gesehen; aber ebenso unrecht wäre es von mir, von diesem Golde Gebrauch zu machen, das ihm den Tod bringen wird. Aber von dir, liebes, schönes Mädchen, nehme ich ein Tuch an, weil es jetzt so kalt wird. Ich höre, du bist Braut; sei doch recht glücklich! Möchten dies die letzten Thränen sein, die jetzt in deinen Wimpern hängen, und wenn du weinen mußt, so sei es nur fremdes Unglück, um das dein schönes Herz trauert.“

„Lea“, sagte der junge Mann mit tiefem Schmerz, „ich kann dich nicht so hinweglassen; es ist die trügerische Ruhe der Verzweiflung, die aus dir spricht. Besuche doch meine Schwester; sage, wo du wohnst. – Ach, wenn du Mangel littest! – Scheide nicht im Groll von mir, Lea! Gott weiß, daß ich nicht anders konnte!“

„Und auch ich weiß es, Gustav, und war ein thörichtes Mädchen, dich auf die gefährliche Probe zu stellen; unser Unglück ist so groß, daß eine kleine Hülfe mit deiner Ehre, mit deiner Ruhe zu teuer erkauft wäre. Lebet wohl! Ich brauche wenig, vielleicht bald gar nichts mehr, und sollte ich etwas nötig haben, so bin ich nicht zu stolz, zu dieser Freundin zu kommen, der einzigen, die mir das Unglück erworben hat.“

„Und vergibst du?“ sagte Gustav mit Thränen.

„Ich habe nichts zu vergeben“, erwiderte sie, indem sie ihm mit mehr Fassung, als die beiden Geschwister erhalten hatten, die Hand bot. „Lebe wohl, Freund! Ich gehe, meine Blumen zu begießen. Möge der Gott meiner Väter dich so glücklich machen, als es dein reiches Herz verdient!“ Sie sagte es, warf noch einen Blick voll Liebe auf ihn und ging, von Käthchen begleitet.

Der junge Mann blickte ihr wehmütig nach; es war ihm, als hätte diese Stunde einen mächtigen Einfluß auf sein Leben, aber er ahnete auch, daß er das unglückliche Mädchen zum letztenmal gesehen habe.

[453]

15.

Es würde unsere Leser ermüden, wollten wir sie von dem Prozeß des Juden Süß noch länger unterhalten. Es ging damals wie ein Lauffeuer durch alle Länder und wird da und dort noch heute erwähnt, daß am 4. Februar 1738 die Württemberger ihren Finanzminister wegen allzu gewagter Finanzoperationen aufgehenkt haben. Sie hingen ihn an einen ungeheuren Galgen von Eisen in einem eisernen Käficht auf. Im Dekret des Herzogs Administrator heißt es: „Ihme zu wohlverdienter Straff, jedermänniglich aber zum abscheulichen Exempel.“ Beides, die Art, wie dieser unglückliche Mann mit Württemberg verfahren konnte, und seine Strafe, sind gleich auffallend und unbegreiflich zu einer Zeit, wo man schon längst die Anfänge der Zivilisation und Aufklärung hinter sich gelassen, wo die Blüte der französischen Litteratur mit unwiderstehlicher Gewalt den gebildeteren Teil Europas aufwärts riß.

Man wäre versucht, das damalige Württemberg der schmählichsten Barbarei anzuklagen, wenn nicht ein Umstand einträte, den Männer, die zu jener Zeit gelebt haben, oft wiederholen, und der, wenn er auch nicht die That entschuldigt, doch ihre Notwendigkeit darzuthun scheint. „Er mußte“, sagen sie, „nicht sowohl für seine eigenen schweren Verbrechen als für die Schandthaten und Pläne mächtiger Männer am Galgen sterben.“ Verwandtschaften, Ansehen, heimliche Versprechungen retteten die andern, den Juden – konnte und mochte niemand retten, und so schrieb man, wie sich der alte Landschaftskonsulent Lanbek ausdrückte, „was die übrigen verzehrt hatten, auf seine Zeche“. Es sind seitdem neunzig Jahre verflossen, und wir wissen nicht, ob damals der schmähliche Tod dieses Mannes die Gemüter über alles Frühere beruhigte und befriedigte. Ein Edikt des Administrators wenigstens scheint es nicht ganz zu beweisen, denn er sah sich genötigt, zu verordnen: „daß die Unterthanen alle widrigen Nachreden und ungleichen Urteile über den hochseligen Herrn bei Strafe und Ahndung vermeiden und denselben im schuldigst-respektueusesten Andenken halten sollten“.

[454] Der alte Lanbek that das letztere auch ohne dies Edikt, denn so oft der Name Karl Alexanders genannt wurde, lüftete er mit besorgter Miene sein Mützchen und sagte: „Gott habe ihn selig!“ Er folgte auch dem hochseligen Herrn noch unter der Vormundschaft Rudolfs von Neustadt. Man sagt, sein Sohn habe nie wieder gelächelt, und selbst Schwager Reelzingen konnte ihm mit den herrlichsten Späßen keine heitere Miene abgewinnen. Noch Anno 1793 sah man ihn als einen hohen, magern Greis an einem Stock über die Straße schreiten; seine Miene war ernst und düster, aber sein Auge konnte zuweilen weich und teilnehmend sein. Er hat nie geheiratet, und die Sage ging damals, daß er nur einmal und ein unglückliches Mädchen geliebt habe, das ihren Tod im Neckar freiwillig fand. Männer, die ihn gekannt haben, versichern, daß er, gewöhnlich kalt und verschlossen, dennoch sehr interessant in der Unterhaltung gewesen sei, wenn man ihn auf gewisse metaphysische Untersuchungen brachte, mit welchen er sich in seinem hohen Alter hauptsächlich beschäftigte. Er starb, betrauert von vielen, die ihn und sein Schicksal kannten, und beweint von den Armen und Unglücklichen. Mein Großvater pflegte von ihm zu sagen: „Es war einer von jenen Menschen, die, wenn sie einmal recht unglücklich gewesen sind, sich nicht mehr an das Glück gewöhnen mögen.“


  1. Erste Strophe aus dem Prolog zu dem Trauerspiel „Ernst, Herzog von Schwaben“.
  2. Unter der Regierung des Herzogs Karl Alexander (1733–37) erlangte seit 1733 der zum Geheimen Finanzrat erhobene jüdische Geldagent Joseph Süß-Oppenheimer (geb. 1692 zu Heidelberg) großen Einfluß auf seinen Herrn und die Regierungsgeschäfte. Mit rücksichtsloser Gewalt erpreßte er überall Geld im Lande für die üppige Hofhaltung des Herzogs und nicht minder für seinen eignen Beutel. Zur Erreichung seiner Zwecke scheute er keine Mittel; Kirchen- und Staatsämter wurden verschachert, die Münze verschlechtert und dergleichen mehr. Eine von ihm angelegte Verschwörung zur Katholisierung des protestantischen Landes vereitelte der plötzliche Tod des Herzogs (12. März) und seine eigne Gefangennahme (am 14. Mai). Jud Süß wurde auf den Asperg gebracht, zum Tode verurteilt und am 4. Februar 1738 in einem eisernen Käfig an den Galgen gehängt.
  3. Vom latein. solitarius, d. i. ein einzeln gefaßter Brillant.
  4. Großer Kragen an dem unter dem Namen „Domino“ bekannten Maskenanzug.
  5. Renatus Cartesius oder René Descartes (1596–1650), berühmter französischer Philosoph, dessen Lehre in dem Satze gipfelt: „Cogito, ergo sum.“
  6. (franz.) Schimpfwort, d. h. Schindmähre.
  7. Bellona, die römische Kriegsgöttin und Gefährtin des Mars, steht hier im Gegensatz zu Minerva, die mehr als Göttin der geistigen Kraft, der Kunst und Wissenschaft betrachtet wird.
  8. Armida, in Tassos „Befreitem Jerusalem“ eine durch ihre verführerische Schönheit hervorragende und besonders den jungen Kreuzritter Rinaldo durch ihre Liebe bestrickende Zauberin.
  9. Poschen waren steife, runde Taschen, die früher von den Damen statt des Reifrockes um die Hüften gebunden wurden.
  10. Die bekannten württembergischen Staatsgefängnisse.
  11. Schwabenalter nennt der Volksmund das 40. Lebensjahr, in dem die Schwaben anfangen klug zu werden.
  12. Beliebtes Kartenspiel, mit 78 Blättern zu spielen, unter denen sich 22 Tarocks oder Trümpfe befinden.
  13. Vom franz. spadille, welches das Pik-As bedeutet und als der höchste Trumpf gilt.
  14. Karl Alexander, der Vetter und Nachfolger des Herzogs Eberhard Ludwig, war Statthalter in Belgrad gewesen und übernahm 1733 die Regierung Württembergs. Er hatte mit großer Tapferkeit für Österreich gegen die Franzosen gekämpft, war in Wien zur katholischen Kirche übergetreten, begünstigte nun die ultramontanen Bestrebungen in seinem Lande und brachte aus dem wilden Kriegsleben lasterhafte Sitten und genußsüchtige Verschwendung mit. Am 12. März 1737 starb er plötzlich nach einem üppigen Feste.
  15. Franz Eugen von Savoyen (1663–1736), österreichischer Feldmarschall, war als Sieger vieler großer Schlachten gegen die Türken und Franzosen der Schrecken seiner Feinde.
  16. Gemeint ist wohl Erhard Ernst von Röder (1665–1743), der sich vielfach in den Kriegen gegen Frankreich und im spanischen Erbfolgekrieg ausgezeichnet hat und als preußischer Generalfeldmarschall starb.
  17. Das französische Dorf Malplaquet ist besonders bemerkenswert durch den Sieg, den hier im spanischen Erbfolgekrieg Prinz Eugen und Marlborough am 11. September 1709 über die Franzosen unter Villars erfochten.
  18. Bei Peterwardein in Ungarn schlug Prinz Eugen die Türken am 5. August 1716.
  19. a b c Der General von Remchingen, der Expeditionsrat und Waisenhauspfleger Hallwachs sowie der Regierungsrat Metz waren gefügige Genossen des Juden und wurden später gleich diesem auf den Asperg gebracht.
  20. Joh. Brenz (1499–1570), Propst in Stuttgart, trat 1534 in Württemberg als protestantischer Reformator auf und hatte bald das ganze Land durch seine Predigten für die neue Lehre gewonnen.
  21. Herzog Friedrich (1557–1608, seit 1593 Herzog) suchte die Macht der Landstände zu brechen und machte Württemberg wieder zu einem Reichslehen. Er liebte die Künste und beschäftigte sich auch mit Goldmacherei.
  22. Der Alchimist Georg Honauer wurde am 2. April 1597 in einem „Kleide von Goldschaum“ an einen für ihn eigens errichteten eisernen Galgen gehenkt.
  23. Schwäbischer Ausdruck für Spinnstuben.
  24. Quadrupel heißt eine früher in Spanien geprägte Goldmünze von 4 Pistolen (ungefähr 64 Mark).
  25. Da bei Karl Alexanders Tode dessen ältester Sohn, Karl Eugen, erst 9 Jahre alt war, so übernahm vorläufig Herzog Karl Rudolf von Neustadt als nächster Agnat die Vormundschaft und Landesverwaltung.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Ehrenwort
  2. Gaudeamus igitur, bekanntes Studentenlied
  3. hors de combat, außer Gefecht gesetzt, kampfunfähig
  4. Doktor beider Rechte (des Zivil- und Kirchenrechts)
  5. Landschaft ist hier in der älteren Bedeutung gebraucht als politische Institution der Stände. Konsulenten waren als juristische Berater und Anwälte für diese tätig; siehe auch Württembergische Landstände.
  6. Verwaltungsbeamter
  7. O tempora, o mores! (O was für Zeiten, o was für Sitten), Ausspruch Ciceros in seiner ersten Rede gegen Catilina
  8. Mausche, die Herkunft dieses Wortes vom jüdischen Eigennamen Moshe (Moses) ist umstritten; die Verwendung als Schimpfwort für Juden ist seit dem 18. Jahrhundert belegt.
  9. Vorlage: sie
  10. Aktenbündel
  11. avancement (frz.) Aufstieg, Fortkommen, Beförderung
  12. Antwortschreiben auf eine Anfrage an die Kanzlei
  13. Vorlage: anwortete