Herr Gêverdes
1450. Um diese Zeit hat sich zu Lübeck eine wunderbarliche, denkwürdige Historia zugetragen, wie seine alte glaubwürdige Bürger erzählen, die von ihren auch glaubwürdigen ehrlichen Eltern gleichergestalt und so berichtet worden:
Wie Herr Geverdes bei dem richterlichen Amt gewesen, soll in seinem Hause auf dem Klingberge einmal eine Kagel (Haube) mit Perlen bestickt verloren sein. Da nun eben zu der Zeit ein Handwerksmann, des Herrn Gevatter, in dem Hause gearbeitet, ist dieser des Diebstahls bezichtigt und darauf eingezogen worden; hat nachher auch in der Pein bekannt, daß er’s gethan; jedoch zum höchsten für sein Leben gebeten, weil er ja noch des Herrn Richters Gevatter wäre. Aber der Richter hat ihn mit rauhen, harten Worten angefahren: daß er henken solle, und wenn er auch noch einmal sein Gevatter wäre.
Da ihm nun sein Urthel gesprochen, und er wieder vom Gerichte gehen sollen, hat er zum Richter also gesagt: „Herr Gevatter, weil ich ja sterben soll und muß, so fordere ich Euch, binnen 30 Tagen hienach, vor das strenge Gericht Gottes; da sollt Ihr mir Rechenschaft [215] geben wegen dieses meines unschuldigen Todes.“ Und ist damit hinausgeführt und in den Galgen gehenkt.
Aber nur wenige Tage darauf hat man die verlorne Kagel hinter der Bank gefunden, um welcher willen dennoch der unschuldige Mann als ein Dieb gehenkt worden.
Als nun der dreißigste Tag herankam, ist Herrn Geverdes die Reue hart zu Herzen gegangen und das Gewissen wach geworden; also daß er weder essen noch trinken, schlafen oder wachen können.
Indem kömmt sein vieljähriger Diener wieder heim, der etlicher Schulden halber eine gute Weile außen gewesen und nichts von dieser Historie gewußt. Der siehet die mächtige Angst und Schwermuth an seinem Herrn, tritt zu ihm und fragt: was doch sein großes Anliegen sei; ob er nicht Geldes und Gutes die Fülle, und Alles zur Gnüge habe; was ihm denn mangele? das möchte er auf Treu und guten Glauben gar gern von ihm erfahren.
Der Herr seufzet tief genug und spricht: die Zeit sei nahe herbeikommen, daß sein Gevatter ihn vor Gericht zu erscheinen gefordert habe.
„Ei, sagt sein Diener, der Herr wolle sich die Phantasei aus dem Sinne schlagen; was will Er mir geben, so will ich die Sache auf mich nehmen?“ – Der Herr fragt ihn: was er zu haben begehre? Spricht der Diener: „der Herr gebe mir ein gut leidisch Tuch, so will ich’s Alles auf mich nehmen.“ Da sagt der Herr: [216] „ja, gehe hin und nimm Dir das beste von allen leidischen Laken, so in meinem Hause vorhanden sind.“
Wie nun dieser gottlose Vertrag gemacht ist, läßt Herr Geverdes seine Freunde gegen Abend zu Gast laden, und sie sind lustig und guter Dinge mit einander. Endlich hat sich ein jeder, da es Mitternacht worden, nach Hause verfügt, und ist des Herrn Diener auch zu seiner Schlafkammer gegangen; und hat wenig oder gar nicht daran gedacht, was er vergangnen Tages seines Herrn halber auf sich genommen.
Da ist aber um Mitternacht ein solches Gerumpel und Poltern auf seiner Kammer gewesen, daß alle Schlafenden im Hause davon wach geworden; doch hat keiner wagen dürfen, hinzugehn und zu vernehmen, was da vorhanden.
Erst am lichten Morgen haben sich Etliche hinaufgemacht, und des Herrn Diener in seiner Kammer auf der Erde liegend gefunden mit umgedrehtem Hals und dermaßen zerquetscht, daß kein Glied das andre berührt hat.
Ueber dieses Ereigniß ist das ganze Haus bestürzt und erschrocken; wie oft man aber von der Wand oder Mauer das angespritzte Blut mit nassen Tüchern abwischen wollen, ist es doch unmöglich und umsonst gewesen, daß man’s auslöschen können.
Lange Jahre hernach hat dieses Haus bewohnt Herr Andreas Lunte, der auch in demselben geboren. Dieses [217] Mutter hat in ihrem Wittwenstand das angespritzte Blut mit gutem Weißkalk überstreichen lassen; aber es ist allewege wieder durchgeschlagen, und hat sich nicht wollen auslöschen lassen.
Auch das Poltern hat man Abends 11 Uhr in den Nachbarhäusern noch lange Zeit deutlich gehört.
Herr Geverdes aber hat sein Leben lang wenig Ruhe gehabt. Da er gleichwohl ein reicher Mann und unbeerbt war, hat er ein Testament gemacht, darin er unter andern der Stadt zum Besten das Holstenthor mit den zween Spitzen zu bauen verordnet; das ist anno 1477 geschehen.
Weil er aber gar elendiglich am Aussatz gelitten, hat er zu Kleinen-Grönau das Siechenhaus für 12 Sieche, 6 Manns- und 6 Frauenspersonen, gestiftet; darin er selbst verstorben, und einen Priester gesetzt, der für seine Seele bitten sollte.
Bemerkungen
[395] (Auch mündlich, und gewöhnlich mit Nr. 195 verwechselt.) leidisch – von der Stadt Leiden.