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Im Gottesländchen/Zwischen Zabeln und Talsen

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Kandau Im Gottesländchen
von Edgar Baumann
Talsen und Umgegend
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Zwischen Zabeln und Talsen.[1]

23. Juni. Livenhof lag auf einer kleinen, an den Seiten abgeflachten Anhöhe. Zum Gütchen gehörten über [11] 900 Hofstetten Landes. L. war ein großer Jäger. Täglich ging er mit der Flinte in der Hand und in Begleitung seines treuen Lord in die nahen Wälder, um irgend ein Wild zu erspähen. Sein Zimmer war mit allerhand Jagdgerätschaften und -emblemen ausgestattet; leere Patronen lagen auf Tisch- und Fensterbrett umher. — Nach dem Mittagessen begaben wir uns aus kleinen Seitenwegen und Waldespfaden durch dichten Tannen- und Laubwald, über morastige Wiesen und durch lieblich wogende Saaten weiter. Auf einer 8 Werst weiten Strecke trafen wir nur zwei Gesinde an: das Greten- und das Kickulgehöft, auf lettisch Grietas- im Kickull-mahjas. (Mahjas, wörtlich übersetzt „Häuser", bedeutet „Gesinde“ oder „Bauernhof“.) Diese Gegend soll als Aufenthaltsort so manchen Pferdediebes bekannt sein, und ein Gehöft in der Nähe sogar in dieser Hinsicht für berüchtigt gelten. L. erzählte, daß vor einiger Zeit allen Gutsherren und Gesindewirten im geheimen ein Verzeichnis der Leute, die in Kurland Pferdediebstahl getrieben oder dieses Handwerks verdächtig wären, zugeschickt worden sei. Auch sein Bruder, der Besitzer von Livenhof, habe eins erhalten. Wie groß sei ihr Erstaunen gewesen, als sie ihren Kutscher und Stallbediensteten dort verzeichnet fanden. Er sei natürlich sofort entlassen worden. — Gegen Abend erreichten wir das Ziel unserer Wanderung, einen Komplex von neun Gehöften, die in einer grünen Ebene auf einer Anschwellung des fruchtbaren Bodens lagen und zusammen den Namen Schkuten, lett. Schtjuhti, führten. Hier trafen wir Landsleute. Es war die Heimat des trefflichen lettischen Philologen K. M.[WS 1] Auch andere Gäste waren anläßlich des bevorstehenden Johannisfestes erschienen, so daß wir eine große Gesellschaft vorfanden. Es war Johanniabend. Unterwegs hatten in der Ferne hier und da die Landleute „gelihgot“, was sich eigentümlich, wie Klänge aus der vergangenen heidnischen Zeit unserer Heimat, angehört [12] hatte. Eine sinnige, schöne Sitte ist es doch, sich an diesem Abend zu bekränzen und zu „belihgoen", d. h. liebe, fromme Wünsche für das Wohlergehen seiner Mitmenschen, das Gedeihen ihres Viehes und ihrer Saaten in Form von kleinen Versen mit dem sich wiederholenden Schlußworte „Lihgo" ein­ander zuzusingen. Leider verschwindet sie immer mehr auf dem Lande, wie ja schon so manches Stück Poesie durch die überall vordringende Kultur der Neuzeit zu nichte geworden ist. Dieser Johanniabend ließ zudem keine rechte Stimmung aufkommen, da das Wetter regnerisch war.

24. Juni. Bei sonnigem Wetter wurde am Vormittage ein Spaziergang durch ein liebliches Tal, wo der Mühlenbach zwischen blumigen Ufern auf steinigem Grunde dahinfloß, und über sanft ansteigende Hügel, wo goldenes Korn im Winde wogte, zu einem nahen, herrlichen Laubwalde unternommen. Die Feldblumen blühten in bunter Pracht am Wege. Lerchen und andere Vöglein erhoben überall ihre lieben Stimmchen. Glück und Frieden schien auf der lachenden Gegend zu ruhen. Am Waldesrande fanden wir eine Menge großer, saftiger Erdbeeren.

Am Nachmittage setzten wir unsere Reise fort. Von Schkuten fuhren wir zur Tuckum-Talsener Landstraße und auf dieser weiter. Anfangs ging es durch ein nur wenig hügeliges, mit Wiesen und Feldern bedecktes Land. Unweit Strasden schimmerte rechts zwischen grünen Anhöhen ein „von Gott herabgesandter" See. In Lettland gibt es eine Menge solcher Seen, die lettisch „diewalaisti", von Gott herabgelassen, heißen. An ihre Entstehung knüpfen sich uralte Volkssagen. Weiterhin lag rechts inmitten eines Friedhofs die Strasdensche Kirche, nachher links das weiße, zweistöckige Gutsgebände, zu dem eine lange, schöne Lauballee führte. Hier teilte sich unser Weg: geradeaus ging er nach Talsen, rechts nach Nurmhusen. Wir schlugen den letzteren ein. Die Gegend wurde aussichts­reicher [13] Wir fuhren über schöne Anhöhen. In der Nähe zeigte sich Laubwald. Von den höheren Stellen hatte man schöne Ausblicke in der Richtung nach Kandau, wo fernher die Wälder bläulich flimmerten. Das Niveau der Landschaft hob sich zusehends. Bald lief der Weg in einen Tannenwald hinein. In Nurmhusen fanden wir den Platz vor dem Kirchenkruge mit großen Fuhrwerken bedeckt. In riesigen Tonnen wurde von der 5 Werst entfernten Odernschen Brennerei Branntwein nach Tuckum geführt. Die armen Menschenkinder verbrauchen wohl eine Unmenge dieser verderbenbringenden Flüssigkeit! Gegenüber dem Kruge und der Gemeindeschule lag, von dichtem Laube beschattet, die Kirche. Bald nachdem deren Turm hinter den Feldern und Anhöhen — es war bei Sonnenuntergang — unseren Blicken entschwunden war, sahen wir am Rande einer freien Gegend einen Hain aufsteigen. Das war das Gut Scheden, dem wir uns näherten. Längs einem Teiche, durch eine Allee uralter Eichen fuhren wir zum Herrenhause.

25. Juni. Das Gut Scheden muß schon seit Jahr­hunderten existiert haben. Das bezeugen nicht nur die ehr­würdigen, alten Eichen am Wegesrande, sondern auch die Erzählungen der Leute, daß hier vor Jahren ein Schloß ge­standen habe, dessen Trümmer noch unlängst in der Nähe des jetzigen Herrenhauses beim Mühlenteiche zu sehen gewesen seien. Das Gut gehört der Familie von Fircks zu Waldegahlen (bei Talsen), die es in Arrende vergeben hat. — Angenehm war der Aufenthalt auf der hopfenumrankten, ahornbeschatteten Veranda des Gutshauses und im großen, lauschigen Obstgarten am Teiche. Eine Menge schöner, weißer Wasserrosen schaukel­ten sich, vom Winde hin und her bewegt, auf der Flut. Jenseits des Teiches stand auf einem Hügel hinter einer Wiese eine alte Windmühle, wie sie zur Großvaters Zeiten bei uns zu Lande gebaut worden sind. Der Teich ist reich an Schleien [14] und Hechten, die auch in der Nacht bei Licht „gestochen" werden. Kleine Bauernkinder, die dort angelten und dabei viel plap­perten und rumorten, erregten durch ihr eigenartiges Sprechen, das mir fremd klang, meine Aufmerksamkeit. Die lettische Umgangssprache, auch die der Erwachsenen, unterschied sich in dieser Gegend merklich von dem sonst allgemein üblichen Schriftlettisch. Verbreitet ist in Scheden das Trachom. — In den ersten Stunden des Nachmittags verließen wir diesen Ort.

  1. Sprich Talßen!

Anmerkungen (Wikisource)