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Jüdische Altertümer/Buch V

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Jüdische Altertümer
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[251]
Fünftes Buch.

Dieses Buch umfasst einen Zeitraum von 476 Jahren.

Inhalt.

1. Wie Jesus, der Feldherr der Hebräer, die Chananäer bekriegte, sie ausrottete und ihr Land unter die Stämme verloste.

2. Wie nach dem Tode des Feldherrn die Israëliten ihre väterlichen Gesetze übertreten und deshalb in grosses Unglück gerieten, und wie nach einer Empörung der ganze Stamm Benjamin bis auf sechshundert Mann zu Grunde ging.

3. Wie Gott sie nach dieser Drangsal wegen ihrer Missethaten in die Knechtschaft der Assyrier geraten liess.

4. Wie Hothniel, der Sohn des Kenez, der von den Griechen und Phoenikern Richter genannt wird und vierzig Jahre regierte, ihnen die Freiheit wieder errang.

5. Wie unser Volk in die Knechtschaft der Moabiter geriet und durch Ehud, der achtzig Jahre regierte, befreit wurde.

6. Wie sie hierauf zwanzig Jahre lang unter der Botmässigkeit der Chananäer standen und von Barak und Debora befreit wurden, die vierzig Jahre regierten.

7. Wie die Amalekiter die Israëliten bekriegten, sie unterwarfen und ihr Land sieben Jahre lang bedrückten.

8. Wie Gedeon sie von den Amalekitern befreite und vierzig Jahre regierte.

9. Wie viele seiner Nachfolger mit den umwohnenden Völkerschaften langwierige Kriege führten.

10. Von der Stärke Samsons, und wie er die Palaestiner[1] bedrängte.

11. Wie die Söhne des Priesters Eli von den Palaestinern in der Schlacht getötet wurden.

12. Wie ihr Vater, als er dieses Unglück vernahm, vom Sessel stürzte und den Tod fand.

13. Wie die Palaestiner in diesem Kriege die Hebräer besiegten und deren heilige Lade wegführten.

[252]
Erstes Kapitel.
Wie Jesus, der Feldherr der Hebräer, die Chananäer bekriegte, sie ausrottete und ihr Land unter die Stämme verloste.

(1.) 1 Als nun Moyses, wie gesagt, den Menschen entrückt war, und die gebührenden Trauerfeierlichkeiten für ihn stattgefunden hatten, verkündete Jesus dem Volke, es solle sich zum Kriegszug rüsten. 2 Zugleich schickte er Kundschafter in das Gebiet Jerichos, um die Stärke und die Gesinnung seiner Bewohner zu erforschen. 3 Darauf stellte er das Heer in Schlachtordnung auf, um rechtzeitig den Jordan überschreiten zu können, und berief zu sich die Häupter der Stämme Rubel, Gad und Manasses (denn der Hälfte dieses Stammes war das Land Amoraea, der siebente Teil von Chananaea, eingeräumt worden). Er erinnerte sie an das, was sie dem Moyses versprochen, 4 und beschwor sie, dass sie aus Dank gegen diesen, der bis zum Ende seines Lebens für sie gesorgt habe, wie auch um des allgemeinen Bestens willen ihre Versprechungen bereitwillig einlösen möchten. Und da sie ihm Folge leisteten, zog er mit fünfzigtausend Bewaffneten von Abila sechzig Stadien weit an den Jordan.

(2.) 5 Als hier das Lager aufgeschlagen war, kamen auch sogleich die Kundschafter, welche alles bei den Chananäern erforscht hatten. Da sie nämlich anfangs dort nicht erkannt wurden, konnten sie ohne Furcht deren ganze Stadt durchspähen und in Erfahrung bringen, wo die Mauern am stärksten und wo sie schwächer waren, auch welche Thore wohl am ehesten dem Heere einzudringen gestatten würden. 6 Diejenigen aber, die ihnen zufällig begegneten, achteten nicht darauf, dass sie alles so genau betrachteten, in der Meinung, sie wollten nur nach Art der Fremden die Stadt aus Neugier besichtigen; 7 dass sie das in feindlicher Absicht thaten, ahnten sie nicht im mindesten. Gegen Abend kehrten die Kundschafter in eine Herberge [253] nahe bei der Stadtmauer ein, wo sie auch schon vorher ihr Mahl eingenommen hatten. 8 Und als sie nun über ihre Heimkehr zu beraten anfingen, wurde dem König beim Mahle angezeigt, es seien Leute aus dem Lager der Hebräer gekommen, um die Stadt auszuspionieren; sie seien bei der Rachab eingekehrt und suchten sich hier möglichst verborgen zu halten. Darauf schickte der König sogleich Häscher ab, um sie festzunehmen; denn er wollte durch Anwendung der Folter von ihnen erfahren, in welcher Absicht sie gekommen seien. 9 Sobald aber Rachab von der Ankunft der Häscher erfuhr (sie trocknete gerade Flachsbündel auf dem Dache), verbarg sie die Kundschafter unter dem Flachs und sagte den Boten des Königs, es hätten zwar einige unbekannte Gäste bei ihr gespeist, sie hätten sich indes vor Sonnenuntergang entfernt. Wenn man sie aber im Verdacht habe, dass sie der Stadt oder dem Könige Schaden hätten zufügen wollen, so werde man sie wohl ohne Mühe einholen können, wenn man sie verfolge. 10 Die Häscher liessen sich von dem Weibe täuschen und dachten an nichts Arges, sodass sie nicht einmal die Herberge untersuchten, sondern sich auf die Suche nach den Spionen begaben auf den Wegen, die zum Flusse führten, und die jene wahrscheinlich bei ihrer Flucht benutzt hatten. Da sie aber nicht die Spur von ihnen fanden, liessen sie von weiterer Verfolgung ab. 11 Als sich nun der Tumult gelegt hatte, holte Rachab die Versteckten herunter und erklärte ihnen, in wie grosser Gefahr sie sich ihretwegen befunden habe. Wenn sie nämlich wären ertappt worden, so wäre sie der Rache des Königs nicht entgangen, vielmehr mit ihrem ganzen Hause getötet worden. 12 Sie möchten also dessen eingedenk bleiben und ihr für die jetzige Errettung später Dank wissen, wenn sie in den Besitz von Chananaea gelangt seien. Sie versprachen ihr auch, sich dankbar erweisen zu wollen, und schwuren ihr, sie wollten sie und ihre Familie verschonen, wenn sie nach der Eroberung der Stadt alle übrigen Einwohner umbringen würden, wie es [254] ihnen von Gott vorgeschrieben sei. 13 Zugleich rieten sie ihr, sie solle, sobald sie die Einnahme der Stadt bemerke, ihr Hab und Gut und alle ihre Verwandten in ihre Herberge einschliessen und ein purpurrotes Band vor ihre Thür hängen, damit der Feldherr ihr Haus kenne und es verschone. 14 Denn sie würden ihm sagen, das sei das Haus, in welchem sie gerettet worden seien. Sollte aber einer ihrer Angehörigen in der Schlacht fallen, so möge sie es ihnen nicht zur Last legen; denn sie würden Gott, bei dem sie geschworen, bitten, sie vor dem Bruch ihres eidlichen Gelöbnisses zu bewahren. 15 Nachdem sie dieses Versprechen geleistet, zogen sie ab, indem sie sich an einem Seile von der Stadtmauer herunterliessen. Und sie kehrten wohlbehalten zu den Ihrigen zurück, denen sie alles erzählten, was ihnen in der Stadt begegnet war. Darauf machte Jesus den Hohepriester Eleazar und die Ältesten mit dem Eide bekannt, den die Kundschafter der Rachab geschworen hatten, und diese billigten ihn.

(3.) 16 Der Feldherr aber war in grosser Sorge wegen des Überganges über den Fluss, denn er war sehr angeschwollen und hatte keine Brücken, und hätte man eine solche darüber schlagen wollen, so würde der Feind sie wohl daran gehindert haben; Schiffe aber waren auch keine vorhanden. Da aber verhiess ihnen Gott, er werde den Fluss abschwellen lassen, sodass sie ihn überschreiten könnten. 17 Deshalb führte Jesus nach zwei Tagen das Heer und das ganze Volk in folgender Ordnung hinüber. Voran gingen die Priester mit der heiligen Lade, dann folgten die Leviten, welche die Hütte und die zum Opferdienst bestimmten Geräte trugen. Hinter den Leviten zog dann das ganze Volk nach Stämmen, die Weiber und Kinder in der Mitte, damit sie nicht von der Strömung fortgerissen würden. 18 Da nun die Priester zuerst hineinschritten und das Flussbett passierbar fanden, weil das Wasser nicht tief war und der Kies, den der langsamer strömende Fluss nicht mit Gewalt fortriss, ihnen festen Boden gewährte, so setzten [255] auch alle anderen mutig über. Denn sie sahen, dass der Fluss sich so verhielt, wie Gott ihnen vorhergesagt hatte. 19 Die Priester aber blieben in der Mitte des Flusses stehen, bis die ganze Menge hinüber war und sich in Sicherheit befand. Dann erst schritten auch sie ans Gestade und überliessen den Fluss wieder seiner Strömung. Sobald aber alle Hebräer hinüber waren, schwoll der Fluss sogleich wieder an und erlangte seine frühere Höhe.

(4.) 20 Die Hebräer zogen darauf fünfzig Stadien weiter und schlugen das Lager zehn Stadien von Jericho entfernt auf. Jesus aber baute aus den Steinen, die die einzelnen Stammesoberhäupter auf sein Geheiss im Flussbett aufgehoben hatten, einen Altar zum Andenken an das Zurückweichen des Flusses und opferte darauf. 21 Hier feierte man auch das Paschafest, weil man jetzt alles in Überfluss besass, woran man früher Mangel gelitten hatte. Denn da die Saaten der Chananäer reif waren, mähte man dieselben ab, und auch sonst machte man Beute. Das Manna aber, das sie vierzig Jahre lang genossen hatten, ging ihnen damals aus.

(5.) 22 Obgleich nun die Israëliten alles weit und breit verwüsteten, rührten sich die Chananäer nicht, sondern hielten sich hinter ihren Mauern. Jesus beschloss daher, sie zu belagern. Und am ersten Tage des Festes trugen die Priester die rings von bewaffneter Mannschaft umgebene Lade 23 unter dem Schall von sieben Hörnern um die Mauern der Stadt, indem sie das Volk zur Tapferkeit anspornten; die Ältesten aber folgten hintendrein. Alsdann kehrten sie ins Lager zurück, ohne etwas anderes gethan zu haben, als die Hörner zu blasen. 24 Als sie das sechs Tage nacheinander gethan hatten, versammelte Jesus am siebenten Tage das Heer und das ganze Volk und verkündete ihnen die frohe Nachricht, dass die Stadt fallen werde, denn Gott werde noch an dem nämlichen Tage die Stadtmauern von selbst, ohne jede Anstrengung von seiten der Belagerer, zusammenstürzen lassen. 25 Zugleich befahl er ihnen, sie sollten alle, die [256] sie festnähmen, mit dem Schwerte umbringen, und sie sollten sich weder von Ermüdung hoch von Mitleid und Milde bewegen lassen, Schonung zu üben. Auch sollten sie die Feinde nicht aus Gier nach Beute entschlüpfen lassen, 26 sondern alles Lebendige niedermachen und nichts zu ihrem eigenen Nutzen verwenden. Was sie von Gold und Silber vorfänden, sollten sie zusammenhäufen, um es als Erstlinge von der Beute der zuerst eroberten Stadt Gott darzubringen aus Freude über ihr Glück. Nur die Rachab und deren Verwandte sollten sie in Sicherheit bringen wegen des Eides, durch den die Kundschafter sich ihr verpflichtet hätten.

(6.) 27 Nach diesen Worten stellte Jesus das Heer in Schlachtordnung und führte es auf die Stadt an. Und man zog wieder rings um die Mauer unter Vorantritt der Lade und der Priester, die mit Hörnerschall das Heer zum Sturm anfeuerten. Als sie so siebenmal die Stadt umkreist hatten, standen sie ein wenig still, und plötzlich stürzten die Stadtmauern ein, ohne dass die Hebräer Sturmgeräte oder irgend eine andere Gewalt gebraucht hätten.

(7.) 28 Die Hebräer drangen darauf in die Stadt ein und töteten alle Bewohner derselben, denn diese waren über den plötzlichen Einsturz der Mauern entsetzt und dachten nicht daran, Widerstand zu leisten. Und so wurden sie teils auf den Strassen, teils in den Häusern niedergemacht, 29 und nichts wurde verschont bis auf die Weiber und Kinder. Und die ganze Stadt war mit Leichen gefüllt, da keiner lebend entkommen war. Darauf legten die Hebräer Feuer an und zerstörten die Stadt und alles ringsum. 30 Die Rachab aber nebst den Ihrigen, die sich in die Herberge geflüchtet hatten, entrissen die Kundschafter der Gefahr. Und Jesus liess sie zu sich führen und dankte ihr dafür, dass sie die Kundschafter gerettet habe, versprach ihr auch für ihre gute That den gebührenden Lohn. Bald danach beschenkte er sie mit Ackerland und liess ihr auch sonst alle Ehren anthun.

[257] (8.) 31 Was in der Stadt vom Feuer verschont geblieben war, liess Jesus von Grund aus zerstören. Auch verfluchte er alle, die etwa die zerstörte Stadt wieder aufbauen wollten; der, welcher den ersten Stein zur neuen Stadtmauer legen würde, sollte seinen Erstgeborenen verlieren und, wenn er sie vollende, auch noch seinen jüngsten Sohn dazu. Diesen Fluch hat Gott später in Erfüllung gehen lassen, wie ich gelegentlich zeigen werde.

(9.) 32 Bei der Zerstörung der Stadt wurde eine ungeheure Menge Silber, Gold und Erz aufgehäuft, da niemand den Befehl zu übertreten oder etwas zu seinem Vorteil zu verwenden sich getraute. Diese Beute übergab Jesus den Priestern, die sie als besonderen Schatz aufbewahren sollten. So verhielt es sich mit der Zerstörung von Jericho.

(10.) 33 Ein gewisser Achar, Sohn des Zebedias aus dem Stamme Judas, hatte einen Königsmantel gefunden, der ganz mit Gold durchwirkt war und an Goldmasse zweihundert Sekel wog. Und da er dachte, es sei unbillig, dass er das, was er nach so grossen Gefahren als seinen Gewinn einheimsen könne, zu seinem Nachteil Gott opfern müsse, der dessen doch auch nicht bedürfe, machte er in seinem Zelte eine tiefe Grube und vergrub den Mantel in dem Wahn, er könne ihn so vor Gott ebenso wie vor seinen Gefährten verbergen.

(11.) 34 Der Ort, wo Jesus das Lager errichtet hatte, hiess Galgala‚ das ist „Freiheit.“ Denn nach Überschreitung des Flusses hielt man sich von aller Mühsal, die man in Aegypten und in der Wüste erlitten hatte, befreit.

(12.) 35 Wenige Tage nach dem Falle Jerichos schickte Jesus nach der Stadt Anna, die oberhalb Jericho lag, dreitausend Bewaffnete, welche mit den Annitern handgemein wurden, indes fliehen mussten und sechsunddreissig Mann verloren. 36 Als die Israëliten das erfuhren, wurden sie sehr traurig und beklommen, nicht so sehr wegen des Verlustes ihrer Angehörigen, denn diese waren [258] tapfere und hochachtbare Männer, als vielmehr aus Verzweiflung. 37 Denn sie hatten schon geglaubt, sie würden sich des Landes bemächtigen, ohne Verluste zu erleiden, da Gott ihnen dies verheissen habe; und nun sahen sie wider Erwarten, dass die Feinde sogar siegen konnten. Daher legten sie Säcke an, trauerten und weinten den ganzen Tag und dachten nicht einmal daran, etwas zu essen – so schwer hatte sie der Unfall niedergebeugt.

(13.) 38 Als Jesus das Heer so niedergeschlagen und in Verzweiflung sah, wandte er sich vertrauensvoll zu Gott und betete: 39 „Nicht aus Verwegenheit und Tollkühnheit haben wir uns zur Eroberung dieses Landes mit Waffengewalt angeschickt, sondern dein Diener Moyses hat uns dazu ermuntert, da du unter Wunderzeichen verheissen hattest, du würdest uns den Besitz dieses Landes verschaffen und unser Heer stets die Feinde besiegen lassen. 40 Einiges ist ja auch nach deiner Verheissung bereits eingetroffen. Nun aber erleiden wir unerwartet eine Niederlage und büssen einen Teil unserer Mannschaft ein, weshalb wir an deinen Verheissungen und den Versprechungen des Moyses fast verzweifeln und in grosser Betrübnis uns befinden. Und da unser erster Versuch so ungünstig ausgefallen ist, blicken wir mit banger Besorgnis in die Zukunft. 41 Du aber, o Herr, der du unserem Unglück Hilfe bringen kannst, nimm hinweg von uns alle Trauer und die bangen Sorgen wegen der Zukunft, und verleihe uns den Sieg.“

(14.) 42 So flehte Jesus zu Gott, auf sein Angesicht hingesunken. Gott aber antwortete ihm, er solle aufstehen und das Heer von der Schuld reinigen, mit der es sich befleckt habe, da es an gottgeweihten Gegenständen Diebstahl verübte. Eben deshalb hätten sie die Niederlage erlitten, und sie würden über ihre Feinde wieder siegen, sobald sie den Gottesräuber ermittelt und bestraft hätten. 43 Das verkündete Jesus dem Volke, berief den Hohepriester Eleazar und die Oberhäupter zu sich und [259] liess über die einzelnen Stämme das Los werfen. Und da das Los den Stamm Judas als denjenigen auswies, dem der Thäter angehöre, so wurde über dessen einzelne Familien das Los geworfen, und die Familie des Achar ermittelt. 44 Alsdann wurde Mann für Mann ausgeforscht, und man überführte den Achar, der, als er sah, dass er die That nicht leugnen könne und dass Gottes Gericht ihn schwer getroffen habe, den Diebstahl eingestand und das Gestohlene hervorholte. Er wurde alsdann sogleich mit dem Tode bestraft und in der Nacht schimpflich begraben, wie es mit den öffentlich Hingerichteten zu geschehen pflegt.

(15.) 45 Darauf führte Jesus das Heer nach Anna, richtete in der Nacht Hinterhalte um die Stadt herum ein und griff mit Tagesanbruch die Feinde an. Als diese nun, durch ihren jüngst errungenen Sieg tollkühn gemacht, stürmisch gegen die Hebräer anrannten, lockte er sie durch verstellte Flucht weit von der Stadt weg, sodass sie in dem Glauben, sie verfolgten die Hebräer, schon ihres Sieges gewiss waren. 46 Dann aber wandten sich plötzlich die Hebräer, und zugleich wurden die im Hinterhalt Liegenden durch verabredete Zeichen zum Kampfe aufgefordert. Und sie drangen in die Stadt ein, während die Bürger auf den Mauern standen und diejenigen beobachteten, die aus der Stadt ausgerückt waren. 47 Darauf nahmen sie die Stadt und machten alles nieder, was ihnen entgegenkam, während Jesus sich auf die Feinde warf, ihre Reihen auflöste und sie in die Flucht schlug. Weil diese nun die Stadt noch für unbesetzt hielten, wollten sie sich hierhin zurückziehen. Als sie aber sahen, dass der Feind sich schon daselbst festgesetzt und die Stadt mit den Weibern und Kindern der Vernichtung durch Feuer preisgegeben hatte, zerstreuten sie sich in völliger Verwirrung über das Land und konnten vereinzelt nicht den geringsten Widerstand mehr leisten. 48 Nachdem die Anniter also geschlagen waren fiel eine grosse Menge Weiber, Kinder und Sklaven in die Hände der Israëliten. Ausserdem erbeuteten sie viel [260] Gepäck, Vieh und bares Geld, denn die Gegend war reich. Alles dieses verteilte Jesus in Galgala unter die Kämpfer.

(16.) 49 Als die Gabaoniter, die nahe bei Jerusalem wohnten, von dem Schicksal der Städte Jericho und Anna hörten, fürchteten sie auch grosse Gefahr für sich selbst. Doch verschmähten sie es, den Jesus anzuflehen, da sie bei ihm doch nichts ausrichten zu können glaubten, weil er sich augenscheinlich die gänzliche Vernichtung der Chananäer vorgenommen hatte. 50 Dagegen luden sie die Kepheriter und Kariathiarimiter, ihre Nachbaren, zum Abschluss eines Bündnisses ein, indem sie ihnen vorstellten, dass auch sie in derselben Gefahr schwebten. 51 Als diese hiermit einverstanden waren, schickten sie Gesandte an Jesus ab, die sie unter ihren Mitbürgern als die zu diesem Dienste Tauglichsten ermittelt hatten, und liessen ihm ein Bündnis antragen. 52 Die Gesandten hielten es aber für gefährlich, sich als Chananäer zu bekennen, und glaubten besser zu fahren, wenn sie vorgäben, sie hätten mit den Chananäern nichts zu schaffen, sondern lebten weit von ihnen entfernt. Sie sagten also, sie seien zu ihm gekommen im Vertrauen auf seine Tugend und hätten eine mehrtägige Reise zurückgelegt, wofür ihre Kleider den Beweis erbrächten. 53 Denn sie hätten diese bei der Abreise neu angezogen, doch seien sie über der langen Wanderung verschlissen. Sie hatten aber absichtlich zerrissene Kleider angelegt, um ihren Worten mehr Glauben zu verschaffen. 54 So traten sie also in die Versammlung der Israëliten und erklärten, sie seien von den Gabaonitern und den nächsten Städten, die aber noch weit von da entfernt lägen, geschickt, um nach ihren väterlichen Gebräuchen mit ihnen Frieden und Freundschaft zu schliessen. Denn da sie wüssten, dass Gottes Freigebigkeit und Gnade ihnen das Land Chananaea geschenkt habe, so wünschten sie ihnen dazu viel Glück und begehrten sehr, von ihnen in die Zahl ihrer Bürger aufgenommen zu werden. 55 Und indem sie so sprachen, [261] wiesen sie auf die Kennzeichen ihrer langen Reise hin und baten die Hebräer, mit ihnen ein freundschaftliches Bündnis zu schliessen. Jesus nun glaubte ihnen, dass sie keine Chananäer seien, und schloss Freundschaft mit ihnen, und auch der Hohepriester und die Ältesten schwuren ihnen, dass sie sie als Freunde und Bundesgenossen behandeln und nichts Feindliches gegen sie ersinnen wollten. Dieser eidlichen Versicherung trat auch das ganze Volk bei. 56 Als jene nun durch List ihre Absicht erreicht hatten, kehrten sie zu den Ihrigen zurück. Jesus erfuhr jedoch später, als er mit dem Heere in den gebirgigen Teil von Chananaea kam, dass die Gabaoniter nicht weit von Jerusalem wohnten und zu den Chananäern gehörten. Er beschied daher ihre Vorsteher zu sich und beschuldigte sie des Betruges. 57 Diese aber gaben vor, sie hätten keine andere Möglichkeit ihrer Errettung gesehen und nur notgedrungen dazu ihre Zuflucht genommen. Jesus berief also den Hohepriester Eleazar und die Ältesten zusammen und legte ihnen die Sache zur Entscheidung vor. Diese waren der Meinung, man solle sie zu öffentlichen Diensten verwenden; den eidlich mit ihnen abgeschlossenen Vertrag aber dürfe man nicht verletzen. So fanden die Gabaoniter in der ihnen drohenden Gefahr Schutz und Hilfe.

(17.) 58 Über diesen Abfall der Gabaoniter war der König von Jerusalem sehr unwillig und ging deshalb die Könige der nächsten Städte um Beistand an, um die Gabaoniter zu bekriegen. Da diese aber merkten, dass die Könige jener Städte (es waren ihrer vier) den Jerusalemern halfen und in der Nähe ihrer Stadt bei einer Quelle ihr Lager aufgeschlagen hatten, riefen sie den Jesus zu Hilfe. 59 Denn ihre Sache stand damals so, dass sie von jenen nur Verderben zu erwarten hatten, von denen aber, die gegen die Chananäer einen Vernichtungskrieg führten, wegen des mit ihnen geschlossenen Bündnisses ihre Rettung hoffen konnten. 60 Jesus eilte ihnen auch sogleich mit dem Heere zu Hilfe, marschierte Tag und Nacht und griff die Feinde, als sie sich zur [262] Belagerung anschickten, eines Morgens früh an, schlug sie in die Flucht und verfolgte sie in eine abschüssige Gegend hinein, die Bethora heisst. Und er erkannte, dass Gott selbst ihm zu Hilfe gekommen sei, an dem augenscheinlichen Beweise, dass es donnerte und blitzte und ein ungewöhnlich heftiger Hagel fiel. 61 Dazu kam noch, dass der Tag sich verlängerte, damit die Hebräer nicht durch die Nacht an der Verfolgung gehindert wären. So kam es, dass Jesus bei Makkeda die Könige, die sich in einer Höhle versteckt hatten, ergriff und tötete. Dass aber der Tag sich damals wirklich verlängerte und über die gewöhnliche Dauer hinaus sich ausdehnte, erhellt aus den heiligen Schriften, die im Archiv des Tempels aufbewahrt werden.

(18.) 62 Als so die Könige, die die Gabaoniter bekriegen wollten, geschlagen waren, kehrte Jesus in das Gebirge Chananaeas zurück, lieferte hier noch eine grosse Schlacht und zog sich mit reicher Beute in das Lager von Galgala zurück. 63 Wie aber nun der Ruf von der Tapferkeit der Hebräer zu den benachbarten Völkerschaften gelangte, und diese von der Menge der von jenen Niedergemachten hörten, entsetzten sie sich. Und es nahmen die Könige, die am Gebirge Libanon wohnten und selbst zu den Chananäern gehörten, die in der Ebene wohnenden Chananäer und die Palaestiner zu Hilfe und schlugen ihr Lager bei Berotha, einer Stadt des oberen Galilaea, nicht weit von Kedesa, das ebenfalls in Galilaea liegt, auf. 64 Ihr ganzes Heer bestand aus dreihunderttausend Fusssoldaten‚ zehntausend Reitern und zwanzigtausend Wagen. Von dieser Menge der Feinde wurden Jesus und die Israëliten sehr erschreckt und verloren vor Furcht allen Mut. 65 Gott aber schalt sie, dass sie so zaghaft seien und so wenig auf seine Macht und Hilfe vertrauten, verhiess ihnen Sieg über die Feinde und befahl ihnen, sie sollten deren Pferden die Kniesehnen durchschneiden und ihre Wagen verbrennen. Aus diesen Verheissungen schöpfte Jesus wieder Mut und zog gegen die Feinde, 66 erreichte sie am [263] fünften Tage und kämpfte gegen sie in heisser Schlacht, sodass ein fast unglaubliches Blutbad entstand. Endlich blieb er Sieger, zerstreute die Feinde, setzte ihnen in langer Verfolgung nach und vernichtete fast ihr ganzes Heer; die Könige selbst fielen alle. 67 Und da keine Menschen mehr niederzumachen waren, tötete er auch die Rosse und verbrannte die Wagen. Darauf durchzog er das ganze Land, ohne auf irgend einen Widerstand zu stossen, belagerte und nahm die Städte und tötete, was ihm in die Hände fiel.

(19.) 68 So war das fünfte Jahr bereits verflossen‚ und alle Chananäer waren vertilgt bis auf diejenigen, die sich hinter feste Mauern geflüchtet hatten. Um diese Zeit zog Jesus von Galgala weg und schlug die heilige Hütte bei der Stadt Silo auf; denn dieser Ort schien ihm wegen seiner Lieblichkeit besonders dazu geeignet, bis die Verhältnisse den Israëliten gestatten würden, einen Tempel zu bauen. 69 Von da rückte er mit dem gesamten Volke nach Sikim und errichtete hier nach dem Befehle des Moyses einen Altar. Dann teilte er das Heer und stellte die eine Hälfte auf dem Berge Garizin, die andere mit den Priestern und Leviten auf dem Berge Gibal auf, wo sich auch der Altar befindet. 70 Und als man hier geopfert, die Wünsche ausgesprochen und sie auf dem Altare aufgeschrieben hatte, kehrte man nach Silo zurück.

(20.) 71 Da nun Jesus schon alt geworden war und einsah, dass die Städte der Chananäer schwer zu erobern seien, einmal wegen der natürlichen Festigkeit der Orte, wo sie lagen, dann aber auch weil sie so starke Festungsmauern hatten, dass die Feinde sich nicht an die Belagerung wagten, da sie auf die Eroberung doch nicht hoffen konnten 72 (die Chananäer hatten nämlich, als sie merkten, dass die Israëliten Aegypten verlassen hätten, um sie auszurotten, die ganze Zeit auf die Befestigung ihrer Städte verwendet), liess er das Volk nach Silo zusammenkommen. 73 Und als sie in Menge herbeigeströmt waren, hielt er ihnen vor, welches Glück [264] sie bisher gehabt, welche herrlichen Thaten sie vollbracht hätten unter dem Schutze Gottes und der Beobachtung der Gesetze, und wie sie einunddreissig Könige, die mit ihnen zu kämpfen gewagt, überwunden und deren Heer, das im Vertrauen auf seine Stärke mit ihnen gerungen, so gänzlich vernichtet hätten, dass nicht einer ihres Geschlechtes übrig geblieben sei. 74 Weil nun von den Städten einige gefallen seien, andere aber wegen der Stärke ihrer Befestigungen und des festen Vertrauens der Bewohner auf dieselben eine lange und hartnäckige Belagerung erforderten, halte er dafür, dass man diejenigen, die aus der Gegend jenseits des Jordan mit ihnen in den Krieg gezogen seien und als Verwandte gemeinsamer Gefahr mit ihnen sich unterzogen hätten, unter Dankesbezeugung für ihre Hilfe nach Hause entlasse. 75 Alsdann solle man aus jedem der Stämme einzelne wegen ihrer ausgezeichneten Tugend hervorragende Männer auswählen, die das Land ehrlich und ohne Arglist abzumessen und dann die Grösse desselben wahrheitsgemäss zu berichten hätten.

(21.) 76 Als dieser Vorschlag die Zustimmung des Volkes fand, schickte Jesus sogleich Männer ab, um das Land zu messen, und gab ihnen einige erfahrene Geometer mit, die als Sachverständige die Richtigkeit der Messungen bestätigen könnten. Auch trug er ihnen auf, dass sie das fruchtbare und das minder fruchtbare Land besonders abmessen sollten. 77 Das Land Chananaea ist nämlich so beschaffen, dass es wohl grosse Felder hat, die, wenn sie auch an sich sehr geeignet sind, Frucht zu tragen und sogar als sehr fruchtbar gelten können, doch im Vergleich mit den Äckern um Jericho oder Jerusalem nichts ausmachen. 78 Denn obgleich diese nur klein und dazu noch meistenteils gebirgig sind, so stehen sie doch an Fruchtbarkeit und Schönheit hinter keinem anderen Lande zurück. Deshalb glaubte auch Jesus, dass die Verteilung mehr nach dem Werte als nach dem Masse stattfinden müsse, da oft ein einziger Acker besser sei als tausend andere. 79 Es wurden also zehn [265] Männer abgeschickt, welche das Land durchzogen und es abschätzten. Im siebenten Monat kehrten sie zu Jesus nach der Stadt Silo zurück, wo die heilige Hütte damals stand.

(22.) 80 Darauf verteilte Jesus unter Zuziehung des Eleazar, der Ältesten und der Stammeshäupter das Land unter neun Stämme und den halben Stamm Manasses, sodass jeder Stamm einen seiner Grösse entsprechenden Teil des Ackerlandes erhielt. 81 Als man nun loste‚ erhielt der Stamm Judas das ganze obere Judaea, welches sich einerseits bis Jerusalem, andererseits der Breite nach bis zum Sodomitischen See erstreckte. In diesem Lose befanden sich die Städte Askalon und Gaza. 82 Dem Stamme Simeon, der der zweite war, fiel der Teil von Idumaea zu, der von Aegypten und Arabien begrenzt wird. Der Stamm Benjamin erhielt das Land, das sich der Länge nach vom Jordan bis zum Meer und der Breite nach von Jerusalem bis Bethel hinzog. Dieser Teil war der schmälste‚ hatte aber den besten Boden, denn er enthielt die Städte Jericho und Jerusalem. 83 Dem Stamme Ephraïm fiel das Land zu, welche sich der Länge nach vom Jordan bis nach Gadar und der Breite nach von Bethel bis zur grossen Ebene[2] erstreckte. Der halbe Stamm Manasses bewohnte das Land vom Jordan bis zur Stadt Dora, das sich in der Breite bis Bethsana‚ dem jetzigen Skythopolis, erstreckte. 84 Der Stamm Isachar erhielt seinen Teil der Länge nach vom Berge Karmel bis zum Flusse, und der Breite nach bis zum Berge Itabyrius. Dem Stamme Zabulon fiel das Land zu, welches bis zum See Gennesaritis, dem Berge Karmel und dem Meere reicht. 85 Die Gegend, die hinter dem Karmel liegt und sich nach Sidon hin erstreckt, wegen ihrer Beschaffenheit „das Thal“ genannt, erhielt der Stamm Aser. In diesem Teile liegt die Stadt Arke, die auch Ekdipus heisst. 86 Dem Stamme Nephthali fiel [266] der Teil zu, der im Osten an die Stadt Damaskus und das obere Galilaea heranreicht bis zum Gebirge Libanon und den von diesem entspringenden Quellen des Jordan, welche die Nordgrenze der benachbarten Stadt Arke berühren. 87 Der Stamm Dan endlich erhielt das ganze Thal, das nach Westen zu liegt und an Azot und Dora grenzt, und zu dem auch Jamnia und Getta von Akaron an bis zu dem Berge gehört, wo der Stamm Judas beginnt.

(23.) 88 Also hat Jesus das Gebiet der sechs Völkerschaften, die nach den Söhnen des Chananaeus genannt sind, verteilt und es den neunundeinhalb Stämmen gegeben. 89 Denn Amoraea, das ebenfalls von einem der Söhne des Chananaeus den Namen hat, hatte schon früher Moyses unter zweiundeinenhalben Stamm verteilt, wie ich dies oben erwähnt habe. Das Land aber um Sidon herum und das, welches sich bis zu den Arukäern, Amathäern und Arideern erstreckt, war noch nicht verteilt worden.

(24.) 90 Da aber Jesus wegen seines hohen Alters nicht mehr alles ausführen konnte, was er beabsichtigte, und seinen Nachfolgern im Oberbefehl wenig an der allgemeinen Wohlfahrt zu liegen schien, so befahl er, jeder Stamm solle in dem Gebiet, das ihm durchs Los zugefallen war, die Chananäer gänzlich ausrotten. Denn Moyses habe schon vorhergesagt, dass davon ihre eigene Sicherheit sowie die Aufrechterhaltung der väterlichen Gesetze abhängig sei, und das müsse auch allen einleuchten. 91 Weiter befahl er, dass man den Leviten achtunddreissig Städte einräumen solle; zehn hatten sie ja schon in Amoraea erhalten. Davon bestimmte er drei zu Asylen für Flüchtlinge (denn er liess sich sehr angelegen sein, dass keine von den Anordnungen des Moyses unausgeführt bliebe), nämlich Chebron im Stamme Judas, Sikim im Stamme Ephraïm und Kedesa im Stamme Nephthali, im oberen Galilaea. 92 Ausserdem verteilte er auch den Rest der Beute, deren man eine unbegrenzte Menge gemacht hatte, an die Israëliten. [267] Hierdurch stieg sowohl der öffentliche als auch der private Reichtum, denn es gab eine gewaltige Menge von Gold, Kleidern und anderen Gerätschaften, dazu so viel Vieh, dass man es kaum zählen konnte.

(25.) 93 Darauf berief Jesus das Heer zusammen und hielt an die fünfzigtausend Bewaffneten, die jenseits des Jordan neben Amoraea wohnten und mit ihnen in den Krieg gezogen waren, folgende Ansprache: „Da Gott, der Vater und Herr des Hebräervolkes, uns dieses Land in Besitz gegeben und die Beibehaltung dieses Besitzes zugesichert hat, 94 wozu ihr uns auf Gottes Befehl eure willkommene Hilfe bereitwillig geleistet habt, so ist es billig, weil wir jetzt keine Anstrengungen mehr zu überwinden haben, dass wir euch nunmehr Ruhe gönnen und euren guten Willen nicht ferner in Anspruch nehmen. Sollten wir euer bei drohenden Gefahren wieder bedürfen, so hoffen wir, dass ihr bereit sein und uns später ebenso willig helfen werdet, trotz der vielen Mühen, die ihr bis jetzt erlitten habt. 95 Wir sagen euch Dank dafür, dass ihr gemeinsam mit uns allen Drangsalen getrotzt habt, und werden euch auch in Zukunft dankbar bleiben. Denn es liegt in unserer Natur, unserer Freunde stets zu gedenken und uns daran zu erinnern, was wir mit eurer Hilfe erreicht haben, und dass ihr, um uns beizustehen, euer eigenes Wohl hintangesetzt und euch abgemüht habt, um das erreichen zu helfen, was Gottes Güte uns gewährte und wovon ja auch ihr euren Anteil erhalten habt. 96 Denn aus unseren gemeinsamen Anstrengungen ist euch grosser Reichtum zugefallen, viele Beute an Gold und Silber nehmt ihr mit euch und, was noch mehr wert ist, ihr habt euch besonderen Anspruch auf unser Wohlwollen erworben, das wir jederzeit durch Leistung von Gegendiensten zu bethätigen bereit sind. Auch habt ihr alle Vorschriften des Moyses bis ins kleinste befolgt, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass er nicht mehr unter den Lebenden weilt, und auch dafür habt ihr unseren herzlichen Dank verdient. 97 Ziehet daher fröhlich nach Hause und denket besonders [268] daran, dass unsere gegenseitige Freundschaft eine unbegrenzte ist; glaubet auch nicht, dass wir deshalb, weil der Fluss uns trennt, weniger Hebräer wären als ihr. Denn wir alle stammen von Abram ab, mögen wir nun an diesem oder jenem Ufer wohnen, und ein und derselbe Gott hat eure wie unsere Vorfahren ins Leben gerufen. 98 Seine Verehrung müsst ihr deshalb ebenso fleissig pflegen wie wir, auch die Verfassung, die er durch Moyses eingerichtet hat, treu beobachten. Wenn ihr das thut und standhaft dabei bleibt, wird Gott euch stets ein gnädiger Beschützer sein. Fallt ihr aber zu den Sitten und Gebräuchen anderer Völker ab, so wird er sich von eurem Geschlechte abwenden.“ 99 Als er so gesprochen, grüsste er zuerst jeden Obersten, darauf die ganze Volksmenge und entfernte sich dann; das Volk aber gab ihnen weinend das Geleit, bis sie, beiderseits traurig gestimmt, von einander schieden.

(26.) 100 Als nun die Stämme Rubel und Gad und was vom Stamme Manasses ihnen gefolgt war, den Fluss überschritten hatten, errichteten sie am Ufer des Jordan einen Altar zum ewigen Gedenkzeichen ihrer Freundschaft mit den jenseitigen Bewohnern. 101 Sobald aber die auf der anderen Seite des Jordan wohnenden Israëliten gehört hatten, diejenigen, die von ihnen geschieden, hätten einen Altar gebaut, griffen sie aus Unkenntnis der Absicht, die jene dazu veranlasst hatte‚ und im Glauben, dies sei geschehen, um einen neuen Gottesdienst und fremde Götter einzuführen, zu den Waffen, um nach Überschreitung des Flusses die Erbauer des Altars zu verfolgen und sie für die Verletzung der heimischen Gebräuche zu bestrafen. 102 Denn sie hielten dafür, dass man mehr auf den Willen Gottes und seine Verehrung als auf Verwandtschaft und die Stellung derjenigen Rücksicht nehmen müsse, die sich des Frevels schuldig gemacht hätten. 103 Und so rüsteten sie sich in ihrem Zorn zum Kampfe. Jesus aber, der Hohepriester Eleazar und die Ältesten suchten sie davon abzuhalten und beredeten sie, dass sie zuerst in Güte zu erfahren suchen [269] möchten, in welchem Sinne jene den Altar gebaut hätten, und erst wenn sie die böse Absicht festgestellt hätten, sollten sie mit den Waffen einschreiten. 104 Daraufhin schickten sie Phineës, den Sohn des Eleazar, und zehn andere bei den Hebräern sehr angesehene Männer als Gesandte ab, um nachzuforschen, was die anderen mit der Errichtung des Altars am Flussufer beabsichtigt hätten. 105 Als diese nun den Fluss überschritten hatten und bei ihnen angelangt waren, berief man sogleich eine Versammlung, in deren Mitte Phineës trat und also sprach: „Euer Vergehen ist zwar zu gross, als dass man es bloss mit Worten ahnden könnte. Trotzdem haben wir nicht gleich zu den Waffen greifen wollen‚ vielmehr mit Rücksicht auf unsere Verwandtschaft und im Vertrauen darauf, dass ihr vielleicht durch gute Worte euch zu vernünftigem Handeln bereden lasst, diese Botschaft zu euch unternommen. 106 Wir möchten nämlich nicht gern ohne Grund euch angreifen, wenn ihr den Altar in frommer Absicht gebaut habt; andererseits aber sind wir auch gesonnen, euch streng zu bestrafen, wenn die Anschuldigung gegen euch auf Wahrheit beruht. 107 Wir konnten in der That fast nicht glauben, dass ihr, die ihr doch Gottes Willen kennt und die Gesetze, die er euch gegeben, gehört habt, kaum dass ihr von uns weggegangen waret und euch der Heimat zugewandt hattet, schon solltet vergessen haben, was ihr der Fürsorge Gottes verdankt, und dass ihr die heilige Hütte, die Lade und den heimischen Altar hättet verlassen, fremde Götter einführen und die schändlichen Gebräuche der Chananäer annehmen wollen. 108 Doch wollen wir euch nichts Böses nachtragen, wenn ihr in euch geht, keine weitere Thorheit begeht, die heimischen Gesetze wieder achtet und sie im Gedächtnis behaltet. Besteht ihr dagegen auf eurem schlechten Vorhaben, so werden wir um unserer Gesetze willen keine Mühe scheuen, sondern über den Fluss ziehen und zum Schutze Gottes und seiner Gebote keinen Unterschied zwischen euch und den Chananäern machen, euch also wie jene vernichten. [270] 109 Hütet euch zu glauben, ihr wäret, da ihr den Fluss überschritten, nun auch Gottes Botmässigkeit entgangen. Denn überall steht ihr in seiner Gewalt, und auf keinen Fall könnt ihr seiner Allmacht und seinem Strafgerichte entrinnen. Glaubt ihr aber, ihr könntet in diesem eurem Lande eure gute Gesinnung nicht beibehalten, so steht es euch ja frei, das Land abermals zu teilen und es wieder zu verlassen, so gute Viehweiden es auch darbieten mag. 110 Jedenfalls thätet ihr wohl daran, wenn ihr Vernunft annähmt und von neuen Vergehungen abständet. Bei euren Weibern und Kindern beschwören wir euch, nötigt uns nicht den Kampf auf. Und nun beratschlagt und thut so, als ob von dieser Beratung euer und eurer Lieben Wohlergehen abhinge. Bedenket auch, dass es besser ist, sich vernünftiger Überredung zu fügen, als des Krieges Ungemach zu erproben.“

(27.) 111 Als Phineës so geredet hatte, fingen die Vorsteher der Versammlung und das ganze Volk an, die gegen sie erhobenen Beschuldigungen zurückzuweisen. Sie hätten den Altar weder errichtet, um von ihren Verwandten sich zu trennen, noch um Neuerungen einzuführen. 112 Sie erkännten vielmehr nur einen einzigen Gott an, den alle Hebräer gemeinsam verehrten, und wüssten, dass man nur auf einem Altare Gott opfern dürfe, nämlich dem ehernen Altare vor der heiligen Hütte. „Den Altar aber,“ sagten sie, „den wir jetzt erbaut haben, und der einen solchen Verdacht bei euch wachgerufen hat, haben wir nicht zum Zwecke der Gottesverehrung errichtet, sondern damit er ein ewiges Wahrzeichen unser beiderseitigen Verwandtschaft sei. Er sollte, statt uns, wie ihr argwöhntet, zur Übertretung der Gebote zu verführen, uns vielmehr den rechten Anlass geben, stets im wahren Glauben und in den Gebräuchen unserer Väter zu verharren. 113 Gott selbst sei unser Zeuge, dass wir nur in dieser Absicht den Altar errichtet haben. Denket also künftig besser von uns und legt uns kein Vergehen bei, wegen dessen alle Nachkommen Abrams, die von den überkommenen Einrichtungen abwichen [271] und Neuerungen einführten, die Todesstrafe verdient haben.“

(28.) 114 Wegen dieser vernünftigen Sprache lobte sie Phineës sehr. Darauf kehrte er zu Jesus zurück und erzählte dem Volke, was sich zugetragen. Diese freuten sich, dass sie nicht in den Krieg zu ziehen und das Blut ihrer Verwandten zu vergiessen brauchten, und brachten Gott Dankopfer dar. Jesus entliess sodann das Volk und begab sich nach Sikim. 115 Zwanzig Jahre später, als er in hohem Greisenalter stand, berief er aus den einzelnen Städten die Angesehensten, die Behörden und die Ältesten nebst allen aus dem Volke, die er bequem zusammenbringen konnte, zu sich. Und als sie versammelt waren, rief er ihnen die Wohlthaten Gottes ins Gedächtnis, deren sie gar viele erfahren hätten, da sie aus Niedrigkeit zu solchem Ruhm und solcher Macht gelangt seien. 116 Dann ermahnte er sie, dem Willen Gottes, der ihnen stets gnädig gewesen, zu folgen, denn nur durch Frömmigkeit würden sie sich Gottes Wohlwollen auch für die Zukunft bewahren. Er sei im Begriff, aus dem Leben zu scheiden, und es stehe ihm deshalb zu, ihnen solche Ermahnungen zu erteilen. Dass sie dieser Ermahnungen stets eingedenk bleiben möchten, darum bitte er sie noch ganz besonders.

(29.) 117 Nachdem er so zu den Anwesenden gesprochen hatte, starb er im Alter von einhundertzehn Jahren. Hiervon hatte er vierzig Jahre mit Moyses zusammengelebt, von dem er viel Nützliches gelernt, und nach dessen Tod er fünfundzwanzig Jahre lang den Oberbefehl innegehabt hatte. 118 Er war ein Mann, dem es weder an Einsicht noch an der nötigen Beredsamkeit fehlte, um seine Gedanken dem Volke klar zu machen; vielmehr besass er beides in hohem Masse. In gefahrvollen Unternehmungen tapfer und starkmütig, war er im Frieden ein geschickter Ratgeber und von allzeit erprobter Tüchtigkeit. 119 Begraben wurde er in der Stadt Thamna im Stamme Ephraïm. Um dieselbe Zeit starb auch der Hohepriester Eleazar und hinterliess die [272] Würde seinem Sohne Phineës. Sein Grabdenkmal steht in der Stadt Gabatha.

Zweites Kapitel.
Wie nach dem Tode des Feldherrn die Israëliten die väterlichen Gesetze übertreten und deshalb in grosses Unglück gerieten, und wie nach einer Empörung der ganze Stamm Benjamin bis auf sechshundert Mann zu Grunde ging.

(1.) 120 Nach dem Tode dieser beiden Männer weissagte Phineës nach dem Willen Gottes, bei der Vernichtung des Chananäervolkes solle der Stamm Judas den Oberbefehl erhalten. Denn es lag dem Volke daran, zu erfahren, was Gott für das beste hielt. Und dieser Stamm nahm noch zu sich den Stamm Simeon unter der Bedingung, dass, nachdem er die tributpflichtigen Feinde aus dem Gebiete des Stammes Judas habe vertilgen helfen, dieser auch dem Stamme Simeon dabei helfen solle.

(2.) 121 Die Chananäer aber, deren Macht sich damals wieder gehoben hatte, erwarteten mit einem grossen Heere die Israëliten bei der Stadt Bezek. Den Oberbefehl führte Adonibezek, König der Bezeker (dieser Name heisst „Herr der Bezeker,“ denn Adoni heisst in der hebraeischen Sprache „Herr“), und sie hofften die Israëliten um so eher besiegen zu können, weil Jesus gestorben war. 122 Mit ihnen trafen nun die beiden genannten Stämme zusammen und kämpften tapfer, töteten mehr als zehntausend Mann von ihnen, schlugen die anderen in die Flucht, verfolgten sie und nahmen den König Adonibezek gefangen. 123 Als der letztere von ihnen verstümmelt worden war, sprach er: „Gott lässt nichts unbestraft, denn ich muss jetzt dasselbe erleiden, was ich früher zweiundsiebzig Königen anzuthun mich nicht gescheut habe.“ 124 Man brachte ihn zwar noch lebend nach Jerusalem, doch erlag er bald seinen Leiden und wurde [273] dort begraben. Darauf durchzogen sie das Land, um die Städte zu erobern. Und nachdem sie viele derselben eingenommen hatten, griffen sie auch Jerusalem an, besetzten den unteren Teil der Stadt und töteten alle, die hier wohnten. Die Eroberung des oberen Teiles dagegen mussten sie seiner starken Mauern und seiner natürlichen Festigkeit wegen aufgeben.

(3.) 125 Danach brachen sie wieder auf und zogen nach Chebron, nahmen es ein und töteten alle Bewohner. Hier hatte sich noch ein Riesengeschlecht erhalten, das durch Körpergrösse und Gestalt von anderen Menschen sich unterschied, von erstaunlichem Aussehen war und eine erschreckliche Stimme besass. Ihre Gebeine werden noch heute gezeigt und sind so gross, dass es schwer fällt, sie für menschliche Gebeine zu halten. 126 Diese Stadt schenkte man nebst zweitausend Ellen Ackerland als Zeichen besonderen Vorzuges den Leviten, das übrige Land aber erhielt nach dem Befehle des Moyses Chaleb, einer der Kundschafter, die er nach Chananaea geschickt hatte. 127 Auch den Nachkommen des Madianiters Jothor, des Schwiegervaters des Moyses, räumte man ein Land als Wohnsitz ein. Denn sie hatten ihr Vaterland verlassen und waren den Israëliten durch die Wüste gefolgt.

(4.) 128 Die Stämme Judas und Simeon hatten alle Städte im Gebirgslande Chananaeas genommen, in der Ebene aber und an der Meeresküste nur Askalon und Azot. Gaza dagegen und Akkaron entgingen ihnen, denn da deren Bewohner Wagen in Menge hatten und in der Ebene wohnten, griffen sie die Belagerer an und brachten ihnen empfindliche Verluste bei. Darauf legten diese Stämme, nachdem sie sich durch Beute sehr bereichert hatten, die Waffen nieder.

(5.) 129 Die Benjamiter begnügten sich damit, den Einwohnern von Jerusalem, das in ihrem Lose lag, Abgaben aufzulegen, und so erfreuten sie sich beide der Ruhe. Die einen wurden von den Kriegsbeschwerden, die anderen aus ihren Gefahren befreit, und beide verlegten [274] sich nun auf den Ackerbau. Dem Beispiele der Benjamiter folgten die übrigen Stämme, begnügten sich mit Tributleistung und liessen die Chananäer in Frieden.

(6.) 130 Der Stamm Ephraïm hatte ein Heer gegen Bethel geschickt, richtete aber trotz langwieriger und mühevoller Belagerung nichts aus. Obgleich sie nun über die Verzögerung sich sehr ärgerten, liessen sie doch von der Belagerung nicht ab. 131 Endlich ergriffen sie einen Bürger, der der Stadt Proviant zuführte; diesem versprachen sie, sie wollten ihn nebst den Seinigen nach Einnahme der Stadt verschonen, wenn er ihnen dieselbe verriete. Hierauf ging der Mann ein und schwur ihnen eidlich, er werde ihnen Bethel überliefern. So wurde die Stadt verraten und eingenommen, und alle ihre Bewohner wurden getötet, der Verräter dagegen mit den Seinen am Leben gelassen.

(7.) 132 Hierauf standen die Israëliten vom Kriege ab oder befassten sich wenigstens nicht viel mit ihm; dagegen verlegten sie sich eifrig auf Ackerbau und Viehwirtschaft. Und da sie hieraus reichen Gewinn zogen, lebten sie in Schwelgerei und Wollust, verachteten Zucht und Ehrbarkeit und übertraten Gesetze wie Verfassungsbestimmungen. 133 Hierüber erzürnte Gott und tadelte sie zuerst in einem Orakelspruch, dass sie gegen seinen Willen die Chananäer verschont hätten; denn diese würden ihnen zu gelegener Zeit ihre Milde nur mit Grausamkeit vergelten. 134 Diese Ermahnung Gottes aber nahmen die Israëliten nicht nur mit Widerwillen auf, sondern waren auch dem Kriege gänzlich abgeneigt, einmal weil sie von den Chananäern viele Vorteile hatten, dann aber auch, weil sie infolge ihres weichlichen Lebens zur Kriegführung zu träge geworden waren. 135 Auch die Vornehmen fingen an verderbt zu werden, und es wurden weder Älteste erwählt noch andere obrigkeitliche Personen, wie das Gesetz es vorschrieb. Man beschäftigte sich lediglich mit Ackerbau und jagte nur noch nach Gewinn. Bei dieser Ungebundenheit und [275] Leichtfertigkeit der Lebensweise entstand eine schwere Zerrüttung, und es kam endlich sogar zum Bürgerkriege aus folgender näheren Veranlassung.

(8.) 136 Ein Mann aus dem Stande der Leviten, der im Stamme Ephraïm wohnte, hatte ein Weib aus Bethleëm, das zum Stamme Judas gehörte, geheiratet. Da dieser seine Gattin um ihrer Schönheit willen heftig liebte, sie ihm aber nicht die gleiche Zuneigung entgegenbrachte, 137 vielmehr sich ihm von Tag zu Tag desto mehr entfremdete, je grösser seine Liebe zu ihr wurde, kam es schliesslich zu täglichen Streitigkeiten zwischen ihnen, infolge deren das Weib im vierten Monat von ihrem Manne sich trennte und zu ihren Eltern zurückkehrte. Das ertrug der Mann in seiner grossen Liebe nicht und folgte ihr zu seinen Schwiegereltern nach, die die Streitigkeiten schlichteten und eine Versöhnung zwischen den Ehegatten zustande brachten. 138 Vier Tage hatte der Mann sich dort aufgehalten und freundlichste Aufnahme bei seinen Schwiegereltern gefunden. Am fünften Tage aber wollte er nach Hause zurückkehren und begab sich gegen Mittag weg; die Eltern jedoch liessen die Tochter ungern ziehen und hielten sie daher bis gegen Abend hin. Auf der Reise begleitete sie ein einziger Diener, und das Weib ritt auf einem Esel. 139 Als sie nun dreissig Stadien zurückgelegt hatten und in die Nähe Jerusalems gekommen waren, riet der Diener zur Einkehr, damit sie nicht in der Nacht gefahrvollen Zufällen ausgesetzt seien, zumal da sich Feinde in der Nähe aufhielten, und die Nacht selbst eine friedliche Gegend unsicher und verdächtig mache. 140 Dem Levit aber missfiel dieser Vorschlag, weil er in fremdem Lande nicht gern einkehrte (in Jerusalem wohnten Chananäer). Er hielt es vielmehr für besser, noch zwanzig Stadien weiter zu reisen, da sie dann zu einer israëlitischen Stadt kommen würden. Und da diese Meinung Beifall fand, zogen sie weiter und gelangten nach Gaba im Stamme Benjamin, als die Sonne bereits untergegangen war. 141 Zu dieser späten Stunde befand sich aber niemand mehr auf dem Markte, der [276] ihnen ein Nachtlager angeboten hätte. Zuletzt begegnete ihnen jedoch ein alter Mann vom Stamme, Ephraïm, aber wohnhaft zu Gaba, der eben vom Felde heimkehrte. Dieser fragte ihn‚ wer er sei, woher er komme und weshalb er noch so spät ein Nachtmahl suche. 142 Und da der Levit ihm entgegnete, er führe sein Weib wieder nach Hause, die ihre Eltern besucht habe, und er wohne im Stamme Ephraïm, bat sie der Greis, weil auch er in demselben Stamme gewohnt habe und ihnen so zufällig als Verwandter begegnet sei, sie möchten bei ihm einkehren. 143 Einige Gabaënerjünglinge aber, die das Weib auf dem Markte gesehen und seine Schönheit bewundert hatten, hatten kaum bemerkt, dass sie bei dem Greise eingekehrt sei, als sie ohne Scheu vor das Haus zogen. Der Greis bat sie, sie möchten doch weggehen und keine Gewaltthat verüben; doch sie verlangten, er solle ihnen nur das fremde Weib ausliefern, dann hätten sie mit ihm nichts mehr zu schaffen. 144 Und da er ihnen vorstellte, sie sei seine Verwandte und eine Levitin, und sie möchten doch keine solche Schandthat begehen und aus Wollust die Gesetze verletzen, schlugen sie Recht und Gerechtigkeit in den Wind und verhöhnten ihn noch dazu; ja sie drohten ihm mit dem Tode, wenn er ihrer Lust noch weiter Hindernisse bereite. 145 Nun geriet der Greis in grosse Not, und da er seinen Gästen eine solche Schmach nicht anthun lassen wollte, bot er ihnen an, ihnen seine eigene Tochter preiszugeben; denn ihre Sünde würde geringer sein, wenn sie an dieser ihre Lust ausliessen, als wenn sie das Gastrecht also verletzten. So glaubte er seinerseits alles gethan zu haben, um von seinen Gästen die Beleidigung abzuwehren. 146 Als sie aber von ihrem Verlangen nicht abliessen, vielmehr noch heftiger und ungestümer die Auslieferung begehrten, bat er sie kniefällig, doch von ihrem ungerechten Vorhaben abzustehen. Sie aber, wahnsinnig vor Wollust, wandten Gewalt an und schleppten das Weib mit sich nach Hause, schändeten sie und trieben die ganze Nacht ihre Kurzweil mit ihr, und erst gegen Morgen liessen sie sie [277] weg. 147 Das Weib kehrte, schwer betrübt über die ihr widerfahrene Unbill, wieder nach der Herberge zurück; aber vor Schmerz und Scham wagte sie nicht, ihrem Manne unter die Augen zu treten, denn sie wusste, wie schwer er unter dem Geschehenen leiden würde. Plötzlich fiel sie zur Erde und gab ihren Geist auf. 148 Ihr Gatte aber dachte, sie sei nur in tiefen Schlaf gefallen, und wollte sie, da er nichts Schlimmes argwöhnte, aufwecken und sie trösten, weil er wusste, dass sie sich den schändlichen Menschen nicht freiwillig hingegeben habe, vielmehr von ihnen mit Gewalt entführt worden sei. 149 Als er aber merkte, dass sie tot sei, fasste er sich, soweit ihm dies die Entsetzlichkeit des Unglückes gestattete, lud sein totes Weib auf den Esel und nahm es mit sich nach Hause. Dort zerschnitt er sie in zwölf Stücke und schickte jedem Stamme eins davon zu, wobei er zu gleich die Ursache ihres Todes und die unerhörte Gewaltthat, die man an ihr verübt, mitteilen liess.

(9.) 150 Diese aber wurden durch den grässlichen Anblick der Körperteile und durch die Nachricht von der Schandthat gewaltig erschüttert, da sie dergleichen nie gehört hatten, und von gerechtem Zorn getrieben, kamen sie bei Silo vor der Hütte zusammen, wo sie sogleich zu den Waffen zu greifen und die Gabaoniter mit Krieg zu überziehen beschlossen. 151 Dem widersetzten sich jedoch die Ältesten und erklärten es für unzulässig, so ohne weiteres die Stammesgenossen zu bekriegen, bevor man den Streit mit Worten zu schlichten versucht habe. Das Gesetz gestatte ja noch nicht einmal, gegen Fremde wegen begangenen Unrechtes in den Krieg zu ziehen, bevor man eine Gesandtschaft zu ihnen geschickt und versucht habe, sie auf andere Weise zur Besinnung zu bringen. 152 Es sei daher billig, dass man nach Vorschrift des Gesetzes Gesandte an die Gabaëner schicke, die die Bestrafung der Frevler zu verlangen hätten. Wenn man ihnen dann die Thäter ausliefere, so solle man mit deren Bestrafung zufrieden sein; stiessen sie aber auf [278] Widerstand, so müsse man sie bekriegen. 153 Demgemäss schickte man Gesandte zu den Gabaënern, liess die Jünglinge wegen der an dem Weibe begangenen Frevelthat anklagen und die Forderung stellen, dass sie für ihre scheussliche That mit dem Tode bestraft werden müssten. 154 Die Gabaëner aber wollten die Jünglinge nicht ausliefern und glaubten, es sei schmachvoll für sie, aus Furcht vor Krieg fremdem Befehl zu gehorchen, da sie keinem Volke weder an Rüstung noch an Truppenzahl noch an Tapferkeit nachständen. Und wirklich rüsteten sie sich mit anderen Stammesgenossen eifrig zum Kriege, denn diese trugen denselben Übermut zur Schau und gedachten ihre Angreifer empfindlich zu schlagen.

(10.) 155 Sobald den Israëliten gemeldet wurde, was die Gabaëner beabsichtigten, schwuren sie, sie würden keinem Benjamiter eine ihrer Töchter zur Ehe geben und sie mit Krieg überziehen; denn sie zürnten ihnen noch heftiger als unsere Vorfahren den Chananäern. 156 Und sogleich zogen sie mit einem Heere von vierhunderttausend Bewaffneten gegen Gaba. Die Benjamiter dagegen zählten fünfundzwanzigtausendsechshundert Mann, darunter fünfhundert Mann, die mit der linken Hand ausgezeichnet schleudern konnten. 157 Bei Gaba kam es zum Treffen, in welchem die Benjamiter die Israëliten in die Flucht schlugen, und zweiundzwanzigtausend Mann von den letzteren fielen; es wären ihrer vielleicht noch mehr umgekommen, wenn die Nacht nicht dem Kampfe ein Ende gemacht hätte. 158 Darauf zogen die Benjamiter frohlockend in ihre Stadt ein, die Israëliten dagegen waren ihrer Niederlage wegen mutlos und bezogen wieder ihr Lager. Am folgenden Tage wurde wieder gestritten, und die Benjamiter siegten abermals: von den Israëliten fielen achtzehntausend Mann, die übrigen aber flohen in feiger Furcht zum Lager. 159 Als sie dann nach der nahe gelegenen Stadt Bethel gekommen waren, fasteten sie am folgenden Tage und liessen durch den Hohepriester Phineës Gott bitten, er möge ihnen nicht weiter zürnen, [279] sich an der zweimaligen Niederlage genügen lassen und ihnen Stärke und Sieg über ihre Feinde verleihen. Gott verhiess ihnen denn auch das Erbetene durch den Phineës.

(11.) 160 Hierauf teilten sie ihr Heer in zwei Teile, von denen der eine in der Nacht sich in einen Hinterhalt bei der Stadt legte, der andere dagegen mit den Benjamitern anband. Als nun die Benjamiter auf sie eindrangen, zogen sie sich zurück, während die Benjamiter sie verfolgten. 161 Immer weiter wichen die Hebräer und lockten so allmählich alle aus der Stadt heraus, sodass die Jünglinge sowohl wie die wegen ihrer Kampfunfähigkeit in der Stadt zurückgelassenen Greise zusammen hervorstürmten, um den Feind zu erdrücken. Als sie sich nun weit genug von der Stadt entfernt hatten, machten die Hebräer halt, wandten sich und rückten in Schlachtordnung, und zugleich gaben sie den im Hinterhalt Aufgestellten das verabredete Zeichen, 162 worauf diese sofort hervorbrachen und den Feind mit grossem Geschrei angriffen. Sobald die Benjamiter merkten, dass sie überlistet seien, waren sie ratlos vor Verwirrung, sodass sie sich in ein tiefes Thal drängen liessen. Hier wurden sie mit Wurfgeschossen überschüttet und kamen alle bis auf sechshundert Mann um, 163 die dichtgeschlossen mitten durch den Feind durchbrachen und sich auf den benachbarten Bergen festsetzten, wo sie eine Zeitlang blieben. Alle übrigen dagegen, gegen fünfundzwanzigtausend Mann, fielen durchs Schwert. 164 Hierauf steckten die Israëliten Gaba in Brand und brachten sogar die Weiber und Knaben um; ebenso verfuhren sie mit den anderen Städten der Benjamiter. Und sie waren dergestalt ergrimmt, dass sie zwölftausend auserlesene Streiter nach Jabison, einer Stadt in Galaditis schickten, weil sie ihnen keine Hilfe gegen die Benjamiter gewährt hatte, und sie von Grund aus zerstören liessen. 165 Zugleich liessen sie die sämtlichen streitbaren Männer nebst den Weibern und Kindern darin umbringen und nur vierhundert Jungfrauen verschonen. [280] So weit aber hatten sie sich in ihrem Zorn hinreissen lassen, weil sie ausser der der Frau des Leviten zugefügten Schandthat auch noch den Verlust so vieler Kämpfer zu beklagen hatten.

(12.) 166 Später jedoch reute es sie sehr, dass sie die Benjamiter so hart mitgenommen hatten, und obgleich sie deren Strafe für wohlverdient ansahen, da sie gegen Gottes heilige Gesetze gefrevelt hätten, fasteten sie und schickten Gesandte ab, um jene sechshundert, die auf einen Felsen in der Wüste mit Namen Rhoa geflohen waren, zurückzurufen. 167 Die Gesandten beklagten nicht nur das traurige Schicksal der Geflohenen, sondern auch ihr eigenes, da sie so viele Blutsverwandten verloren hätten, und redeten ihnen zu, sie möchten ihr Unglück mit Gleichmut ertragen und sich wieder in ihre Heimat begeben, damit nicht, wie es zu befürchten sei, der ganze Stamm Benjamin zu Grunde gehe. Sie wollten ihnen auch, sagten sie zu ihrer Beruhigung, das ganze Land ihres Stammes und so viel von der Beute einräumen, als sie fortschaffen könnten. 168 Die Benjamiter, welche einsahen, dass sie für ihre Frevel das Strafgericht Gottes auf sich gezogen hatten, folgten ihnen und kehrten in ihr Heimatland zurück. Die Israëliten aber gaben ihnen die vierhundert jabitischen Jungfrauen zu Weibern und überlegten, wie sie auch den anderen zweihundert Benjamitern Frauen verschaffen könnten behufs Erzielung von Nachkommenschaft. 169 Denn da sie vor dem Beginn des Krieges einen Eid geschworen hatten, keiner solle seine Tochter einem Benjamiter zur Ehe geben, glaubten einige, man brauche diesen Eid nicht zu halten, weil sie ihn im Zorn und nicht mit der nötigen Überlegung geleistet hätten, und man werde Gottes Unwillen gewiss nicht auf sich laden, wenn man den äusserst gefährdeten Stamm vor dem gänzlichen Untergang bewahre; auch sei ein Meineid nur dann schädlich und gefährlich, wenn man ihn böswillig begehe, und nicht, wenn die Not ihn gebieterisch fordere. 170 Die Ältesten dagegen äusserten sich sehr streng über den Meineid und verwarfen ihn, [281] unter allen Umständen. Da erklärte jemand, er wisse, wie man die Benjamiter mit Weibern versorgen und dabei doch den Eid halten könne, nämlich folgendermassen: „Wenn wir dreimal im Jahr bei Silo zusammem kommen, nehmen wir unsere Weiber und Töchter dorthin mit. 171 Nun könnten ja die Benjamiter die letzteren entführen und zur Ehe nehmen, ohne dass wir sie dazu anreizen, noch sie daran verhindern. Wenn dann die Väter der geraubten Töchter sich hierüber beklagen und Strafe dafür verlangen, so könnten wir ihnen ja sagen, sie seien selbst schuld daran, weil sie ihre Töchter nicht besser bewacht hätten, und man dürfe auch jetzt nicht mehr dem Zorn gegen die Benjamiter nachgehen, da man ihn schon früher sattsam an ihnen gekühlt habe.“ 172 Dieser Vorschlag ward beifällig aufgenommen, und man beschloss, den Benjamitern Gelegenheit zu geben, sich Weiber rauben zu können. Als daher das Fest bevorstand, lauerten jene zweihundert in Gruppen von zwei und drei Mann den Jungfrauen, die zur Feier kamen, vor der Stadt auf, indem sie sich in Weinbergen und anderen passenden Verstecken aufstellten. 173 Und während nun die Mädchen ahnungslos und ohne besonderen Schutz ihr Spiel trieben, brachen die Männer plötzlich hervor, zerstreuten sie und fingen sie auf. Auf diese Weise kamen sie zu Weibern; sie verlegten sich alsdann auf den Ackerbau und gaben sich Mühe, ihren früheren Wohlstand wieder zu erlangen. 174 So wurde der Stamm Benjamin, der seinem gänzlichen Aussterben nahe war, durch das verständige Benehmen der Israëliten hiervor bewahrt. Und in kurzer Zeit blühte er wieder auf und wuchs rasch an Volkszahl und Reichtum. So endete dieser Krieg.

[282]
Drittes Kapitel.
Wie die Israëliten zuchtlos wurden und in die Knechtschaft der Assyrier gerieten, aber durch Hothniel wieder daraus befreit wurden.

(1.) 175 Ein ähnliches Missgeschick traf auch den Stamm Dan, der aus folgender Ursache ins Unglück geriet. 176 Als die Israëliten sich vom Kriege abgewandt hatten und sich nur auf den Ackerbau verlegten, fingen die Chananäer, denen sie deshalb verächtlich geworden waren, an, Truppen zu sammeln, nicht weil sie von den Israëliten neue Angriffe befürchteten, sondern weil sie hofften, sie würden nach Niederwerfung der Hebräer in ihren Städten grössere Sicherheit geniessen. 177 Deshalb rüsteten sie ihre Kampfwagen, zogen ihr Heer zusammen und brachten die Städte Askalon und Akkaron im Stamme Judas auf ihre Seite, desgleichen viele andere Städte, die in der Ebene lagen. Darauf nötigten sie die Daniter, ins Gebirge zu fliehen, und liessen ihnen in der Ebene keinen Fleck übrig, wo sie ihren Fuss hinsetzen konnten. 178 Da nun die Daniter zu schwach waren, um einen Kampf einzugehen, und auch kein hinreichendes Ackerland besassen, so schickten sie fünf Männer in die Gegend am Meere, um zu Kolonien geeignete Landstrecken auszusuchen. Als diese unweit des Libanon und der Quellen des kleinen Jordan in der grossen Ebene bei Sidon eine Tagereise zurückgelegt hatten, fanden sie gutes und fruchtbares Land und benachrichtigten hiervon die Ihrigen, welche alsbald mit einem Heere dahinzogen und die nach einem der Söhne Jakobs und ihrem Stamme benannte Stadt Dana gründeten.

(2.) 179 Die Macht der Israëliten sank nun immer mehr, weil sie sich der Arbeit entwöhnten und den Gottesdienst vernachlässigten. Denn nachdem sie einmal von Zucht und Anstand abgekommen waren, thaten sie alles, was ihnen beliebte. So kam es, dass sie bald mit denselben [283] Lastern vertraut wurden, welche bei den Chananäern einheimisch waren. 180 Deshalb zürnte ihnen Gott, sodass sie den Wohlstand, den sie unter unsäglichen Mühen sich verschafft hatten, durch ihre Üppigkeit wieder einbüssten. Und als Chusarthes, König der Assyrier, sie mit Krieg überzog, hatten sie in den Schlachten grosse Verluste; auch wurden viele nach harter Belagerung der Städte gefangen genommen. 181 Andere ergaben sich dem Könige aus Angst; sie mussten einen fast unerschwinglichen Tribut zahlen und acht Jahre lang alle mögliche Schmach erdulden. Nach Ablauf dieser Zeit aber wurden sie auf folgende Weise von ihrer Drangsal erlöst.

(3.) 182 Ein Mann aus dem Stamme Judas, mit Namen Hothniel, Sohn des Kenez, ein thatkräftiger und starkmütiger Mann, erhielt durch eine Verkündigung Gottes die Aufforderung, er solle nicht zulassen, dass die Israëliten weiterhin also bedrängt würden, sondern sie zu befreien suchen. Dieser fand darauf mit vieler Mühe einige wenige Kampfgenossen: denn es waren nur wenige, die sich des gegenwärtigen Zustandes schämten und sich nach Besserung ihrer Lage sehnten. 183 Nun machte er zunächst die Besatzung nieder, die Chusarthes in die Stadt gelegt hatte, und da er in seinem ersten Unternehmen so glücklich war, vermehrte sich bald die Zahl seiner Mitkämpfer. Bald darauf lieferte er den Assyriern ein Treffen, schlug sie sämtlich in die Flucht und zwang sie, über den Euphrat zu gehen. 184 Nachdem Hothniel so eine glänzende Probe seiner Tapferkeit gegeben, erhielt er vom Volke als Belohnung den Oberbefehl und den Auftrag, ihnen als Richter vorzustehen. Er starb nach einer Regierung von vierzig Jahren.

[284]
Viertes Kapitel.
Wie unser Volk in die Knechtschaft der Moabiter geriet und von Ehud befreit ward.

(1.) 185 Als nach seinem Tode die Macht der Israëliten wieder zu verfallen begann, da niemand das Volk regierte, und sie wieder in heftige Bedrängnis gerieten, weil sie weder Gott die schuldige Ehre noch den Gesetzen Gehorsam erwiesen, 186 griff sie der Moabiterkönig Eglon, der sie wegen ihrer zerrütteten Staatsverhältnisse geringschätzte, an und schlug sie in mehreren Treffen. Und als er diejenigen, die noch Widerstand leisteten, völlig unterjocht hatte, legte er dem Volke einen schweren Tribut auf. 187 Seinen Königssitz errichtete er in Jericho; das Volk aber quälte er auf alle mögliche Weise und liess es achtzehn Jahre lang im grössten Elend schmachten. Endlich erbarmte sich Gott der Not der Israëliten, erhörte ihre flehentlichen Bitten und befreite sie vom Joche der Moabiter. Das geschah folgendermassen:

(2.) 188 Ein Jüngling aus dem Stamme Benjamin mit Namen Ehud, Sohn des Geras, der ebenso mutig als von gewaltiger Körperstärke war (besonders geschickt war er mit der linken Hand, in der auch fast seine ganze Stärke beruhte), 189 wohnte in Jericho und verkehrte in der Umgebung des Königs Eglon, bei dem er durch Dienstleistungen sich besonders einzuschmeicheln wusste, weshalb er auch bei den Höflingen sehr beliebt war. 190 Als dieser einst in Begleitung zweier Diener dem Könige Geschenke brachte, verbarg er unter seinem Kleide am rechten Schenkel einen Dolch und trat also zum König. Es war aber im Sommer und um die Mittagszeit, da die Wächter teils wegen der Hitze, teils wegen der Mittagsmahlzeit ihren Dienst nur lässig zu versehen pflegten. 191 Als nun der Jüngling dem Könige die Geschenke überreicht hatte (dieser ruhte auf einem Pfühl[WS 1], der der Sommerzeit entsprechend in einer Laube stand), begann er mit ihm ein Gespräch. Sie waren jetzt beide allein, [285] weil der König, um mit Ehud zu reden, die Diener weggeschickt hatte. 192 Und da der König auf dem Pfühle sass, und Ehud fürchtete, er möchte ihn nicht richtig treffen und ihm nur eine ungefährliche Wunde beibringen, bewog er ihn zum Aufstehen, indem er ihm sagte, er müsse ihm auf Gottes Befehl einen Traum erzählen. 193 Als nun der König vor Freude über die zu erwartende Traumerzählung von seinem Lager aufsprang, stiess ihm Ehud den Dolch ins Herz und liess ihn in der Wunde stecken. Dann eilte er hinaus und schloss die Thür hinter sich zu. Die Diener aber glaubten, der König sei in Schlaf gefallen, und überliessen sich daher selbst der Ruhe.

(3.) 194 Ehud benachrichtigte sogleich die Bewohner Jerichos von dem Geschehenen und ermahnte sie, sich zu ihrer Befreiung anzuschicken. Diese nahmen die Nachricht freudig auf, eilten zu den Waffen und schickten Boten durch das ganze Land, die unter dem Schall von Widderhörnern das Ereignis bekannt machen sollten. Denn das war die althergebrachte Art, das Volk zusammenzurufen. 195 Die Diener des Eglon erfuhren lange nicht, was geschehen war. Als aber der Abend herankam, fürchteten sie doch, es möchte ihm etwas Ungewöhnliches zugestossen sein, und begaben sich in sein Gemach. Und da sie ihn tot vorfanden, waren sie völlig ratlos. Bevor aber die Besatzung sich versammeln konnte, wurde sie von den Israëliten in grosser Anzahl überfallen: 196 einige wurden auf der Stelle getötet, andere, deren mehr als zehntausend waren, wandten sich zur Flucht, um in das Land der Moabiter zu entkommen. Die Israëliten aber besetzten die Furt des Jordan, wo der Übergang sich bewerkstelligen liess, verfolgten sie und machten sie nieder, sodass nicht einer ihren Händen entkam. 197 So wurden die Hebräer aus der moabitischen Knechtschaft befreit. Ehud aber ward mit dem Oberbefehl über das ganze Volk betraut und starb, nachdem er diesen achtzig Jahre lang innegehabt hatte. Er war, auch abgesehen von der erwähnten, [286] herrlichen That, ein alles Lobes würdiger Mann. Nach ihm wurde Sanagar, der Sohn des Anath, zum Oberbefehlshaber gewählt, starb aber schon im ersten Jahre seiner Regierung.

Fünftes Kapitel.
Wie die Israëliten von den Chananäern in harter Knechtschaft bedrückt und von Barak und Debora daraus befreit wurden.

(1.) 198 Kaum aber waren die Israëliten, die aus dem bisherigen Unglück keine Lehre zogen und weder Gott verehrten noch den Gesetzen gehorchten, aus der moabitischen Knechtschaft befreit, als sie von Jabin, dem König der Chananäer, unterjocht wurden. 199 Dieser brach nämlich von der Stadt Asor, welche oberhalb des Semechonitischen Sees liegt, mit einem Heere von dreihunderttausend Fusssoldaten, zehntausend Reitern und dreitausend Wagen auf. Der Befehlshaber dieses Heeres, Sisares, der beim Könige in hoher Gunst stand, griff mit demselben die Israëliten an und brachte ihnen eine schwere Niederlage bei, sodass sie tributpflichtig wurden.

(2.) 200 Diese Herrschaft trugen sie zwanzig Jahre hindurch, und noch immer hatten sie durch ihr Unglück nichts gelernt. Deshalb wollte sie Gott um ihrer Frechheit und Undankbarkeit willen noch länger strafen. Als sie aber endlich zur Einsicht kamen, dass das Unheil nur die Folge ihrer Missachtung der Gesetze sei, wandten sie sich an eine Seherin mit Namen Debora 201 (dieser Name bedeutet im Hebraeischen „Biene“), sie möge zu Gott flehen, dass er sich ihres Loses erbarmen und sie nicht gänzlich von den Chananäern vernichten lassen wolle. Und Gott verhiess ihnen Erlösung und bestellte ihnen als Führer den Barak aus dem Stamme Nephthali. Barak bedeutet in hebraeischer Sprache „Blitz.“

(3.) 202 Debora beschied nun den Barak zu sich und trug ihm [287] auf, ein Heer von zehntausend auserlesenen Jünglingen gegen den Feind zu führen, denn diese Zahl werde genügen, weil Gott also verkündigt und ihnen damit den Sieg verheissen habe. 203 Da aber Barak erklärte, er werde das Heer nicht führen, wenn sie nicht den Oberbefehl mit ihm teile, sprach sie unwillig: „Du willst einem Weibe von der Ehre mitteilen, die Gott dir verliehen hat; doch lehne ich dieselbe nicht ab.“ Als sie nun zehntausend Mann gesammelt hatten, schlugen sie das Lager beim Berge Itabyrium auf. 204 Sisares zog ihnen auf Befehl des Königs entgegen und lagerte sich nicht weit vom Feinde. Da aber die Israëliten und Barak sich über die Menge der Feinde entsetzten und schon an Rückzug dachten, hielt Debora sie an und befahl ihnen, noch am selben Tage den Kampf zu beginnen: denn unter Gottes Hilfe und Beistand würden sie siegen.

(4.) 205 Also begann die Schlacht. Wie nun die Heere aufeinander gestossen waren, erhob sich ein gewaltiger Sturm, und es fiel Platzregen und Hagel. Der Wind aber trieb den Chananäern den Regen ins Gesicht und umhüllte ihre Augen mit Finsternis, sodass sie weder von Wurfspeeren noch von Schleudern Gebrauch machen konnten; die Schwerbewaffneten aber vermochten vor Erstarrung ihre Schwerter nicht zu halten. 206 Die Israëliten dagegen traf der Sturm auf dem Rücken und belästigte sie daher weniger; ja sie wurden dadurch noch mutiger, weil sie darin die Hilfe Gottes erkannten. So stürzten sie sich mitten unter die Feinde und bereiteten ihnen eine gewaltige Niederlage. Einige wurden von den Israëliten erschlagen, andere dagegen fielen, von ihrer eigenen Reiterei erschreckt, zu Boden, gerieten unter die Wagen und fanden so den Tod. 207 Als Sisares die Seinen sich zur Flucht wenden sah, sprang er von seinem Wagen und geriet auf der Flucht zu dem Weibe des Kenes namens Iale, die ihn auf sein Verlangen, ihn bei sich zu verbergen, aufnahm und ihm, als er zu trinken begehrte, verdorbene Milch reichte. 208 Als er diese gierig getrunken hatte, fiel er in einen tiefen Schlaf. Iale [288] aber trieb ihm mit einem wuchtigen Schlage einen eisernen Nagel durch beide Schläfen und nagelte ihn so am Boden an. Und als kurz darauf Baraks Soldaten kamen, zeigte sie ihnen den am Boden angenagelten Feind. 209 So kam der Sieg selbst, wie Debora geweissagt hatte, auf Rechnung eines Weibes. Barak aber zog mit dem Heere nach Asor, stiess auf den König Jabin, der ihm entgegenzog, tötete ihn und zerstörte die Stadt von Grund aus. Er regierte die Israëliten vierzig Jahre lang.

Sechstes Kapitel.
Wie die Israëliten von den Madianitern und anderen Völkern unterjocht und von Gedeon befreit wurden.

(1.) 210 Als aber Barak und Debora fast zur selben Zeit gestorben waren, überzogen die Madianiter, welche die Amalekiter und Araber zu Hilfe gerufen hatten, die Israëliten mit Krieg, schlugen sie, verbrannten ihre Feldfrüchte und schleppten reiche Beute davon. 211 Als sie das sieben Jahre lang getrieben hatten, verliessen die Israëliten die Ebenen und zogen sich ins Gebirge, gruben hier unterirdische Gänge und Höhlen und versteckten darin alles, was den Händen der Feinde noch entgangen war. 212 Denn die Madianiter machten stets im Sommer Kriegszüge, liessen die Israëliten im Winter das Feld bebauen und verwüsteten dann, was diese mit vieler Mühe zuwege gebracht hatten. So entstand aus Mangel an Lebensmitteln Hungersnot, weshalb sie sich mit der Bitte an Gott wandten, ihnen doch helfen zu wollen.

(2.) 213 Einst trug Gedeon, der Sohn des Joas, einer der wenigen aus dem Stamme Manasses, einige Garben Getreide nach Hause, um sie heimlich in der Kelter zu dreschen, denn er fürchtete sich der Feinde wegen, dies öffentlich auf der Tenne[3] zu thun. Da sah er eine [289] Erscheinung in Gestalt eines Jünglings, der sich glückselig und Gottes Liebling nannte. Gedeon entgegnete ihm, es sei wohl ein grosser Beweis von Gottes Güte, dass er die Kelter anstatt der Tenne gebrauchen müsse. 214 Der Jüngling aber hiess ihn gutes Mutes sein und sagte ihm, er solle es unternehmen, dem Volke die Freiheit wieder zu erringen. Gedeon aber antwortete, das sei unmöglich, denn sein Stamm sei zu gering an Zahl und er selbst noch zu jung, um an so etwas auch nur denken zu können. Gott aber verhiess ihm, er werde ihm das, was ihm mangele, ersetzen und den Israëliten den Sieg verleihen, wenn Gedeon sie nur führen wolle.

(3.) 215 Diesen Vorgang erzählte Gedeon einigen anderen Jünglingen und fand Glauben bei ihnen. Und in kurzer Zeit war ein Heer von zehntausend Mann gerüstet. Gott aber erschien dem Gedeon im Traum und sprach zu ihm, die Menschen seien so geartet, dass sie sich selbst zu sehr liebten und andere, die besonders tugendhaft seien, hassten, sodass sie nicht gern zugäben, sie hätten einen Sieg Gott zu verdanken, ihn vielmehr sich selbst und einem grossen wohlausgerüsteten Heere zuschrieben. 216 Damit sie nun erführen, dass der Sieg nur von göttlicher Hilfe abhänge, solle er das Heer, wenn die Hitze am grössten sei, an den Fluss führen, und diejenigen, die niederknieten und so trinken, solle er für tapfere Männer halten, die aber, die es mit Zögern und unruhig thun würden, solle er als furchtsam ansehen. 217 Als nun Gedeon, dem Befehle Gottes gehorchend, diesen Versuch machte, fanden sich dreihundert Männer, die das Wasser furchtsam und mit Zittern an den Mund brachten. Da befahl ihm Gott, mit diesen dreihundert solle er den Feind angreifen. Sie schlugen also das Lager am Jordan auf, den sie am folgenden Tage überschreiten wollten.

(4.) 218 Als nun Gedeon in grosser Furcht sich befand, da Gott ihm geboten hatte, die Feinde in der Nacht anzugreifen‚ wollte Gott ihm alle Angst benehmen und befahl ihm daher, er solle mit einem von den Kriegern [290] nahe an die Zelte der Madianiter sich heranschleichen; dort werde er bald Mut und Vertrauen gewinnen. 219 Gedeon ging, getreu dem Befehl, und nahm seinen Diener Phara mit sich. Als er nun in die Nähe eines der Zelte gelangt war, sah er darin einige Krieger, welche wachten, und hörte, wie einer von ihnen seinem Zeitgenossen einen Traum erzählte, den er genau vernehmen konnte. Damit verhielt es sich so. Jener hatte gemeint, einen Gerstenkuchen zu erblicken, der so schlecht war, dass er kaum genossen werden konnte. Dieser Kuchen rollte durch das Lager und stiess des Königs und aller Krieger Zelte um. 220 Der andere sagte, der Traum bedeute den Untergang des ganzen Heeres, indem er zugleich erörterte, worauf sich diese seine Deutung stütze. „Die Gerste,“ sagte er, „ist zweifellos die verächtlichste von den Körnerfrüchten. Die Israëliten aber sind auch jetzt die schlechteste von allen asiatischen Völkerschaften und daher mit der Gerste zu vergleichen. 221 Diejenigen nun, die unter den Israëliten die grösste Tapferkeit beweisen, sind Gedeon und seine Krieger. Da du aber sagst, du habest gesehen, dass der Kuchen unsere Zelte umstiess, so fürchte ich, dass Gott dem Gedeon den Sieg über uns verleihen wird.“

(5.) 222 Als Gedeon diesen Traum vernommen, fasste er Mut und Vertrauen und erzählte denselben auch den Seinigen; hierrauf befahl er ihnen, zu den Waffen zu greifen. Diese rüsteten sich sogleich zur Ausführung des Befehls, da auch sie durch die Traumerzählung Mut bekommen hatten, 223 und Gedeon teilte nun seine Truppen in drei Abteilungen, jede zu hundert Mann, und führte sie um die vierte Nachtwache gegen den Feind. Sie alle trugen leere Krüge und in diesen brennende Fackeln, damit ihr Anmarsch von den Feinden nicht bemerkt würde; in der rechten Hand aber hielten sie Widderhörner, deren sie sich anstelle der Posaunen bedienten. 224 Das Lager der Feinde bedeckte einen grossen Raum, denn sie hatten eine grosse Zahl Kamele, und sie lagen nach Völkerschaften geordnet ringsum im Kreise. 225 Den Hebräern [291] war nun befohlen worden, sie sollten, sobald sie nicht mehr weit vom Feinde entfernt wären, auf ein gegebenes Zeichen in die Hörner stossen, die Krüge zerbrechen und unter grossem Geschrei mit den Fackeln gegen die Feinde rennen. Sie würden dann den Sieg davontragen, den Gott dem Gedeon verleihen wolle. 226 Die Krieger befolgten den Befehl pünktlich; die Feinde aber erwachten aus dem Schlaf und gerieten in die grösste Verwirrung und Bestürzung, denn es war noch Nacht, wie Gott es gewollt hatte. Doch wurden ihrer nur wenige von den Israëliten getötet, da die meisten ihren eigenen Kampfgenossen erlagen wegen der grossen Verschiedenheit der Sprache‚ welche unter ihnen herrschte und die Verwirrung nur noch steigerte. Einmal aber in Verwirrung, hielten sie alle, die ihnen begegneten, für Feinde und machten sie nieder. So entstand ein grosses Blutbad. 227 Sobald nun die Israëliten von diesem Siege Gedeons gehört hatten, griffen auch sie zu den Waffen, verfolgten die fliehenden Feinde und erreichten sie in einer thalartigen, von wildströmenden Giessbächen umflossenen Gegend, in der sie nicht vor- noch rückwärts konnten. Und sie machten alle nieder samt den beiden Königen Oreb und Zeb. 228 Als nun die anderen Feldherren den übrigen Teil des Heeres, gegen achtzehntausend Mann, weiterführten und in ziemlicher Entfernung von den Israëliten ihr Lager aufschlugen, verfolgte sie Gedeon, der trotz seiner Anstrengungen noch nicht ermüdet war, mit dem ganzen Heere, machte sie alle nieder und nahm die beiden noch übrigen Führer Zebes und Salmanas gefangen. 229 In dieser Schlacht fielen von den Madianitern und den ihnen zu Hilfe geeilten Arabern gegen hundertzwanzigtausend Mann, und eine reiche Beute an Gold, Silber, Geweben, Kamelen und anderem Vieh fiel in die Hände der Sieger. Gedeon aber tötete, als er in seine Heimat Ephran zurückkehrte, auch noch die Könige der Moabiter.

(6.) 230 Übrigens war der Stamm Ephraïm sehr ärgerlich über Gedeons Kriegsglück und beschloss daher, ihn mit [292] Krieg zu überziehen unter dem Vorwand, er habe die Feinde angegriffen, ohne sich mit ihnen vorher darüber zu verständigen. Gedeon aber, ein bescheidener und edler Mann, antwortete ihnen, er habe den Feind nicht aus eigenem Antriebe, sondern auf Gottes Geheiss angegriffen, und dann komme ja auch der Sieg ihnen ebenso sehr zu statten als denen, die ihn errungen hätten. 231 Mit diesen Worten besänftigte er ihren Zorn und erwarb sich dadurch ein noch grösseres Verdienst als durch seine Kriegsthaten, denn er verhütete auf diese Weise den Bürgerkrieg. Übrigens büsste jener Stamm später noch für seine Frechheit, wie ich zu gelegener Zeit berichten werde.

(7.) 232 Gedeon wollte hierauf die Regierung niederlegen, doch drängte man ihn, sie noch vierzig Jahre zu behalten. Er fungierte als Richter und entschied alle Streitigkeiten, die man vor ihn brachte, und alle seine Aussprüche wurden als unanfechtbar anerkannt. Als er im hohen Greisenalter gestorben war, bestattete man ihn in seiner Heimat bei Ephran.

Siebentes Kapitel.
Wie von Gedeons Nachfolgern viele mit den umliegenden Völkerschaften langwierige Kriege führten.

(1.) 233 Gedeon hatte siebzig eheliche Söhne, denn er besass viele Eheweiber; ausserdem hatte er einen unehelichen Sohn Abimelech von seinem Kebsweibe Druma. Dieser zog nach seines Vaters Tode zu den Verwandten seiner Mutter nach Sikim (dort war sie zu Hause), erhielt von ihnen, die sich in Schlechtigkeiten hervorthaten, Geld, 234 kehrte mit ihnen in sein Vaterhaus zurück und tötete hier alle seine Brüder bis auf Joatham, der ihm glücklich durch die Flucht entkam. Abimelech führte dann eine tyrannische Herrschaft, hielt das für gesetzmässig, was ihm zu thun beliebte, [293] und verfolgte hartnäckig alle Verfechter der guten Sache.

(2.) 235 Als einst in Sikim ein Festtag war, und alles Volk dahin zusammenströmte, stieg sein Bruder Joatham, der, wie oben erwähnt, geflohen war, auf den Gipfel des Berges Garizin, der sich über Sikim erhebt, und rief mit lauter, weithin vernehmbarer Stimme, man möge still sein und auf seine Worte hören. 236 Als Ruhe eingetreten war, fing er an zu erzählen: „Einst, als die Bäume noch menschliche Stimmen hatten, kamen sie zusammen und baten den Feigenbaum, dass er über sie herrschen möge. Da dieser aber die Ehre zurückwies, weil er sich mit der Ehre begnügen wolle, die ihm seine Früchte brächten – kein anderer Baum nämlich vermöge solche zu erzeugen –, standen die Bäume gleichwohl von ihrem Vorhaben, einen aus ihnen zum Herrscher zu wählen, nicht ab und beschlossen deshalb, dem Weinstock die Würde anzubieten. 237 Der aber schlug die Wahl mit denselben Worten wie der Feigenbaum aus, und als auch der Ölbaum in gleicher Weise sich weigerte, forderten die Bäume den Dornstrauch, dessen Holz sich vorzüglich als Brennholz eignet, auf, die Herrschaft zu übernehmen. 238 Dieser sagte auch zu und versprach, dieselbe eifrig zu führen. Sie sollten, sagte er, in seinem Schatten ruhen; wofern sie ihm aber Verderben bereiten wollten, werde er Feuer auf sie werfen und sie zu Grunde richten.“ 239 „Das habe ich euch‚“ fuhr Joatham fort, „nun nicht etwa als Scherz erzählt, sondern darum, weil ihr, die ihr von Gedeon so viele Wohlthaten erhalten habt, es ruhig geschehen lasst, dass Abimelech die Herrschaft inne hat, und weil ihr euch mitschuldig an seinen brudermörderischen Thaten gemacht habt, da sich doch seine Sinnesart in nichts vom Feuer unterscheidet.“ Als er so geredet, floh er wieder und verbarg sich aus Furcht vor Abimelech drei Jahre lang im Gebirge.

(3.) 240 Nicht lange nach dem Fest bereuten die Sikimiter, dass sie die Ermordung der Söhne Gedeons hatten [294] geschehen lassen, und vertrieben den Abimelech aus der Stadt und dem Stamme. Dieser sann aber mit den Seinigen auf Rache. Als daher die Zeit der Ernte herankam, fürchteten sie sich des Abimelech wegen, aufs Feld zu gehen. 241 Da aber um diese Zeit gerade ein Stammeshäuptling Gaal mit seinen Verwandten und einer Schar von Bewaffneten bei ihnen weilte, baten sie ihn während der Ernte um seinen Schutz. Als dieser sich hierzu bereit erklärte, zogen sie mit ihm und seinen Kriegern aufs Feld, 242 ernteten in Ruhe ihre Früchte, hielten darauf ein Gastmahl und scheuten sich nicht, den Abimelech offen zu schmähen; die Truppenführer aber legten Hinterhalte um die Stadt, fingen viele von Abimelechs Kriegern auf und töteten sie.

(4.) 243 Ein gewisser Zebul aber, einer von den Vornehmsten der Sikimiter und Freund des Abimelech, liess diesem durch Boten sagen, wie Gaal das Volk gegen ihn aufhetze, und riet ihm zugleich, er solle sich vor der Stadt auf die Lauer legen. Gaal werde sich wohl von ihm (Zebul) beschwätzen lassen, gegen ihn auszurücken, und so werde er, ihn in seine Gewalt bekommen und Rache nehmen können. Wenn dies geschehen sei, verspreche er ihm, dass das Volk sich wieder mit ihm aussöhnen werde. 244 Abimelech legte sich mit den Seinigen in den Hinterhalt, Gaal aber hielt sich sorglos in der Vorstadt auf, und bei ihm war Zebul. Als nun Gaal Bewaffnete auf sich zukommen sah, rief er dem Zebul zu, es zögen Krieger auf sie an. 245 Der aber entgegnete, das seien nur Schatten von Felsen. Als sie aber noch näher kamen, und man sie deutlich erkennen konnte, rief Gaal, das seien keine Schatten, sondern bewaffnete Männer. Da erwiderte ihm Zebul: „Hast du dem Abimelech nicht Feigheit vorgeworfen? Warum zeigst du also nicht, dass du ein Mann bist, und kämpfst mit ihm?“ 246 Gaal, hierüber bestürzt, liess sich mit Abimelech in ein Handgemenge ein, und es fielen einige von den Seinigen. Darauf zog er sich mit den übrigen in die Stadt zurück. Inzwischen suchte Zebul [295] in der Stadt dahin zu wirken, dass man den Gaal vertreiben möchte, indem er ihn beschuldigte, er habe sich im Kampf mit den Kriegern des Abimelech zaghaft und feige benommen. 247 Da übrigens Abimelech erfahren hatte, die Sikimiter würden wieder zur Ernte aufs Feld gehen, legte er sich vor der Stadt in den Hinterhalt. Und als sie aus der Stadt heraus waren, liess er den dritten Teil seines Heeres die Thore besetzen, um den Bürgern den Rückweg abzuschneiden; die übrigen aber zerstreuten die Sikimiter, verfolgten sie und machten sie allenthalben nieder. 248 Die Stadt ergab sich ohne Belagerung, und Abimelech zerstörte sie, machte sie dem Erdboden gleich, streute Salz auf ihre Trümmer und zog dann in geschlossenem Zuge weiter. So kamen alle Sikimiter ums Leben. Diejenigen aber, die der Gefahr entronnen waren und sich in der Umgegend zerstreut hatten, scharten sich zusammen, setzten sich auf einem unzugänglichen Felsen fest und nahmen noch die Errichtung einer Mauer rings um denselben in Angriff. 249 Als aber Abimelech von diesem Vorhaben Kunde erhielt, kam er ihnen zuvor und führte alle seine Truppen dahin, nahm selbst ein Bündel dürres Holz, befahl seinem Heer, ein Gleiches zu thun und liess den ganzen Ort damit umgeben. Und als er so in kurzer Zeit rings um den Felsen Holz aufgehäuft hatte, warf er Feuer und leicht brennbare Stoffe hinein und erregte einen gewaltigen Brand. 250 Niemand aber von denen, die auf den Felsen geflüchtet waren, entkam, sondern alle fünfzehnhundert Männer kamen nebst Weibern und Kindern um, und von den übrigen ebenfalls eine grosse Anzahl. Ein so schreckliches Unglück traf die Sikimiter, und es wäre die Trauer darüber wohl noch grösser gewesen, wenn sie es nicht als Strafe für das Böse angesehen hätten, das sie einem so hochverdienten Manne wie Gedeon zugefügt hatten.

(5.) 251 Abimelech aber, der durch die Vernichtung der Sikimiter den Israëliten gewaltigen Schrecken eingejagt hatte, machte kein Hehl daraus, dass er noch [296] Grösseres beabsichtige und nicht eher in seiner Gewaltthätigkeit nachlassen werde, bis er sie sämtlich der Vernichtung preisgegeben habe. Er zog daher gegen Theben und nahm die Stadt in plötzlichem Ansturm. 252 Weil aber daselbst ein starker Turm sich befand, in den alles Volk geflüchtet war, wollte er auch diesen angreifen. In dem Augenblick jedoch, da er mit Ungestüm gegen dessen Thor anrannte, warf ihm ein Weib ein Stück von einer Mühle[4] auf den Kopf. Abimelech stürzte zu Boden und flehte seinen Waffenträger an, ihn vollends zu töten, damit man nicht sagen könne, er sei von einem Weibe umgebracht worden. 253 Dieser vollzog den Befehl, und so erlitt Abimelech die Strafe für den Brudermord und für seine Frevelthaten gegen die Sikimiter, wie sie Joatham ihm vorhergesagt hatte. Nach dem Tode Abimelechs zerstreuten sich seine Krieger und kehrten in ihre Heimat zurück.

(6.) 254 Danach übernahm die Regierung der Israëliten Jaïres aus Galad vom Stamme Manasses, ein im allgemeinen und auch besonders noch deshalb glücklicher Mann, weil er dreissig tapfere Söhne hatte, die ausgezeichnete Reiter waren und in den galadenischen Städten die Posten von Präfekten bekleideten. Jaïres starb nach zweiundzwanzigjähriger Regierung in hohem Alter und ward begraben in der galadenischen Stadt Kamon.

(7.) 255 Hierauf gerieten die Hebräer wieder in Verfall und verachteten Gottes Gesetze. Daher blickten die Ammaniter und Palaestiner mit Geringschätzung auf sie und verwüsteten ihr Land mit einem grossen Heere. Und nachdem sie die Gegenden jenseits des Jordan besetzt hatten, schickten sie sich an, über den Fluss zu gehen und auch noch das übrige Land zu erobern. 256 Die Hebräer aber fingen an, durch ihr Missgeschick klug zu werden, opferten Gott und baten ihn unter heissem [297] Flehen, er möge von seinem Zorn ablassen, seine Strenge mildern und ihre Bitten gnädig erhören. Gott liess sich denn auch erweichen und versprach ihnen Hilfe.

(8.) 257 Als nun die Ammaniter in das galadenische Gebiet eingefallen waren, zogen ihnen die Bewohner des Landes nach dem Gebirge zu entgegen, jedoch ohne Führer. Es lebte aber damals ein gewisser Jephthes, der einem alten edlen Geschlechte entstammte und auf eigene Kosten ein Heer unterhielt. 258 An diesen wandten sich die Hebräer und baten ihn um Hilfe, versprachen ihm auch, sie wollten sich dafür seiner Herrschaft unterwerfen, so lange er lebe. Er schlug ihnen indes ihre Bitte ab und warf ihnen vor, sie hätten auch ihm keine Hilfe geleistet, als er von seinen Brüdern das offenbarste Unrecht zu erdulden gehabt habe. 259 Weil er nämlich nicht ihr leiblicher Bruder war, sondern von einem fremden Weib stammte, das ihr Vater aus grosser Liebe bei sich aufgenommen hatte, hatten sie ihn schmählich aus dem Hause vertrieben. 260 Und seitdem wohnte er in Galad und nahm alle, die ihm zuliefen, in seinen Sold. Endlich liess er sich aber doch durch ihre Bitten erweichen, und nachdem sie ihm eidlich zugesagt hatten, sie wollten sich seiner lebenslänglichen Oberherrschaft unterwerfen, machte er seine Mannschaft kampffähig.

(9.) 261 Als Jephthes schleunigst alles Notwendige besorgt hatte, legte er seine Streitmacht in die Stadt Masphath und schickte an den König der Ammaniter Gesandte, die sich über dessen Raubzüge beschweren sollten. Dieser aber ordnete seinerseits Gesandte ab und warf den Israëliten ihren Auszug aus Aegypten vor, forderte auch, sie sollten das Land Amoraea räumen, das früher seinen Vorfahren gehört habe. 262 Jephthes jedoch liess ihm sagen, er beschuldige die Israëliten ohne Grund, dass ihre Vorfahren Amoraea in Besitz genommen hätten; er müsse ihnen vielmehr dafür danken, dass sie das Land der Ammaniter verschont hätten, denn Moyses habe es in seiner Gewalt gehabt, auch dieses zu nehmen. Da der König aber verlange, die Israëliten sollten das Land aufgeben, [298] das sie nun schon über dreihundert Jahre durch Gottes Güte besässen, so möge er sich merken, dass sie es fest behaupten und es auf einen Kampf ankommen lassen wollten.

(10.) 263 Nach diesen Worten entliess er die Gesandten, bat Gott um Verleihung des Sieges und gelobte, er werde, wenn er wohlbehalten zurückkehre, das erste, das ihm begegne, Gott opfern. Dann traf er mit den Feinden zusammen, besiegte sie, tötete viele und verfolgte die übrigen bis zur Stadt Maliath. Darauf drang er in das Gebiet der Ammaniter ein, zerstörte viele Städte, machte glänzende Beute und befreite sein Volk von der Knechtschaft, in der es achtzehn Jahre lang geschmachtet hatte. 264 Als er dann aber nach Hause kam, stiess ihm ein Unglück zu, das zu seinem glücklichen Feldzuge gar nicht passte: denn es begegnete ihm zuerst seine einzige jungfräuliche Tochter. In der Grösse seines Schmerzes stöhnte er schwer auf und schalt seine Tochter, dass sie solche Eile gehabt, ihm entgegenzugehen: jetzt nämlich müsse er sie seinem Gelöbnis zufolge Gott opfern. 265 Sie aber vernahm ihr bevorstehendes Schicksal mit Freuden, da sie für den Sieg ihres Vaters und die Freiheit ihres Volkes gern ihr Leben hingehen wollte. Sie erbat sich nur noch eine Frist von zwei Monaten, um mit ihren Mitbürgern ihre Jugend zu beweinen, dann sei sie bereit, das Gelöbnis zu erfüllen. 266 Er bewilligte ihr diese Frist, und als sie um war, brachte er seine Tochter als Brandopfer dar. Doch handelte er damit weder im Sinne des Gesetzes, noch nach dem Willen Gottes; auch dachte er nicht an die Zukunft noch daran, was diejenigen über die That denken würden, die davon Kunde erhielten.

(11.) 267 Der Stamm Ephraïm aber drohte ihm hierauf mit Krieg, weil er sie von dem Feldzuge gegen die Ammaniter ausgeschlossen und Beute wie Kriegsruhm für sich allein behalten habe. Er aber entgegnete ihnen, es sei ihnen doch nicht unbekannt gewesen, dass ihre Blutsverwandten in Kriegsgefahr geschwebt hätten; [299] auch seien sie nicht zur Hilfeleistung gekommen, obgleich man sie darum ersucht habe, und sie hätten doch eigentlich ungebeten sogleich herbeieilen müssen. 268 Dann gab er ihnen zu erwägen, wie unrecht sie handelten, da sie ihre Freunde angreifen wollten, obgleich sie mit den Feinden zu kämpfen nicht gewagt hätten. Endlich drohte er ihnen, er werde sie, sofern sie nicht zur Vernunft kommen wollten, nach dem Willen Gottes energisch bestrafen. 269 Da er jedoch mit Worten nichts bei ihnen ausrichtete, zog er sein Heer aus Galad an sich, marschierte gegen sie und brachte ihnen eine grosse Niederlage bei. Dann verfolgte er die Flüchtigen, liess die Furt des Jordan besetzen und tötete zweiundvierzigtausend von ihnen.

(12.) 270 Er starb nach einer Regierung von sechs Jahren und ward begraben in seiner Heimat Sebe, einer Stadt im Galadenerlande.

(13.) 271 Nach dem Tode Jephthes’ erhielt die Regierung Apsan aus dem Stamme Judas und der Stadt Bethleëm. Er hatte sechzig Kinder, dreissig Söhne und ebensoviele Töchter, die bei seinem Tode alle noch am Leben und alle verheiratet waren. Etwas Erwähnenswertes hat er in seiner siebenjährigen Regierungszeit nicht geleistet. Er starb in hohem Alter und ward in seiner Vaterstadt begraben.

(14.) 272 Nach dem Tode Apsans regierte Eleon aus dem Stamme Zabulon zehn Jahre lang; auch er hat in dieser Zeit nichts Bemerkenswertes geleistet.

(15.) 273 Von seinem Nachfolger Abdon, dem Sohne des Hellel aus dem Stamme Ephraïm, der aus der Stadt der Pharathoniter gebürtig war, weiss man auch nichts anderes, als dass er gute Kinder hatte. Denn da er in einer Zeit der Ruhe und des Friedens lebte, hatte er keine Gelegenheit zu glänzenden Kriegsthaten. 274 Er hatte vierzig Söhne und von diesen dreissig Enkel; mit ihnen, die alle siebzig vortreffliche Reiter waren, pflegte er sich in Reiterkünsten zu üben. Sie waren alle noch am [300] Leben, als er in hohem Alter starb. Er wurde mit grosser Pracht in Pharathon beigesetzt.

Achtes Kapitel.
Von Samsons Tapferkeit, und welches Leid er den Palaestinern zufügte.

(1.) 275 Nach Abdons Tod besiegten die Palaestiner die Israëliten und erhoben vierzig Jahre lang Tribut von ihnen. Aus dieser harten Bedrängnis wurden sie folgendermassen befreit.

(2.) 276 Ein gewisser Manoch, ein vornehmer Daniter und ohne Frage der Bedeutendste in seinem Vaterlande, besass ein ausserordentlich schönes Weib, die alle ihre Altersgenossinnen an Statur übertraf. Er hatte jedoch von ihr keine Kinder, worüber er sich sehr grämte, weshalb er oft mit ihr aus der Stadt hinausging und Gott bat, er möge ihnen doch eheliche Kinder bescheren. 277 Da er nun in seine Frau sterblich verliebt war, wurde er auch von heftiger Eifersucht geplagt. Als die Frau einst allein zu Hause war, erschien ihr ein Engel Gottes in Gestalt eines schlanken und schönen Jünglings und brachte ihr die frohe Nachricht, sie werde durch Gottes Fürsorge einen schönen und starken Sohn gebären, der, sobald er seine Manneskraft erlangt habe, die Palaestiner niederwerfen werde. 278 Zugleich ermahnte er sie, dem Knaben nicht das Haar zu schneiden und ihn an kein anderes Getränk als Wasser zu gewöhnen, da Gott es so wolle. Nach diesen Worten verschwand er, wie er nach Gottes Willen gekommen war.

(3.) 279 Als ihr Mann zurückkehrte, erzählte sie ihm, was sie von dem Engel vernommen hatte, auch beschrieb sie ihm seine Schönheit und seinen schlanken Wuchs, sodass er ob dieser Lobrede eifersüchtig wurde und Verdacht gegen sie zu schöpfen begann. 280 Da sie nun ihren Mann von diesem widersinnigen Kummer befreien wollte, bat [301] sie Gott flehentlich, er möge doch den Engel noch einmal senden, damit auch ihr Mann ihn sehen könne. Gott gewährte die Bitte gnädig, und so erschien ihnen der Engel, als sie vor der Stadt sich ergingen; doch kam er gerade, als ihr Mann sie eben etwas verlassen hatte. Sie bat ihn nun, er möge doch ein wenig verweilen, bis sie ihren Mann herbeigeholt habe. Und da er zusagte, rief sie den Manoch herbei. 281 Als dieser den Engel erblickt hatte, konnte er immer noch seinen Verdacht nicht loswerden; deshalb bat er ihn, er möge auch ihm das mitteilen, was er seiner Frau verkündigt habe. Und da der Engel ihm entgegnete, es müsse ihm genügen, dass er es seiner Gattin allein verkündet habe, wünschte Manoch zu wissen, wer er sei, damit er nach der Geburt des Sohnes ihm seinen Dank abstatten und ihm etwas zum Geschenk machen könne. 282 Der Engel aber antwortete, er bedürfe nichts dergleichen, und er habe ihm auch die frohe Botschaft von der Geburt eines Sohnes nicht etwa deshalb gebracht, um von ihm beschenkt zu werden. Nun beschwor ihn Manoch, er möge doch noch etwas verweilen, damit er ihn bewirten könne. Auch das schlug der Engel zuerst ab, gab aber dann nach und blieb. 283 Manoch schlachtete darauf sogleich einen Bock und befahl seiner Gattin, ihn gehörig zuzubereiten. Als nun alles fertig war, hiess der Engel ihn das Brot und Fleisch ohne die Gefässe auf einen Fels setzen, und nachdem das geschehen, berührte er mit einem Stabe, den er bei sich trug, das Fleisch. 284 Und sogleich brach Feuer aus und verzehrte das Fleisch samt dem Brote; der Engel aber fuhr auf dem Rauche wie auf einem Wagen vor ihren Augen gen Himmel. Da erschrak Manoch gewaltig und befürchtete Gefahr, weil sie Gott gesehen hätten. Das Weib aber hiess ihn sich ermannen: denn dass sie Gott geschaut, werde ihnen nur zum Segen gereichen.

(4.) 285 Das Weib aber wurde schwanger und beobachtete alles, was ihr vorgeschrieben worden war. Und der Knabe, den sie gebar, wurde Samson genannt, das heisst [302] „der Tapfere.“ Er wuchs schnell heran, und da er mässig lebte und das Haar nicht scheren liess, schien er ein Prophet werden zu sollen.

(5.) 286 Als nun Samson einst mit seinen Eltern nach Thamna, einer Stadt der Palaestiner, zu einem Feste ging, wurde er dort von Liebe zu einer Jungfrau des Landes ergriffen und bat seine Eltern, ihm das Mädchen zur Ehe zu geben. Diese schlugen ihm zunächst seine Bitte ab, weil das Mädchen nicht aus ihrem Geschlechte stammte; da aber Gott zum Nutzen der Hebräer diese Heirat ersonnen hatte, erreichte Samson endlich die Erfüllung seines Wunsches. 287 Da er nun öfters die Eltern des Mädchens besuchte, geschah es, dass er einst unterwegs einem Löwen begegnete, und obwohl er waffenlos war, nahm er es doch mit ihm auf, erdrosselte ihn mit blossen Händen und warf ihn neben dem Wege in eine Schlucht.

(6.) 288 Ein anderes Mal, als er zu dem Mädchen ging, traf er einen Bienenschwarm, der in dem Brustkasten des Löwen Zellen gebaut hatte. Davon nahm er drei Scheiben Honig und schenkte sie nebst anderen Gegenständen, die er bei sich trug, dem Mädchen. 289 Als er nun Hochzeit feierte, gaben ihm die Thamniter, die er alle zum Mahle geladen hatte, dreissig kräftige Jünglinge bei, dem Scheine nach als Zechgenossen, in Wirklichkeit aber, um ihn zu bewachen, dass er keine Tollkühnheit begebe. Da sie nun stark gezecht hatten und anfingen, lustig zu werden, wie das bei solchen Festlichkeiten üblich ist, 290 sprach Samson: „Wohlan, wenn ihr mir das Rätsel, das ich euch jetzt gebe, in sieben Tagen löst, so sollt ihr als Belohnung jeder ein Stück Leinen und ein Kleid von mir erhalten.“ Die Jünglinge, die gleichzeitig gern sich witzig gezeigt hätten und auch nach dem Preise lüstern waren, forderten ihn auf, das Rätsel kundzugeben. Das that er mit diesen Worten: „Etwas, das alles verschlingt, giebt liebliche Speise von sich, wenn es auch selbst nichts weniger als lieblich ist.“ 291 Drei Tage lang dachten sie über das Rätsel nach, konnten aber seine Lösung nicht finden und baten deshalb die [303] Braut, sie solle von Samson die Bedeutung zu erforschen suchen; ja sie drohten ihr, sie würden sie ins Feuer werfen, wenn sie es nicht thäte. Als nun die Braut den Samson bat, ihr die Lösung mitzuteilen, wollte dieser anfangs nicht; 292 da sie aber heftiger in ihn drang und unter Thränen ihm vorwarf, jetzt habe sie den Beweis, dass er sie nicht liebe, weil er ihr die Lösung vorenthalte, erklärte er ihr, wie er den Löwen erwürgt, die Bienen in seiner Brust gefunden und ihr drei Honigscheiben davon mitgebracht habe. 293 So offenbarte er ihr die Lösung, ohne etwas dabei zu argwöhnen; sie aber verriet dieselbe sogleich den Jünglingen. Als diese nun am siebenten Tage, an dem sie die Lösung haben mussten, vor Sonnenuntergang zusammenkamen, sagten sie zu Samson: „Es giebt nichts, das weniger lieblich wäre als ein Löwe, und nichts Lieblicheres als Honig.“ 294 Samson aber fügte hinzu: „Und nichts Hinterlistigeres als ein Weib, das euch meine Worte hinterbracht hat.“ Doch gab er ihnen, was er versprochen hatte, denn er hatte einige Askaloniter, die auch zu den Palaestinern gehören, auf dem Wege ausgeraubt. Dann ging er von der Hochzeit weg. Die Jungfrau aber, die ihn wegen seines Zornes verächtlich behandelte, heiratete einen seiner Freunde, welcher der Vermittler der ersten Verbindung gewesen war.

(7.) 295 Samson, den diese Schmach sehr kränkte, beschloss, sich an dem Weibe und allen Palaestinern zu rächen. Und da gerade Sommer war, und die Früchte der Ernte entgegenreiften, fing er dreihundert Füchse, band brennende Fackeln an ihre Schwänze, jagte sie in die Äcker der Palaestiner und verdarb so deren ganze Ernte. 296 Als diese erfuhren, dass Samson der Anstifter des Streiches sei, schickten sie, da sie wussten, was ihn dazu bewogen hatte, einige Vornehme nach Thamna und liessen sein früheres Weib und deren Angehörige als Urheber des Unglückes verbrennen.

(8.) 297 Nachdem nun Samson viele Palaestiner in der Ebene umgebracht hatte, hauste er auf dem Aeta, einem [304] im Stamme Judas gelegenen starken Felsen. Die Palaestiner aber zogen deshalb mit einem Heere gegen den Stamm. Und als die Stammesgenossen geltend machten, dass sie unverdient für Samsons Frevel mitbüssen müssten, zumal sie doch ihren Tribut pünktlich entrichtet hätten, erhielten sie zur Antwort: wenn sie für unschuldig gelten wollten, sollten sie den Samson ausliefern. 298 Um nun von Weiterungen verschont zu sein, zogen sie mit dreitausend Bewaffneten zu dem Felsen, beklagten sich bei Samson wegen der Frevel, welche er gegen die Palaestiner verübt, die hierfür das ganze Hebräervolk vernichten könnten, und erklärten ihm, sie seien gekommen, um ihn festzunehmen und den Palaestinern auszuliefern; er solle sich also dem gutwillig unterziehen. 299 Er liess sie darauf schwören, dass sie weiter nichts gegen ihn im Schilde führten, als ihn auszuliefern; dann stieg er vom Felsen herab und gab sich in die Hände seiner Stammesgenossen‚ die ihn mit zwei Stricken banden und ihn den Palaestinern zuführten. 300 Als sie nun an einen Ort gekommen waren, der noch heute von der herrlichen That, die Samson dort vollbrachte, „Kinnlade“ genannt wird, damals aber keinen besonderen Namen hatte, kamen ihnen die Palaestiner, die nicht weit davon ihr Lager hatten, mit fröhlichem Jubel entgegen, als wenn nun ihre Wünsche ganz erfüllt wären. Samson aber zerriss die Stricke, ergriff die Kinnlade eines Esels, die gerade zu seinen Füssen lag, stürzte sich auf die Feinde und schlug mit der Kinnlade ungefähr tausend von ihnen tot; die anderen wandten sich entsetzt zur Flucht.

(9.) 301 Samson aber wurde durch diese That übermütiger als billig, und schrieb dieselbe nicht der Hilfe Gottes, sondern seiner eigenen Kraft zu. Auch rühmte er sich, dass er die Feinde zum Teil erschlagen, zum Teil in die Flucht getrieben habe. 302 Als er aber darauf von heftigem Durst geplagt wurde, erkannte er, dass alle menschliche Kraft schwach sei, und Gott allein alles vermöge, und bat ihn flehentlich, er möge ihm wegen seiner Reden nicht zürnen und ihn nicht in die Gewalt seiner [305] Feinde geben, vielmehr ihn aus der gegenwärtigen Not befreien. 303 Gott erhörte sein Gebet und liess eine süsse und wasserreiche Quelle aus einem Felsen entspringen. Samson nannte diesen Ort „Kinnlade,“ und so heisst er noch heute.

(10.) 304 Nach diesem Kampfe verachtete Samson die Palaestiner, ging nach Gaza und kehrte dort in einer Herberge ein. Als das die Vornehmen der Gazäer erfuhren, besetzten sie den Platz vor dem Thore mit Wachen, damit er ihnen nicht entwischen könne. 305 Samson aber, der ihre Absicht wohl gemerkt hatte, stürzte sich wütend auf das Thor, hob es samt Pfosten, Querbalken und dem ganzen hölzernen Zubehör auf und trug es auf seinen Schultern nach einem Berge, der in der Nähe von Chebron liegt.

(11.) 306 Später aber fiel er von den Gebräuchen seiner Väter ab, führte ein schlechtes Leben und äffte die Gewohnheiten fremder Völker nach, was gewöhnlich der Anfang alles Übels ist. Er liebte eine Buhldirne Namens Dalila und lebte mit ihr. 307 An diese machten sich nun die Vorsteher der Palaestiner heran und suchten sie durch grosse Versprechungen zu beschwätzen, dass sie von Samson erforschen möge, was die Ursache seiner gewaltigen Stärke sei, die ihn unüberwindlich mache. Sie ging darauf ein, und als Samson einst bei ihr zechte und ihren vertrauten Umgang genoss, bewunderte sie seine Heldenthaten und suchte zu erfahren, warum er eine so grosse Stärke besitze. 308 Samson aber, der seines Geistes noch mächtig war, setzte List gegen List und sagte, wenn man ihn mit Rebzweigen binde, die sich noch biegen liessen, so werde er schwächer als alle anderen sein. 309 Mit dieser Antwort war sie zufrieden, und nachdem sie die Vorsteher der Palaestiner verständigt hatte, versteckte sie einige Krieger bei sich. Als nun Samson berauscht und in Schlaf gefallen war, band sie ihn mit den Rebzweigen, so fest sie konnte; dann weckte sie ihn und schrie ihm zu, die Feinde bedrohten ihn. 310 Er aber zerriss die Rebzweigenfesseln und [306] rüstete sich zur Wehr, falls man ihn angreifen wolle. Da er nun häufig mit dem Weibe verkehrte, beklagte sie sich einst, dass er so misstrauisch sei und ihr nicht sagen wolle, was sie so gern wissen möchte, gerade als ob sie das nicht geheim zu halten verstehe, dessen Ausplauderung ihm schaden könne. 311 Samson aber täuschte sie wiederum, indem er ihr sagte, wenn er mit sieben Stricken gefesselt werde, so werde seine Kraft von ihm weichen. Als das wieder keinen Erfolg gehabt hatte, erklärte er ihr das dritte Mal, man müsse ihm seine Haare flechten. 312 Und da auch das sich als trügerisch erwies, bestürmte sie ihn noch heftiger mit Bitten, sodass sich Samson endlich (es war ihm nämlich bestimmt, dass er in sein Unglück geraten sollte), um die Gunst der Dalila wiederzuerlangen, bereden liess und ihr kundthat: „Gott selbst, durch dessen Fürsorge ich geboren bin, hat befohlen, dass mein Haar wachsen gelassen und nicht geschoren werde. So lange solle ich meine Kräfte behalten und sie sogar noch vermehren, als ich meine Haare wachsen lassen und erhalten würde.“ 313 Als sie so endlich den wahren Grund erfahren hatte, schnitt sie ihm heimlich das Haar ab und überlieferte ihn seinen Feinden, denen er jetzt ohnmächtig preisgegeben war. Diese blendeten ihn und liessen ihn gefesselt wegführen.

(12.) 314 Im Laufe der Zeit aber wuchs ihm das Haar wieder, und als die Palaestiner einst ein öffentliches Fest begingen, und ihre Vorsteher und Vornehmsten in einem Hause, dessen Dach von zwei Säulen getragen wurde, schmausten, liessen sie den Samson holen, um beim Zechgelage mit ihm ihren Spott zu treiben. 315 Dieser aber, der es für das schlimmste aller Übel hielt, dass er so zum Gespötte dienen musste und sich nicht rächen konnte, sagte dem Knaben, der ihn an der Hand führte, er solle ihn an die Säulen leiten, da er ermüdet sei und etwas ausruhen wolle. 316 Kaum war er dort angelangt, als er sich mit aller Kraft auf die Säulen warf, sie umstürzte und das ganze Haus wanken machte. So fanden dreitausend Menschen, die unter dem einstürzenden [307] Hause begraben wurden, und Samson mit ihnen den Tod. Samson herrschte zwanzig Jahre lang über die Israëliten. 317 Bewundernswert ist er wegen seiner Tapferkeit und Stärke, wegen des Starkmutes, mit dem er den Tod erlitt, und weil er bis zum letzten Atemzuge seine Feinde hasste. Dass er sich von einem Weibe überlisten liess, ist auf Rechnung der menschlichen Natur zu setzen, die leicht der Sünde unterliegt. Jedenfalls muss man ihm das Zeugnis geben, dass er im übrigen ein ausgezeichneter und tugendhafter Mann war. Seine Verwandten bestatteten ihn bei den Vorfahren in seiner Vaterstadt Sariasa.

Neuntes Kapitel.
Wie unter der Regierung des Hohepriesters Eli Boaz die Ruth heiratete.

(1.) 318 Nach dem Tode Samsons regierte die Israëliten der Hohepriester Eli. Um diese Zeit entstand eine Hungersnot im Lande, infolge deren Elimelech, der aus Bethleëm im Stamme Judas war und das Unglück nicht länger ertragen konnte, mit seinem Weibe Naamis und deren Söhnen Chellion und Mallon in das Land der Moabiter auswanderte. 319 Und da es ihm hier nach seinem Sinne ging, gab er seinen Söhnen moabitische Weiber zur Ehe, dem Chellion die Orpha und dem Mallon die Ruth. Nach zehn Jahren starben Elimelech und seine beiden Söhne kurz nacheinander, 320 und Naamis, hierüber sehr betrübt, konnte ihre Vereinsamung und den Verlust ihrer Lieben, um deretwillen sie ihr Vaterland verlassen hatte, kaum ertragen, weshalb sie wieder in ihre Heimat zog. Denn sie hatte auch vernommen, dass dort wieder alles geordnet und im Wohlstand sei. 321 Ihre Schwiegertöchter aber wollten sich nicht von ihr trennen, und obgleich sie ihnen von der Mitreise abriet, liessen sie sich doch nicht überreden. Da sie nun noch mehr in sie drangen, wünschte sie ihnen eine glücklichere Ehe, als [308] sie mit ihren ersten Männern gehabt, und alles sonstige Gute, 322 beschwor sie aber unter Auseinandersetzung ihrer Verhältnisse, sie möchten hier bleiben und ihr Vaterland nicht verlassen, um ihr in ungewisse Zukunft nachzufolgen. Darauf blieb Orpha zurück; Ruth aber liess sich nicht bereden, sondern zog mit ihr fort und wollte jedes Schicksal mit ihr teilen.

(2.) 323 Als nun Ruth mit ihrer Schwiegermutter nach Bethleëm kam, wurden sie von Boaz, einem Verwandten des Elimelech, gastfreundlich aufgenommen. Naamis aber meinte, als sie von den Mitbürgern bei ihrem Namen genannt wurde, mit mehr Recht könne man sie Mara nennen, denn in hebraeischer Sprache bedeutet Naamis „Glück,“ Mara aber „Schmerz.“ 324 Zur Erntezeit nun ging Ruth mit Erlaubnis ihrer Schwiegermutter zum Ährenlesen aufs Feld, damit sie etwas zum Leben hätten, und es traf sich, dass sie auf das Grundstück des Boaz kam. Als bald darauf auch Boaz anlangte und die Ruth erblickte, erkundigte er sich ihretwegen bei seinem Verwalter, der ihm alles erzählte, was er über sie vernommen hatte. 325 Da umarmte Boaz sie liebreich und wünschte ihr sowohl aus Zuneigung gegen ihre Schwiegermutter, als auch in der Erinnerung an deren Sohn, mit dem sie verheiratet gewesen war, alles Gute. Auch litt er nicht, dass sie sich noch mit dem Auflesen von Ähren abgeben sollte, sondern erlaubte ihr, sich so viel abzumähen, als sie könnte, und es mitzunehmen; seinem Verwalter aber befahl er, er solle ihr nichts in den Weg legen und ihr Speise und Trank mit den übrigen Schnittern gewähren. 326 Die Mehlspeise nun, die Ruth von ihm erhielt, bewahrte sie für ihre Schwiegermutter auf und brachte sie ihr abends mit den Ähren, ebenso wie auch Naamis einen Teil des Essens, das die Nachbarn ihr in fürsorglicher Wohlthätigkeit gebracht hatten, für Ruth aufbewahrt hatte. 327 Ruth erzählte nun ihrer Schwiegermutter alles, was Boaz ihr gesagt hatte, und da Naamis ihr mitteilte, er sei ihr Verwandter und werde aus Frömmigkeit vielleicht für sie sorgen, ging sie auch [309] an den folgenden Tagen mit den Mägden des Boaz auf das Feld zum Ährenlesen.

(3.) 328 Einige Tage nachher, als die Gerste schon ausgedroschen war, kam auch Boaz wieder auf das Feld und schlief auf seiner Tenne. Als Naamis das hörte, hatte sie den Einfall, Ruth solle sich zu ihm legen; denn sie glaubte, es werde für sie von Nutzen sein, wenn er mit Ruth sich unterhielte. Sie schickte also die Ruth hin, damit sie zu seinen Füssen sich schlafen lege. 329 Ruth, die es als ihre Pflicht ansah, keinem Befehl ihrer Schwiegermutter zu widersprechen, begab sich nach der Tenne, und Boaz merkte zunächst ihre Anwesenheit nicht, da er fest schlief. Mitten in der Nacht aber erwachte er, und da er merkte, dass ein Weib bei ihm schlief, fragte er sie, wer sie sei. 330 Und als sie ihren Namen nannte und um Verzeihung bat, da sie nur als seine Dienerin hier liege, schwieg er. Morgens früh aber, ehe noch das Gesinde sich zur Arbeit erhoben hatte, weckte er sie, hiess sie so viel Gerste mitnehmen, als sie tragen könne, und damit zu ihrer Schwiegermutter gehen, bevor jemand erfahre, dass sie dort gelegen habe. Denn die Klugheit gebiete, sich vor Verleumdung zu hüten, zumal sie sich nichts hätten zu schulden kommen lassen. 331 „Über die ganze Angelegenheit aber,“ sagte er, „bestimme ich folgendes. Zunächst muss ich denjenigen, der dir näher verwandt ist als ich, fragen, ob er dich heiraten will. Will er das, so folgst du ihm, im anderen Falle werde ich dich zu meiner rechtmässigen Gattin machen.“

(4.) 332 Als Ruth diese Worte ihrer Schwiegermutter mitteilte, war diese wohlgemut in der Hoffnung, Boaz werde sich ihrer annehmen. Um Mittag kam Boaz in die Stadt, liess die Ältesten zusammentreten und die Ruth nebst ihrem nächsten Verwandten herbeirufen. Als der letztere gekommen war, fragte ihn Boaz: 333 „Willst du das Erbe des Elimelech und seiner Söhne in Besitz nehmen?“ Und da dieser ja sagte, weil es ihm als Verwandten von Rechts wegen zustehe, fuhr Boaz fort: „Du [310] musst aber das Gesetz nicht nur zur Hälfte erfüllen, sondern alles thun, was es vorschreibt. Dieses Weib nämlich ist die Witwe des Mallon, die du nach dem Gesetz heiraten musst, wenn du das Erbe antreten willst.“ 334 Jener aber überliess nun dem Boaz, der ja den Verstorbenen ebenfalls verwandt sei, Weib und Erbe, weil er selbst schon Frau und Kinder habe. 335 Boaz rief also die Ältesten zu Zeugen an und befahl dem Weibe, sie solle herantreten, dem anderen den Schuh ausziehen und ihm ins Angesicht speien. Nachdem das geschehen, nahm Boaz die Ruth zur Ehe, und nach Jahresfrist bekam er von ihr einen Sohn. 336 Diesen zog Naamis auf und nannte ihn auf den Rat der anderen Weiber Obed, weil sie ihn zur Pflege ihres Greisenalters grosszog; denn Obed heisst in hebraeischer Sprache „Diener.“ Von Obed stammte Jesse, der Vater Davids, der als König regierte und seinen Nachkommen bis ins einundzwanzigste Geschlecht die Herrschaft hinterliess. 337 Dies glaubte ich von Ruth erzählen zu müssen, um daran Gottes Allmacht zu zeigen, dem es leicht ist, auch niedrige Menschen zur höchsten Würde zu erheben, wie er das mit David that, der von unbedeutenden Ahnen abstammte.

Zehntes Kapitel.
Von der Geburt des Propheten Samuel, und wie er den Tod der Söhne Elis vorhersagte.

(1.) 338 Die Hebräer aber fingen bald, da ihre Verhältnisse sich wieder verschlechterten, einen Krieg mit den Palaestinern an, aus folgender Ursache. Der Hohepriester Eli hatte zwei Söhne, Ophnis und Phineës. 339 Diese waren ebenso gewaltthätig gegen die Menschen als pflichtvergessen gegen Gott und schreckten vor keiner Nichtswürdigkeit zurück. Einiges nahmen sie weg, weil sie es gewissermassen als Ehrengeschenk in Anspruch nahmen, anderes stahlen sie geradezu, und die Weiber, die der Gottesverehrung halber das Heiligtum besuchten, schändeten [311] sie teils mit Gewalt, teils nachdem sie dieselben durch Geschenke verführt hatten. So unterschied sich ihre ganze Lebensweise in nichts von der eines Tyrannen. 340 Der Vater zürnte ihnen deshalb sehr und erwartete beständig, Gott werde sich wegen ihrer Frevelthaten an ihnen rächen, und auch das Volk grollte ihnen heftig. Als nun Gott den zukünftigen Untergang der beiden sowohl dem Eli wie dem Propheten Samuel, der damals noch ein Knabe war, kundgethan hatte, trauerte der Vater auch öffentlich um sie.

(2.) 341 Ich will hier einiges über den Propheten einschalten, ehe ich in der Erzählung von den Söhnen Elis fortfahre. 342 Alkan, ein mittelmässig begüterter Levit vom Stamme Ephraïm, der in der Stadt Armatha wohnte, hatte zwei Weiber, Anna und Phenanna. Von der letzteren hatte er Kinder, von der ersteren aber nicht; doch hörte er deshalb nicht auf, sie zu lieben. 343 Als nun Alkan einst mit seinen Weibern nach Silo gekommen war, um dort zu opfern (hier stand ja bekanntlich Gottes Hütte), teilte er beim Mahle Fleischstücke an seine Weiber und Kinder aus. Und da Anna die Kinder des anderen Weibes rings um ihre Mutter sitzen sah, brach sie in Thränen aus und beklagte ihre Unfruchtbarkeit. 344 Dabei ergriff sie eine so grosse Traurigkeit, dass ihr Mann sie nicht zu trösten vermochte. In ihrem Schmerz ging sie zur Hütte und bat Gott kniefällig, er möge ihr doch Kinder schenken und sie Mutter werden lassen, wobei sie versprach, sie wolle ihren ersten Sohn dem Dienste Gottes weihen; auch solle er eine von der der anderen Familienmitglieder verschiedene Lebensweise führen. 345 Als sie nun so lange im Gebet verharrte, hielt sie der Hohepriester Eli, der vor der Hütte sass, für betrunken und hiess sie weggehen. Sie aber entgegnete ihm, sie habe nur Wasser getrunken und betrübe sich sehr darüber, dass sie kinderlos sei, weshalb sie auch zu Gott gebetet habe. Da tröstete er sie und sagte ihr, sie solle wohlgemut sein, denn Gott werde ihr einen Sohn schenken.

[312] (3.) 346 Darauf kehrte sie voller Hoffnung zu ihrem Gatten zurück und nahm fröhlich am Mahle teil. Als sie dann in ihre Heimat kamen, wurde sie bald schwanger und gebar nach Ablauf der entsprechenden Zeit einen Sohn, den sie Samuel, das heisst „von Gott erbeten“ nannten. Alsdann begaben sie sich abermals zur Hütte, um Gott für die Geburt des Sohnes Dankopfer darzubringen und den Zehnten zu entrichten. 347 Die Mutter aber erinnerte sich des Gelübdes, das sie in betreff ihres Sohnes gethan hatte, und übergab ihn daher dem Eli, damit er Gott als zukünftiger Prophet geweiht werde. Deshalb liess er auch sein Haar lang wachsen und trank nichts ausser Wasser, und er wurde bei der Hütte, wo er blieb, erzogen. Alkan erhielt danach von der Anna noch andere Söhne und drei Töchter.

(4.) 348 Kaum hatte Samuel sein zwölftes Jahr zurückgelegt, da fing er auch schon an zu prophezeien. Als er einst schlief, rief ihn Gott beim Namen. Er aber ging zum Hohepriester in der Meinung, dieser habe ihn gerufen; der Hohepriester dagegen erklärte, er habe ihn nicht gerufen. Also that Gott dreimal. 349 Da ging dem Eli ein Licht auf, und er sprach zu ihm: „Samuel, jetzt wie vorhin habe ich geschwiegen; Gott aber ist es, der dich ruft. Wohlan, thu ihm also kund, dass du da bist.“ Als er nun Gott wieder rufen hörte, bat er, er möge ihm seinen Willen verkünden, denn er sei zu jedem Dienste bereit, den Gott von ihm verlange. 350 Darauf sprach Gott zu ihm: „Weil du da bist, so wisse, dass den Israëliten ein Unglück droht, das man weder aussprechen noch glauben möchte. Denn Elis Söhne werden an einem und demselben Tage sterben, und die Hohepriesterwürde wird auf die Familie Eleazars übergehen. Eli hat eben seine Söhne mehr geliebt als meinen Dienst, und das gewiss nicht zu ihrem Nutzen.“ 351 Da Samuel nun dem Eli nicht den Schmerz anthun wollte, ihm die Verkündigung Gottes mitzuteilen, nötigte Eli den Propheten unter einem Eidschwur dazu und war nun nicht mehr in Ungewissheit über den Untergang seiner Söhne. Samuels [313] Ruhm aber wuchs mehr und mehr, da keine seiner Prophezeiungen sich als trügerisch erwies.

Elftes Kapitel.
Schicksale der Söhne Elis, der heiligen Lade und des Volkes. Elis beklagenswerter Tod.

(1.) 352 Um diese Zeit überzogen die Palaestiner das Volk der Israëliten mit Krieg und schlugen ihr Lager bei der Stadt Apheka auf. Die Israëliten waren des Angriffs gewärtig, und so stiessen die beiderseitigen Heere am folgenden Tage zusammen. Den Sieg aber trugen die Palaestiner davon, und es fielen von den Hebräern gegen viertausend, während der Rest ins Lager zurückgetrieben wurde.

(2.) 353 In dieser grossen Bedrängnis schickten die Hebräer zu den Ältesten und dem Hohepriester und liessen bitten, die Lade Gottes möchte zu ihnen gebracht werden, damit sie durch deren Gegenwart die Feinde bewältigen könnten. Sie dachten jedoch nicht daran, dass der, welcher ihr Unglück beschlossen hatte, mächtiger sei als die Lade, die ja nur um seinetwillen verehrt werden musste. 354 Die Lade erschien, und mit ihr die beiden Söhne des Eli, denen der Vater befohlen hatte, ihm nie wieder unter die Augen zu treten, wenn die Lade genommen werden sollte, und sie dann noch nicht des Lebens überdrüssig seien. Phineës versah damals schon den priesterlichen Dienst, da der Vater seines eigenen hohen Alters wegen ihm denselben übertragen hatte. 355 Die Hebräer schöpften nun neuen Mut und hofften bei Anwesenheit der Lade der Feinde Herr zu werden; der Palaestiner dagegen bemächtigte sich Furcht und Bestürzung, da sie in der Lade einen besonderen Schutz für die Israëliten erblickten. Die Sache nahm jedoch eine ganz andere Wendung, als man beiderseits erwartet hatte. 356 Denn als es zur Schlacht kam, verblieb der Sieg, den die Hebräer erhofft hatten, bei den Palaestinern, wogegen [314] die Niederlage, welche diese befürchtet hatten, die Hebräer traf, die nun einsahen, dass sie vergeblich ihr Heil auf die Lade gesetzt hatten. Die Schlacht hatte nämlich kaum begonnen, als sie sich zur Flucht wandten. Sie erlitten einen Verlust von fast dreissigtausend Mann, unter denen auch des Hohepriesters Söhne sich befanden. Die Lade aber geriet in die Gewalt der Feinde.

(3.) 357 Als die Nachricht von dieser Niederlage und der Wegnahme der Lade nach Silo gelangte, wohin sie ein Jüngling aus dem Stamme Benjamin, der am Treffen teilgenommen, überbrachte, ward die ganze Stadt mit Trauer erfüllt. 358 Und als der Hohepriester Eli, der grade an einem der beiden Thore auf einem hochstehenden Sessel sass, den Lärm vernahm, ahnte er gleich, dass den Seinigen ein Unglück zugestossen sei. Er beschied daher den Jüngling zu sich und hörte von ihm den Ausgang des Treffens. Als er nun den Tod seiner Söhne und die Niederlage des Heeres vernahm, empfand er hierüber keinen so grossen Schmerz, da Gott es ihm vorausgesagt und er somit gewusst hatte, dass es so kommen würde. 359 Dagegen verursachte ihm die Nachricht, dass die Lade in die Hände der Feinde geraten sei, da er dergleichen nicht erwartet hatte, so entsetzlichen Schmerz, dass er vom Sessel herabstürzte und den Geist aufgab. Er starb im achtundneunzigsten Lebensjahre und im vierzigsten seiner Regierung.

(4.) 360 An demselben Tage starb auch die Gattin des Phineës, welche das Unglück, das ihren Mann getroffen, nicht zu überleben vermochte. Vorher gebar sie (sie war nämlich hochschwanger, als sie die Nachricht vom Tode ihres Mannes erhielt) einen siebenmonatlichen Knaben, dem sie, da er lebensfähig zu sein schien, den Namen Jochab gab wegen der Schande, die das Heer erlitten hatte; denn Jochab bedeutet „Schande.“

(5.) 361 Eli war der erste Hohepriester aus der Familie Ithamars, des zweiten Sohnes des Aaron. Denn vorher war die Würde beim Hause Eleazars, wo sie immer vom [315] Vater auf den Sohn überging. Eleazar nämlich übergab sie seinem Sohne Phineës, 362 dieser seinem Sohne Abiezer, von dem sie dessen Sohn Buzi erhielt. Dieser vererbte sie wieder seinem Sohne Ozis, von welchem sie Eli erhielt, den ich im Vorstehenden erwähnte. Dessen Stamm behielt das Hohepriestertum bis zu den Zeiten des Königs Solomon; alsdann ging es wieder auf die Nachkommen Eleazars über.


  1. Philister.
  2. Die vom Dorfe Ginnaea bis zum toten Meere reichte. Vergl. Jüd. Krieg IV, 8, 2
  3. Die Tenne befindet sich im Morgenland auf freiem Felde.
  4. Gemeint ist hier eine der steinernen Handmühlen, die die Israëliten beim Mahlen des Getreides gebrauchten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Großes, weiches Kissen.
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