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Im Gottesländchen/Kandau

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Zum Abautale Im Gottesländchen
von Edgar Baumann
Zwischen Zabeln und Talsen
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Kandau.

21. Juni. Am Vormittage regnete es. Als das Wetter sich aufklärte, weilte man im Garten beim Herrenhause, wo die Jasminbüsche stark dufteten. Darauf wurde ein Abstecher nach Kandau unternommen. Das Amtkandausche Gebiet erstreckte sich fast bis zu den Häusern des Städtchens. Das Getreide stand gut. Sehr viel schien die Kartoffel gebaut zu werden. Im Städtchen, richtiger „Flecken“, fiel uns zuerst die Synagoge ins Auge. Es gab hier viele Juden: beinahe jedes dritte Gesicht, das wir sahen, war ein jüdisches. Auffallend war in dem kleinen Städtchen mit seinen wenigen Straßen die große Menge der Getränkehandlungen. Zu den besten Häusern zählte das Postgebäude. Im Schulhause fand sich die Gemeindeschule mit der Gemeindeverwaltung unter einem Dache vereinigt. Am Marktplatze ragte ein hölzerner Turm empor, der von dem Dasein einer Feuerwehr Zeugnis ablegte. Bei diesem Platze befanden sich auf dem Kirchhofsberge schattige Anlagen, durch die man zur lutherischen [7] Kirche und dem Friedhofe hinaufstieg. Die steinerne 1736 erbaute Kirche war klein und schlicht. Dort hatte man einen weiten Ausblick. Unten lag Kandau, ringsum wogten Roggenfelder, hinter denen in einem kleinen Seitentale das rote Dach des örtlichen Krankenhauses zu sehen war. In der Ferne erblickte man das Abautal: grüne Fluren und Wald, dazwischen lieblich gelegene Häuserchen. Dem Kirchhofsberge gegenüber, durch einen Teil des Städtchens von ihm getrennt, erhob sich am Rande des Tales der Schloßberg mit dem letzten Reste der Schloßruine. Hier hat einst die 1254 erbaute Burg der Deutschordensritter, während der Blüte des Ordens im 14. und 15. Jahrhundert eine Zierde der Gegend, gestanden. In der Geschichte Kurlands hat sie eine nicht unbedentende Rolle gespielt. Die Kuren[1], die das kurische Unterland bewohnten, waren im Jahre 1230 durch den päpstlichen Legaten Balduin von Alna für das Christentum gewonnen worden, aber bald darauf vom neuen Glauben abgefallen. Da wurde ihr Land um die Mitte des 13. Jahrhunderts mit Waffen­gewalt erobert, wobei auch am Fuße dieses Schloßberges schwere Kämpfe stattfanden. Die neue Ordensburg, die sich hier erhob, wurde der Sitz eines Vogtes, der mit starker Hand die bezwungenen Kuren im Zaume hielt. Die stattliche Ruine des Schlosses hat noch bis 1840 gestanden, in welchem Jahre ihre 9 Fuß hohen, den Einsturz drohenden Mauern abgetragen werden mußten. Jetzt waren von der Ruine nur noch wenige Reste übrig. Von der höchsten, halbzerfallenen dicken Mauer [8] bot sich ein wundervoller Ausblick: tief unten im grünen Tale schlängelte sich in vielen Windungen die Abau; ringsum — grüne Anhöhen, Berge, Wälder und Haine. Am Rande des Berges aus der Ecke bei der Straße, die unten geradeaus über die steinerne Abaubrücke führte, stand ein kleiner Pavillon. Der Blick nach unten, wo sich tief, gar tief im Talesgrunde der Weg über die Brücke zog, unter der den Weg kreuzend die silberne Abau floß, war überaus reizvoll.

In den Anlagen auf dem Kirchhofsberge ließen wir uns nieder. Das Kandausche Bier schmeckte den Kommilitonen, und um nach Studentenart das Angenehme mit dem Angenehmen zu ver­einigen, wurde Musik bestellt. Bald erschienen 5 Mann mit Streich- und Blasinstrumenten, die zwei Stunden lang verschiedene Stücke vortrugen. Die Musik setzte ganze Kandau in Bewegung. Zuerst fand sich die hoffnungsvolle, barfüßige Straßenjugend ein, und dann versammelten sich auch andere Kandauer und Kandauerinnen, darunter viele Töchter von jüdischen Kaufleuten. (Der Kleinhandel liegt in Kurland zum großen Teil in den Händen der Juden). Zu uns gesellten sich auch der Post-Vorsteher und ein Bierbrauer, mit denen sich die Studiosi in ein Gespräch einließen. Schließlich erschien auch eine Personlichkeit, deren Aufgabe es zu sein schien, auf Ruhe und Ord­nung in den Anlagen zu sehen. In einen breiten, alten Mantel gehüllt, die Mütze ins Gesicht gezogen, dem ein herabhängender langer Schnurrbart einen sonderbaren Ausdruck verlieh, näherte sich der gute Mann und machte, als er die „Pragers" und das durch die Musik herbeigelockte Publikum sah, ein bedenkliches Gesicht. D. wußte sich zu helfen. Er nahm eine Flasche Bier, trat auf ihn zu und bot ihm einen Labetrunk an. Freundlich dankte der dadurch Geehrte, nahm die Flasche und trank sie, ohne abzusetzen, in einem Zuge aus. „So, meine Herren, das war schön!“ Noch ein strammer Gruß, — und das Extrakonzert konnte seinen ungestörten Fortgang [9] nehmen. — Inzwischen hatte sich die Sonne geneigt, und ich empfand ein Verlangen, den schönen Abend oben auf dem Gottesacker bei der Kirche zu genießen. Es waren weihevolle Augenblicke… Als die Sonne unterging, ließ sie die Wolkengebilde am Himmel in roten, silbernen und diamantenen Tönen erschimmern.

22. Juni. Den Vormittag benutzten wir zu einem Spaziergange durch die Ländereien von Amt-Kandau. Den Platz vor dem Herrenhause umgab eine schöne Allee von großen, alten Laubbäumen. Weiterhin lagen an demselben mehrere Baulichkeiten. Das große Gebäude beim Pfahllande (Viehhofe), in dem sich unten die Räume für das Vieh, oben ein riesiger Heuboden befand, wurde eben mit Schilfrohr neu gedeckt. Das Rohr war von weitem hergeführt worden; es stammte aus dem Angernschen See. Vom Pfahllande ging es längs kleinen Teichen und der Riege (der Korndarre) durch wogende Felder weiter. Überall am Wegesrande grüßten uns die blauen Kornblumen. Der Weg führte über Tal und Hügel in einen großen Laubwald hinein, der einen Berg am Rande des Abautales krönte, sich den Abhang malerisch hinunterzog, um unten in dichtem Gebüsche zu endigen. Schön war die Aussicht vom Wege aus, der oben den Bergrand entlang lief. Der Fluß wandte sich unten zickzackförmig von der einen Seite des Tales zur andern. An einer Stelle floß er ganz nahe an einem bewaldeten Abhange hin, so daß sich die Bäume über seine Flut hinüberbogen und ihn zur Hälfte verdeckten. Weit schweifte das Auge über die grünen Fluren und dunklen, be­waldeten Anhöhen diesseit und jenseit des Tales. Unten beim Berge führte parallel dem Flusse die Tuckumer Land­straße vorüber. (Wir hatten den kürzeren Nebenweg von Puhren nach Kandau benutzt.) Eine Stelle unten bei der Landstraße wurde als der Platz bezeichnet, wo Grünfeste stattfänden. Besonders schön soll es hier an stillen, warmen Mai­abenden [10] sein, wenn unten und oben im Gebüsche die Nachtigallen schlagen. Im Laubwalde oben, durch den wir auch unseren Rückweg, nur in einer andern Richtung, nahmen, wuchsen verschiedene Arten von Bäumen und Sträuchern. Mir gefielen besonders die stolzen Eichen und wilden Rosenhecken, deren Blüten einen milden Duft verbreiteten. Hinter dem Walde kamen wir beim Karom-Gesinde heraus, das, von Gebüsch umgeben, in einem kleinen Tale an einem Vergißmeinnichtgeschmückten Bächlein lag. — Nach dem Spaziergange nahmen wir von Amt-Kandau Abschied, und per Achse ging es über Kandau und Stempelhof weiter. Bald erreichten wir einen Nadelwald. Mitten drin lag rechts ein jüdischer Friedhof mit den kleinen, eigenartigen Grabhäuschen. Bei einem andern Friedhof verließen wir den Wald. Wieder lag das schöne Abantal vor uns, in das der Weg hinabführte. Die Abanufer waren hier von Gebüsch umrahmt. Beim Flossenkruge, gegenüber dem hochgelegenen Gute Hohenberg, wurde halt gemacht. Dann ging es wieder bergan. Oben hatte man einen herrlichen Ausblick auf das soeben verlassene Tal. Über dem Walde sah man die Turmspitze der 8 Werst ent­fernten Kandauschen Kirche blinken. Gleich darauf näherten wir uns, wieder in das Tal hinunterfahrend, dem zwischen der Aban und den hohen Talwänden freundlich gelegenen Zabeln mit seiner hochragenden weißen Kirche. Im Städtchen, wo uns wieder eine Synagoge auffiel, wandten wir uns nach rechts, fuhren zwischen dem hohen Schloßberge und dem niedrigeren, fichtenbestandenen Friedhofsberge bergan und dann landeinwärts durch Wald und Feld nach dem 3 Werst entfernten Livenhof, wo unser Kommilitone L. zu Hause war.

  1. Die Frage nach der Nationalität der Bewohner des jetzigen kurischen Unterlandes zur Zeit der deutschen Eroberung ist schwer zu entscheiden. Im Innern des Landes wird wohl das lettische und in den Küstengegenden das livische Element vorherrschend gewesen sein. Der tahmische Dialekt (in Windau, Dondangen und anderen Gegenden) ist vielleicht aus einer Mischung des Lettischen und Livischen hervorgegangen.