Guadalupe
Es kommt wohl vor, daß das Samenkorn einer Blume auf einen Kehrichthaufen fällt, dort Nahrung findet, seine Blätter entfaltet und seinen Blüthenkelch der Sonne entgegenbreitet, gerade als ob es mitten in einem Garten und unter sorgfältiger Pflege aufgegangen wäre.
Auf einem solchen Kehrichthaufen der menschlichen Gesellschaft, ungepflegt und unbehütet, war die kleine Lu aufgewachsen. Wenn je ein Kind vom Geschick - wie man so sagt - stiefmütterlich behandelt worden war, so war sie es. Und doch war sie zur Blüthe gekommen, und doch lachte sie mit ihren jungen fröhlichen Augen der Sonne entgegen. Der alte José Mateos war ihr Vater! Gewohnheit macht Alles erträglich, auch einen solchen Vater. Und Lu, mit einem feinen Gefühl, das ihr wahrscheinlich von der verstorbenen Mutter angeerbt war - armes Ding! sie hatte die Mutter bei der Geburt verloren! - hatte die wenigen leidlichen Eigenschaften dieses Vaters aufzufinden gewußt, sie in das beste Licht gestellt und sich nicht nur an ihn gewöhnt - nein, ihn sogar lieben gelernt. Vielleicht hätte sie ihn nicht einmal gegen den Mustervater ihrer Freundin Concha vertauscht, welcher der erste Schneider in Segovia war, eine vornehme Kundschaft und ein schönes eigenes Haus besaß und seiner Tochter allen Willen that. Lu war nicht neidisch deswegen, aber sie hatte einen stolzen Charakter, und wenn Concha die Güte dieses zärtlichen Vaters allzusehr rühmte, so faßte sie es als eine Anklage gegen ihren eignen Vater auf und fand sich berufen, ihn zu vertheidigen.
„Mein Papa ist etwas rauh,“ sagte sie, „aber das ist natürlich, er ist auch kein Schneider, sondern ein Krieger. Er hat dem Vaterlande mit seinem Blute gedient, und das ist ein großes Verdienst. Das Vaterland hat ihn mit Undank belohnt, nun ist er verbittert. Wenn man ihn belohnt hätte, wie er es verdient, so würde er jetzt reich sein und mir auch so schönen Putz geben, wie Dir der Deine.“
So angesehen, erschien der alte Mateos wirklich nicht so schlimm. Aber Andere hatten freilich nicht die Augen der Tochter, und die bewiesen ganz klar, durch unzählige Beispiele, daß er ein roher Geselle sei und ein Trunkenbold, der längst im Elend untergegangen wäre, wenn ihm nicht ein Engel zur Seite stände in dieser Tochter. Er hatte Verschiedenes im Leben angefangen – unbegabt war er nicht – aber Alles so nachlässig betrieben, daß er auf keinen grünen Zweig gekommen war. Auch unter die Karlisten hatte er sich anwerben lassen, und das war die Karrière des „Kriegers“, auf die Lu so gern zu seiner Entschuldigung verwies. Ueberzeugung hatte ihn dorthin natürlich nicht getrieben. Er hatte gemeint, es gebe dort mit leichter Mühe etwas zu erbeuten. Statt aber etwas zu gewinnen, hatte er dabei noch etwas eingebüßt – nämlich drei Finger der rechten Hand. Der Verlust wäre für Jemand, der Arbeit, wenn auch nicht gerade für Schande, doch für das größte aller menschlichen Uebel hält, zu verschmerzen gewesen, wenn ihn die Karlisten für den „Eifer, den er ihrer heiligen Sache bewiesen“, wie er sich ausdrückte, nur belohnt hätten. Er erwartete, daß man ihn mit einer Pension entlassen würde, die ihm einen respektablen Müßiggang gestattete.
Aber die Karlisten bedurften ihres Geldes zu höheren Zwecken, als ihren Anhängern den Verlust von zerschossenen Gliedern zu vergolden. Man behielt Mateos drei Monate frei im Lazareth, stellte ihm beim Abgange ein Attest aus, das ihn zu denjenigen Diensten empfahl, bei denen die rechte Hand nicht in Betracht kommt, und – damit Punktum.
Mateos und seine kleine Tochter wären somit genöthigt gewesen, ihr Dasein bettelnd an den Stufen irgend einer Kirche zu fristen, wenn ein Parteigänger des Don Karlos, der in Segovia einen architektonisch berühmten alten Palast besaß, nicht zufällig von dem Invaliden gehört hätte. Man schickte ihm den Mateos zu, der seine kleine Tochter an der Hand hatte. Das Kind war [53] nicht schön, aber es hatte in den Augen etwas offenes, Theilnahme Erweckendes, das für sie einnahm. Das Mißtrauen, welches der Vater einflößte, verwandelte sich in Mitleid diesem kleinen Mädchen gegenüber. Die Stelle des Kastellans in jenem Palast war durch Todesfall frei geworden, und da Mateos sie trotz der fehlenden Finger verwalten zu können schien, erhielt er sie.
Das war ein großes Glück – aber merkwürdiger Weise übte ein viel geringeres, das ihm fast zu gleicher Zeit zufiel, einen ungleich nachhaltigeren Einfluß auf sein Schicksal.
Wie fast alle Spanier, denen eine höhere Bildung und die damit zusammenhängenden Genüsse versagt sind, war Mateos dem Lottospiel mit Leib und Seele ergeben. Sein Gönner hatte ihm auf sein kleines Gehalt hin einen Vorschuß zur Anschaffung des nöthigsten Hausrathes gemacht. Er aber fand es nur ganz selbstverständlich, daß eine Terne für die nächste Ziehung in das „Nöthigste“ mit eingeschlossen wurde. Das Los kam heraus und es wurden ihm hundert Pesos fuertes[1] in gutem vollwichtigen Golde ausgezahlt.
Der Gewinn dieser für ihn ganz ungewöhnlichen Summe und der Val de Peñas[2] mit dem er ihn am Abend in Gesellschaft einiger Kameraden feierte, berauschten ihn so, daß er sich zu einem sonderbaren Handel bereden ließ. Einer seiner früheren Kriegskameraden, dem das Schicksal keinen Gönner bescheert und der somit auf Selbsthilfe angewiesen war, hatte den Plan gefaßt, nach der Havana auszuwandern, dem Eldorado spanischer Proletarier. Der Plan war immer wieder verschoben worden, weil er keinen Thoren fand, der ihm das dazu nöthige Geld borgte. Peppe Canelo – so hieß der Auswanderer in spe – hoffte diesen jetzt in dem goldgesegneten Mateos endlich zu erblicken.
Als er sich in ein paar Gläsern Muth getrunken, kam er mit dem Vorschlage heraus, sein alter vielgeliebter Kriegskamerad – die Kameradschaft war natürlich auf die Karlisten zurückzuführen – solle den Gewinn doch bei ihm als Kapital anlegen. Alle „Schätze“, die er in der neuen Welt binnen zehn Jahren damit ganz unfehlbar erwerben würde, wolle er dann mit ihm theilen.
Das war im Grunde auch ein Lotteriespiel, und deshalb reizte es Mateos. Der Freund aber, sobald er nur merkte, daß er den Schimmer einer Hoffnung auf Gelingen habe, setzte seine ganze Beredsamkeit daran, um Mateos noch denselben Abend zur Einwilligung zu bringen. Der Wein und die Mittrinkenden halfen. Es kam wirklich so weit, daß man den Schreiber Domingo von gegenüber noch aus dem Bette holte, damit er das Schriftliche dabei besorge. Man hing dem Vertrage sogar noch eine Klausel an. Des Mateos kleine Tochter war gerade sieben Jahre alt. Peppe Canelo hatte einen Sohn von zwölf Jahren, der ihn nach der Havana begleiten sollte. Was war natürlicher, als sie zu verheirathen und den „großen Reichthum“, der mit jeder Flasche zunahm, so beisammen zu halten. In romanischen Ländern sind es ohnehin meist die Eltern, welche die Ehen der Kinder schließen. In zehn Jahren, wenn das „viele Gold“ anlangte, war das ja gerade die rechte Zeit – das beste Alter für die Beiden!
Papier ist geduldig. Daß die Anwesenden nicht ganz nüchtern waren, das mochten sie mit sich abmachen. Der Schreiber Domingo war selbst in einem Zustande, wo Nachsicht bequem ist. Die Väter hielten sich selig umschlungen, als sie unterzeichnet hatten.
Den andern Morgen, als der Rausch noch nicht ganz ausgeschlafen war, nahmen sie in der Kapelle der Jungfrau von Fuencisla das Abendmahl auf ihr Versprechen. Soldatenwort ist freilich an und für sich schon sehr bindend – Gotteswort aber ist ein Kitt noch für besondere Fälle; es schien, als ob Einer beim Andern dieses Bindemittel auch nicht für unnöthig hielte. Jeder verwahrte dann seine Abschrift, und so schieden sie nach einem Abschiedstrunke, welcher dem Mateos die nüchterne Auffassung der Sache einstweilen noch fern hielt. Die kam freilich früh genug – aber sie brachte den Auswanderer und sein Geld nicht wieder zurück. Reue, die täglich bitterer wurde, folgte nun. Der kurze Besitz des Goldes hatte den alten Kriegsmann mit einer unbezähmbaren Leidenschaft nach neuem Gewinn erfüllt. Er hatte eine glückliche Hand – das war ja erwiesen. Dieser Umstand hätte müssen ausgebeutet werden. Wehe, daß er selbst die Mittel fortgegeben, die ihm das leicht gemacht hätten! Was er von dem kleinen Gehalte nur erübrigen konnte, das er vierteljährlich nächst der freien Wohnung von seinem Gönner erhielt, das trug er zum nächsten Kollekteur. Erübrigte er nichts, so sah er, von wem er wohl am besten ein paar Pesetas leihen könne. Es finden sich immer Solche, die Einem, der „feste Einnahmen“ bezieht, gegen gute Zinsen einen kleinen Vorschuß machen. Jede neue Ziehung brachte aber nur neue Enttäuschungen, Tage des Zornes und der Verwünschung. Der Auswanderer ließ nicht einmal etwas von sich hören. Freilich – er selbst hatte schreiben nicht gelernt. aber gab’s nicht draußen in der neuen Welt Schreiber so gut wie in der alten? Und konnte er den jungen Burschen nicht anstellen, den er doch hier zu den Fratres in die Schule geschickt und dessen offenen Kopf er ihm gerühmt hatte? Es wäre wohl auch endlich an der Zeit gewesen, ihm einen Vorschuß von der Havana zu schicken, auf den Gewinn hin. Canelo wußte ja aus eigener Erfahrung, wie Einem zu Muthe ist, der kein Geld im [54] Sacke hat. O - daß er diesem falschen Freunde Alles geopfert - der ihn um den großen Schatz betrogen, mit dem er so viele Lose hätte kaufen können! Jetzt war alles Glück für ihn dahin - einmal verschmäht, war es ihm untreu geworden. Alles durch Canelo’s Schuld!
So sah er die Sache jetzt an. Dabei wuchsen die Schulden und das Elend. Um es zu ertragen, stärkte er sich am Val de Peñas und fluchte kräftig auf das Schicksal, das einen so verdienten Sieger wie José Mateos in solche Noth gerathen lasse.
Und neben diesem Vater war Lu aufgewachsen, frisch, anmuthig und, was noch viel mehr sagen wollte, arbeitsam und tüchtig.
Sie hatte in der Taufe den Namen Guadalupe erhalten, nach der Schutzpatronin des nahen Klosters: Nuestra Señora de la Guadalupe.
Selbst für geduldigere Leute, als Spanier gewöhnlich sind, wäre der Name für den täglichen Gebrauch etwas umständlich gewesen. Namen sind aber nicht da, um nur Sonntags oder Festtags benutzt zu werden. So machte man Lupe daraus und als auch das noch zu lang schien: Lu, was einen entschieden chinesischen, etwas antichristlichen Beigeschmack hat. Den Segovianern aber, die wenig oder nichts von China wissen, galt der Name für gut spanisch und – dank der allerchristlichsten Abstammung – auch für besonders heilig.
Lu hatte zeitig eingesehen, daß es nicht hinreiche, die paar Cuartos[3] zusammenzuhalten, welche der Vater ihr zur Bestreitung des kleinen Haushaltes gab, sondern daß sie auch verdienen müsse. Sie hatte die leichten Arbeiten der Strohflechterei, die in Kastilien von Frauen viel gehandhabt werden, als Kind schon bewältigt und eine ganz außerordentliche Geschicklichkeit allmählich darin erlangt. Wenn sie die kleine Wohnung, die ihr und ihrem Vater in dem öden Palast angewiesen, in Ordnung gebracht, Garvanzos[4] und ein wenig Speck auf die Kohlen gestellt hatte, nahm sie schnell die Arbeit vor. Die Glocke vom Parral, dem alten Kloster, das über dem Wege lag, gab das Maß und rasch genug verflogen die Stunden. Freunde hatte sie nur wenige, denn jeder floh das Haus, um dem rohen Vater nicht zu begegnen. Auch Concha’s Eltern hatten um dieser Ursache willen den Umgang ihrer Tochter mit Lu zu den verbotenen Dingen gemacht. Concha war aber ein echtes Evaskind. Das Verbot schien ihren ursprünglichen Geschmack für die Schulfreundin – die Kinder hatten den Weg zu den Augustinerinnen über dem Wasser immer gemeinschaftlich gemacht und beide gleich wenig dort gelernt – zu einer wahren Leidenschaft erhöht zu haben. Concha liebte und bewunderte ihre Freundin, in der sie eine Märtyrerin des alten Mateos erblickte, und that ihr Bestes, das Martyrium täglich unerträglicher zu machen, indem sie den Vater gegen das arme Mädchen herabsetzte.
Der Alte, so roh und wüst er war, vergalt der Tochter kindliche Treue durch eine gewisse Rücksicht; er fluchte etwas weniger in ihrer Gegenwart, ausnahmsweise gab er ihr sogar ein gutes Wort. Auch war sie, nächst den Lotterielosen, ihm entschieden das Liebste in der Welt, obgleich er um dieser Liebe willen seinen Charakter natürlich nicht änderte. Jetzt machte sie ihm manche sorgenvolle Stunde. Wie, wenn der Gewinn gar nicht einträfe – er hatte den Gedanken daran fast aufgegeben – wenn der alte Canelo aber trotzdem den Sohn schickte, um ihm die Tochter wegzuholen, seine aufmerksame, fleißige Wirthschafterin? Canelo hatte ein Recht dazu – es war keine Summe in der Klausel festgesetzt worden. In solchen Augenblicken – und sie waren jetzt nicht selten, wo die zehn Jahre um – packte es ihn sogar manchmal wie Verzweiflung. Dann faßte er nach Lu’s Hand und sah sie geängstigt an. Sie verstand ihn nicht. Der Vater hatte ihr wohl von seiner „Großmuth“ gegen den falschen Freund gesprochen, aber nie von dem Uebereinkommen, das ihre Zukunft betraf. Sie lachte ihn sogar aus oder zog ihm die Schleife seiner abgetragenen Kravatte auf, um sie von Neuem zu knüpfen. „Ich will Staat mit Dir machen, alter Papa!“ rief sie und versuchte die tiefen Furchen seiner Stirn mit ihren weichen Fingern zu glätten, oder sie tanzte gar vergnügt mit ihm in der Stube herum.
Denn Lu hatte sich auf ihrem Kehrichthaufen noch nie so wohl befunden, als gerade jetzt.
Das hatte seinen Grund, und zwar einen sehr naheliegenden. Der Grund aber wandelte in Gestalt eines jungen Baumeisters seit einigen Tagen in dem alten Palaste herum, maß und berechnete. Der Besitzer hatte ihn mit einem Briefe an José Mateos geschickt, damit dieser dem Felipe Currito in allen Stücken zu Diensten sei, wenn er in seinem Auftrage den Kostenüberschlag für die in einem Flügel des Gebäudes nöthigen Reparaturen mache.
Lu war gerade mit ihrer Arbeit fortgegangen, als er sich dem Vater vorgestellt hatte, und als sie spät am Abend zurück kam, fand dieser es nicht nöthig, sie von dem Ereigniß in Kenntniß zu setzen. Die Sache war ihm unangenehm. Ein so naher Beobachter konnte Manches an den Tag bringen, was ihm bei seinem Gebieter schade. Je weniger man sich aber mit einer unangenehmen Sache beschäftige, je besser. Lu saß deßhalb sehr unbefangen am nächsten Morgen an ihrer Arbeit. Die Frühjahrssonne fing schon an unbequem zu werden, und sie hatte sich einen schattigen Platz ausgewählt, dicht an der Fontaine des von den Gebäuden eingeschlossenen Hofes. Ein alter, jetzt in Blüthe stehender Kastanienbaum, der für den engen Raum sich fast zu weit ausgebreitet, ließ kaum einen Sonnenstrahl durch sein dichtes Laub. Lu hatte es recht nöthig, fleißig zu sein, es fehlte an Allem jetzt im Hause. Der Vater hatte eben, als sie ihn um ein paar Realen gebeten, mit einem Fluche die leere Schublade aufgezogen, in der er sein kleines Einkommen verwahrte, und sie gefragt, ob sich da etwas herausnehmen lasse?
„Ich muß die Arbeitszeit verlängern, oder die bittere Noth zieht bei uns ein!“ dachte Lu, und die Hände bewegten sich noch schneller als gewöhnlich, während sich tiefer Ernst auf die jungen Züge legte.
Felipe Currito, der fremde Baumeister, war da von ihr unbemerkt durch die Rotunde, welche das Portal mit diesem Hofe verbindet, eingetreten und hatte sie eine Weile mit festem, untersuchendem Blicke angesehen, wie Jemand, der einen Gegenstand betrachtet, an dem er großes Interesse nimmt.
Es liegt etwas Magnetisches in solchem Blick. Lu mußte unwillkürlich aufsehen und begegnete dabei zwei dunklen Augen, vor denen sie die ihren schnell wieder auf die Arbeit senkte. Sie hatte dem Besitzer dieser Augen nicht einmal Gelegenheit zu einem Gruße gegeben.
Was wollte er? Er war in das Haus gekommen, ohne die Klingel zu ziehen – sah er sie noch immer an?
„Guadalupe,“ rief der Vater da, der mittlerweile auch in den Hof getreten war, „unsere Excellenz hat dem Señor Currito“ – so stellte er den Fremden vor - „den Auftrag gegeben, die Molche und Eidechsen aus den alten Mauern auf jener Seite zu vertreiben und neue Wände aufzuführen. Aber der Herr wird’s nicht lange bei uns aushalten; es ist kein Vergnügen dabei; die Excellenz wird auch nicht leicht jemand finden,“ setzte er in grämlichem Tone hinzu, „der so geduldig wie wir in diesem Gefängniß Wache hält.“
„Man kann überall glücklich sein,“ sagte das junge Mädchen, welches die Worte gern mildern wollte.
„Und sind Sie hier glücklich?“ richtete der Fremde zum ersten Male das Wort an sie.
Die Stimme hätte ihr schon gefallen; sie hatte einen tiefen, wohlthuenden Klang. Wenn nur die forschenden Augen nicht gewesen wären, vor denen sie sich fast zu fürchten anfing. Sie hätte die Frage über ihnen beinah vergessen, aber er wiederholte sie: „Sind Sie hier glücklich?“
„Warum sollte ich es nicht sein?“ erwiderte sie ausweichend. „Andere kommen ja weit her, um die alte schöne Stadt nur einmal zu sehen, in der wir immer wohnen können – ist es nicht so?“
„Ja, eine Stadt, die über zweitausend Jahre alt ist, scheint es auch werth, daß man sie ansieht ...“
„Zweitausend Jahre!“ rief sie verwundert, ohne die Zahl eigentlich zu begreifen.
„Aber wer hier geboren ist,“ fuhr er fort, „den treibt es dafür hinaus. Wer eine Weile auf diesem hohen Felsen [5] genistet hat, der sehnt sich in die Ebene zu kommen.“
„Ich kenne das flache Land nicht,“ erwiderte Lu, welche anfing, sie wußte selbst kaum warum, recht zutraulich zu werden, [55] „aber ich habe gehört, daß es Gegenden giebt, wo man nie einen Berg, oder auch nur den kleinsten Hügel erblickt; ich möchte da nicht leben, denn ich liebe unser hohes Nest, das manchmal mitten in den Wolken steckt und von dem man, wenn’s klar ist, die Sonne, soweit als die Brücke[6] reicht, scheinen sieht über Felder und Wiesen und alle die Mühlen, welche die Eresma im Thale treibt.“
„In der Ebene bauen die Menschen dafür Kathedralen mit hohen Thürmen, welche statt der Berge bis an die Wolken reichen und von denen man das Land überschaut,“ sagte Felipe und fing an von seinen Reisen zu erzählen; es schien, er hatte bereits ein gut Stück Erde gesehen. Zum ersten Mal vergaß Guadalupe die Arbeit über einem Gespräch.
Der Vater, der seinen „Feldzug“ mitgemacht und dem natürlich so ein Grünschnabel nichts Neues sagen konnte, war längst ins Haus gegangen. Mochte er sich mit der Tochter amüsiren, ihm war’s schon recht, vielleicht machte ihn das einmal nachsichtiger gegen die Schwächen des Vaters. Daß er als Vater ein wachsames Auge auf die Beiden haben wollte – ei, das verstand sich ganz von selbst.
So waren ein paar Tage vergangen, und Lu hatte einen Freund gefunden, der ihr mit jedem dieser Tage lieber geworden war. Natürlich nahm Concha an dem wichtigen Ereigniß das größte Interesse. Sie mußte in alle Einzelheiten eingeweiht werden.
„Schön? Nein - schön ist er nicht gerade,“ berichtete Lu, „er hat ein Paar dunkle, kluge Augen und eine hohe Stirn, der Mund ist etwas groß und die Haut sehr braun, als ob die Sonne sie verbrannt. Ach, wenn er nur nicht so fleißig wäre!“
„Warum?“
„Nun - weil er mit seiner Arbeit dann schnell fertig sein wird und ...“
„Wirst Du sehr traurig sein wenn er fortgeht, Lu?“
„O nein“ - erwiderte diese und richtete sich auf, als schäme sie sich, über einer Schwäche betroffen zu sein, „o nein - es ist nur, wenn man so einfältig wie wir aufgewachsen ist, gar so angenehm, Jemand neben sich zu haben, den man über Alles fragen kann. Und denke nur, er hat selbst den Papa gewonnen. Papa ist gestern Abend zum ersten Male zu Hause geblieben, seit so langer Zeit! Und er schien ganz glücklich ... wir Alle waren es. Ach Concha, ich glaube, in meinem Leben war ich noch nicht so glücklich!“
Während die beiden Mädchen sich so unterhielten, hatte der Postbote dem Mateos einen Brief gebracht.
„Gevatter José,“ schrie der Briefträger und schwenkte ihn, „der Brief kommt von weit her, und wenn er voll Geld ist“, denn Mateos hatte unterschreiben müssen, „so vergeßt nur nicht, daß die Luft durstig macht!“
Aber José Mateos war nicht in der Stimmung, Andere glücklich zu machen. Es war Ziehungstag gewesen und das ungerechte Geschick hatte den verdienten Krieger abermals mit einer Niete bedacht. Er starrte das Siegel noch an, als der Briefträger, des Wartens müde, schon wieder auf der Straße war. Er fürchtete sich, es aufzubrechen, und als er das endlich gethan, fürchtete er sich wieder vor den geschriebenen Worten, als könnten sie ihm ein Leid anthun. Langsam, das Lesen war ihm eine sehr ungewohnte Beschäftigung, buchstabirte er sich durch die Ueberschrift:
„Unvergeßlich – sein Gedächtniß muß nur für die Schaltjahre eingerichtet sein!“ brummte er.
Und dann, ehe er weiter las, lief er nach der Thür und schloß sie ab. Wenn Lu, die von dem Handel, soweit er sie betraf, nichts wußte – der Schreiber Domingo war längst mit Tode abgegangen und von den damaligen Kameraden war keiner am Ort - ihn überraschte! ..
Statt der Unterschrift dasselbe Zeichen, wie der Canelo damals unter den Vertrag gesetzt. Kein Irrthum, der Brief kam von Peppe Canelo, sein Herz begann heftig zu schlagen.
Geld, er untersuchte das Kouvert noch einmal sorgfältig, Geld lag nicht darin. Warum also schreiben? Und wie Leute, denen Briefe ungewohnte Ereignisse sind, vergaß er, daß er die Erklärung vor sich hatte, und begann zu grübeln, was den Canelo wohl zum Schreiben veranlaßt habe, wenn er ihm doch kein Geld schicken könne.
Endlich ermunterte er sich und las wie folgt:
Ich habe schlimme Zeiten gesehen, und wenn ich bis jetzt nichts mit Dir theilte, so war es, weil ich nichts zu theilen hatte. Das Land hier ist nicht so übel, wenn man bedenkt, was Alles darin wächst, besonders die besten Tabaksblätter. Nur dürfte die Sonne nicht so stark scheinen, sie brennt einem alle Kourage aus den Gliedern.
Von wegen Deines Geldes melde ich Dir, daß die Reise wenig übrig ließ, und im Spital, wohin sie mich bald nach meiner Ankunft brachten, hätte ich noch zusetzen müssen, wenn ich’s nur gehabt! Seit zwei Jahren ist es mir aber besser gegangen, und Du sollst erfahren, daß ein rechtschaffner Soldat zu seinem Worte steht und der Christ das hält, was er beim Sakrament beschworen hat. Mein Sohn Lopez ist ein Mann geworden, der Dir als Schwiegersohn Ehre machen wird. Der Onkel Metelin hat ihn eingeladen, ein paar Tage in Vigo bei ihm zuzubringen, wo er sich ausschifft. Aber er wird bald nach dem Briefe sich bei Dir einstellen und Dir 1857 Pesos fuertes übergeben sammt der Berechnung, damit Du siehst, daß die Theilung gerecht war. Vom Schwager Metelin habe ich auch erfahren, daß Guadalupe gar anmuthig aufgewachsen ist, denn er hat Freundschaft in Segovia, die es ihm mitgetheilt. Das war mir lieb zu hören. Denn wie ich in allen Stücken zu unserm Vertrage stehe, vom ersten bis zum letzten Punkte, also erwarte ich es auch von Dir. Und zwar, daß, wenn Du meinem Sohne das Kind nun nicht geben wolltest, ich frei und ledig aller Zusage wäre und mein Geld behielte.
Dein treuer Freund und Kamerad
[63] Der Gedanke, 1857 Pesos als Eigenthum bar ausgezahlt zu bekommen, ließ José Mateos für den Augenblick jede andre Bedingung des alten Vertrags vergessen, namentlich die, welche sein Freund Canelo betreffs der beiderseitigen Kinder in dem Briefe noch besonders erwähnt hatte. Er hatte in den letzten zehn Jahren keinen sehnlicheren Wunsch gekannt, als noch einmal im Besitze seines schönen Goldes zu sein. Wie oft hatte er sich seitdem vergegenwärtigt, was für ein köstlicher Anblick es für ihn gewesen, als der alte Gasper Yelvez, der Kollekteur, ihm seinen Gewinn damals auf den Tisch zählte! Zehn kleine Häufchen Goldes! Die Reue, es fortgegeben zu haben, er war ihrer ledig, das schöne Gold kam wieder!
Wenn er die ihm täglich drückender werdende Last seiner Schulden abgetragen, so blieb ihm mehr als dreimal so viel wie der damalige Gewinn übrig … Die finsterblickenden Augen klärtem sich seit langen langen Tagen zum ersten Male wieder in einen freudestrahlenden Blick …
Es war eine gute Weile vergangen, ehe es ihm nur einfiel, daß seine Tochter mit der Sache auch etwas zu schaffen habe. Aber als er sie jetzt mit in Berechnung zog, wurde sein Glück dadurch nicht mehr gestört.
Mädchen sind fürs Heirathen bestimmt – die Aussicht auf eine gute Heirath kann also nur erfreulich wirken. Ich werde Lu glücklich machen, wenn ich ihr die Verbindung mit diesem trefflichen Lopez ankündige. Canelo lobt ihn ja, und der muß ihn natürlich am besten kennen. Die Trennung wird ihr anfangs schwer ankommen – aber es ist ja in dem Briefe gar nicht die Rede davon, daß Lopez nach der Havana zurückkehren soll – vielleicht kommt es nur darauf an, ihm eine Stellung in Segovia zu suchen – und da muß man sich eben umthun! Lu ist stets ein gutes und gehorsames Kind gewesen – sie wird nun, wo das Schicksal endlich einmal Einsehen mit meinem Verdienst hat, mir die Freude daran nicht verderben!
So beruhigte Mateos sich. Er wollte ihr nicht gleich die volle Wahrheit mittheilen, aber sie noch denselben Abend etwas auszuhorchen, schien ihm geboten.
Und so packte er seinen Brief zusammen und ging hinunter an die Fontaine, wo sie, wie immer, arbeitete.
Felipe stand richtig wieder neben ihr! Gut, daß morgen die Zeit um war, wo der galante Baumeister im Schlosse zu thun hatte – das fehlte noch, daß sich ein Anderer jetzt aufspiele und ihr den Gehorsam schwer mache! Sie hatten sein Kommen nicht bemerkt; er war noch von der Thür gedeckt.
Felipe hatte den Platz verlassen, an dem er gezeichnet, und war Lu gegenüber getreten. Aber er hatte nicht mehr den ruhig forschenden Blick, mit dem er sie zuerst betrachtet, es lag jetzt etwas wie verhaltene Gluth darin. Sie arbeitete noch, obgleich die Dämmerung bereits angebrochen war. Die Finger, welche stets den gleichen Griff ausführen, lassen den Augen wenig zu thun übrig.
„Sie sollten endlich Ruhe geben,“ hörte Mateos Felipe sagen „die Hände müssen vom Brechen der spitzen Halme ohnedies schmerzen … Meine Zeit ist nun bald um“ – er sprach ruhig, und doch lag etwas in der Stimme, was Lu’s Herz erbeben machte – „und ich bin noch nicht einmal ins Thal gekommen; wollen wir zusammen nach Fuencisla hinunter gehen?“
„Papa hat es nicht gern, wenn ich spazieren gehe ohne ihn.“
„Natürlich nicht,“ fuhr Mateos schnell dazwischen, „die jungen Dinger gehören zum Vater, wie die jungen Lämmer zum Hirten – der Vater weiß allein, was ihnen gut ist … Das Geschäft beendet, Herr Baumeister?“ fügte er mit einem Blick auf Felipe’s kleine Staffelei hinzu.
„Ja,“ erwiderte Felipe, „ich habe längst Feierabend gemacht, nur die Señorita will sich keine Ruhe gönnen.“
„So gehört sichs, so gehört sichs,“ entgegnete der Alte mit einem wenig einschmeichelnden Tone, „beim Frauenzimmer müssen die Hände immer thätig sein – feiern die Hände, so arbeitet der Kopf, und der steckt bei ihnen voll thörichter Gedanken.“
Und damit, ohne die fleißigen Finger in ihrer Bewegung zu stören, legte er seine Hand auf Lu’s Schulter und dirigirte sie langsam, aber sicher nach der Thür. „Gute Nacht, Herr Baumeister, gute Nacht!“
Lu erwiderte den Gruß des jungen Mannes mit einem etwas ernsten Blick, aber sie leistete der Bewegung des Vaters keinen Widerstand.
„Es thut mir leid, daß dieser – dieser Felipe Currito hier eingetroffen ist. Ein vorlauter Bursche, würde gern den Herrn spielen!“ brummte Mateos, sobald sie ins Zimmer traten.
„Warum, mein lieber Papa? Er arbeitet fleißig und behandelt mich achtungsvoll. Ach, und wenn Du wüßtest, was ich Alles von ihm gelernt habe!“
„Gelernt? Ich will nicht hoffen, daß Du von ihm etwas annimmst! Ein ganz schwächlicher Mensch – was ist das für eine Profession, den Ratten und Mäusen in alten Gebäuden nachzujagen – die Luft zu messen und über zerbrochene Azulejos[7] in Bewunderung zu gerathen. Du machst Dich über ihn lustig – nicht, Lu?“
„Nein, ich habe nicht gesagt, daß ich mich über ihn lustig mache, im Gegentheil, ich – ich halte viel von ihm – und …“
Der Alte schlug heftig auf den Tisch. „Was für ungereimtes Zeug Du sprichst! Laß mich nicht denken, daß Dir der Mensch etwas gilt! Was für Dich gehört, weiß ich am besten. Der Felipe nicht, das nimm als Warnung!“
Lu bebte. Was wollte der Vater mit seiner plötzlichen Heftigkeit? Ihr den Abschied von Felipe noch schwerer machen, indem er diesen schmähte? Aber sie schwieg, sie wußte, daß sein Zorn sich am schnellsten legte, wenn er durch Widerstand nicht gereizt wurde.
Als er sie so geduldig sah, obgleich es wie Schmerz um ihre Lippen zuckte, überkam ihn Reue. Das war doch vielleicht nicht die rechte Art, sie für den ausgezeichneten Sohn des alten Canelo zu gewinnen. Er mußte sie zarter anfassen. Und so ging er langsam auf sie zu, nahm plötzlich ihre Hand und begann sie leise zu streicheln.
Bei der ungewohnten Liebkosung löste sich der Gram des armen Mädchens in Thränen, die sich langsam die Wangen herab stahlen.
„Du sollst glücklich werden, Lu!“ rief er, als hielte er Lu’s Glück zur Vertheilung bereits sicher in der Hand. „Du sollst bald sehr glücklich werden Kind!“ und wie segnend legte er zum ersten Male seine Rechte auf ihre Stirn.
Sie faßte nach der Hand und zog sie an ihre Lippen, aber die Thränen hörten trotzdem nicht auf zu fließen.
Der Gedanke an das viele Geld, das er im Geiste schon wieder vor sich sah, trug natürlich wesentlich dazu bei, Mateos’ Zorn so schnell zu besänftigen und ihn in diese glückverheißende Stimmung zu versetzen.
[64] „Ich will Dein wahres Wohl,“ fing er an seine Strenge vor ihr zu rechtfertigen, „dieser vornehme Baumeister würde nie daran denken, des Kastellan Mateos Tochter zu heirathen. Und Dich zum Narren zu halten, Dir den Geschmack an einem Anderen zu verderben – nein, das soll ihm nicht gelingen, solange Mateos die Augen noch über seiner Guadalupe aufhält.“
Der verdienstliche Krieger hatte nie höher in seiner eigenen Achtung gestanden, als nach dieser gefühlvollen Anrede, nur trug sie leider wenig dazu bei, das Herz seines Kindes zu erleichtern.
Mateos stand am andern Morgen etwas zeitiger als gewöhnlich auf, um mit Lu nun von der Sache selbst zu reden. Wie er vor ihre Thür trat, überfiel ihn ein eigenthümliches, ihm ganz ungewohntes Bangen. Es war besser, sich erst Muth zu trinken, und das that er natürlich. Er hatte sich gestern in Aussicht der goldenen Ernte aus der Havana vom Nachbar ein paar Flaschen Wein geholt. Eine davon trank er jetzt. Der Durst war trotzdem immer noch nicht ganz gelöscht und der Muth auch noch nicht so gehoben, als er wünschte. Niemand konnte es ihm deßhalb verdenken, daß er zur Sicherheit die zweite Flasche mitnahm. Canelo’s Brief hielt er offen in der Hand; es sollte den Anschein haben, als ob er ihn eben erhalten, und nicht, als ob er ein paar Stunden angstvoll darüber zugebracht, auf welche Weise er ihr den Inhalt versüßen könne.
Lu, wenn auch aus anderen Gründen, als der Vater, hatte ebenfalls nicht viel geschlafen. Aber sie hielt nichts davon, ihre Pflicht über ihren Kummer zu vernachlässigen. Die Frühstücks-Schokolate stand schon auf dem Tisch, der sanber wie immer gedeckt war.
„Guten Morgen, Lu, heut laß mich fürs Frühstück sorgen!“ rief Mateos, als er eintrat, und versuchte durch eine angenommene Lustigkeit des letzten Restes von Befangenheit, die ihn der ernsten Tochter gegenüber wieder befallen wollte, Herr zu werden. „Freue Dich, Herz, und gieb mir zu trinken ... da ist Wein und eine gnte Nachricht, Du sollst auch einen Schluck haben – folgsame kleine Lu soll ihres alten Vaters Freude theilen!“
Sie sah es dem Vater gleich an, daß er der Freude zu Ehren schon ein paar Gläser geleert habe; ihm in einem solchen Zustande etwas abzuschlagen, hätte sie nicht gewagt. Sie nahm deßhalb zwei Gläser aus dem Schranke, von denen sie das eine voll goß und in das andere ein paar Tropfen schenkte.
Er winkte sie neben sich, hob das volle Glas auf, blinzelte es begehrlich an und leerte es dann auf einen Zug.
„Du bist siebzehn Jahre alt, Maria de la Guadalupe,“ fing er an; bei der feierlichen Gelegenheit hielt er es für geboten, sie mit ihrem vollen Namen anzureden, „und es sind noch Andere, die sich daran erinnern, wenn ich es vergessen sollte. Weißt Du, was das bedeutet?“
Sie erglühte. Sollte Felipe bereits mit dem Vater gesprochen haben? Ach, das Glück wäre gar zu groß, aber sie glaubte daran noch nicht und schwieg.
„Das bedeutet, daß Du fünf Jahre jünger bist, als Lopez Canelo, und hier ist ein Brief, in welchem sein Vater schreibt, daß er jetzt zweiundzwanzig Jahre zähle, verstehst Du mich?“
Die Sache, insofern man sie nur als einfache Subtraktion auffaßte, war allerdings nicht so schwer verständlich. Er hatte ihr zudem, um jeden Zweifel zu heben, auch noch den Brief in die Hand gedrückt, den sie mechanisch in die Tasche schob.
Lu aber war bei dem fremden Namen bleich geworden; sie konnte wieder nur mit dem Kopfe schütteln.
„... Das ist so aufzufassen,“ fuhr der Alte fort, der sein Glas abermals bis auf einen kleinen Rest geleert hatte. „Als Du noch nicht höher warst, wie so,“ seine Hand beschrieb ein etwas schwankendes Maß in der Luft, „ging Peppe Canelo, mein bester Freund, mein guter treuer Canelo fort nach der Havana mit hundert Pesos meiner Habe, die ich ehrlich gewonnen hatte ... verstehst Du?“
„Ja, so war es, Vater,“ sagte Lu, welche von der „edlen“ That oft genug gehört, wenn auch in einer für Canelo weniger schmeichelhaften Auffassung. Mateos mußte sich wieder durch ein neues Glas stärken, ehe er fortfuhr:
„Und es war Alles zu Papier gebracht von Domingo Escribano, der Herr habe ihn selig dafür, nämlich, daß Canelo in zehn Jahren mit mir theilen solle allen Gewinn, den er mit den hundert Pesos machen würde ... Eine edle Handlung und eine gute Anlage, he, Guadalupe?“
Das arme Kind sah nur stumm, aber mit angstvoller Erwartung zu ihm auf.
„Noch ein Glas, da, trinke einmal! Kleine folgsame Lu wird glücklich werden. Ach, was wirst Du glücklich werden!“
„Nein!“ rief sie jetzt, „das ist noch gar nicht so bestimmt – erst muß ich wissen ...“
„Laß mich doch ausreden ...“ fiel er mit schon etwas schwerer Zunge ein, „Du unterbrichst mich immer – man muß die Leute ausreden lassen, also ... wo war ich doch?“
„Bei dem, was Domingo aufschrieb,“ half sie schnell ein, denn es drängte sie, endlich das furchtbare Ende zu erfahren.
„Richtig! Domingo Escribano also schrieb nieder, daß, weil der Mensch das doch am sichersten hält, was zu seinem eigenen Vortheil ist, und weil Kinder ein Stück von einem selbst sind ... und weil Canelo gerade einen Sohn hatte, fünf Jahre älter als Du – und ich hatte Dich ... also beschworen wir’s, daß, [65] wenn die Kinder lebten – und damit das viele Geld zusammen bliebe … Du verstehst mich doch?“
„Vater!“ schrie sie auf einmal auf, „Du willst damit doch nicht sagen, daß Du mich dem Lopez Canelo zugeschworen hast?“
„Wie gesagt, mit Handschlag gelobten wir uns und nahmen das heilige Abendmahl darauf – und ein Schurke wäre der, der sein Wort nicht hielte – denn Kinder sind ein Eigenthum, mit dem man nach Belieben schalten kann …“
„Vater! Du wirst mich dem Fremden nicht mitgeben wollen!“
„Unterbrich mich nicht. Morgen vielleicht schon kommt Lopez Canelo … und die kleine folgsame Lu wird Hochzeit machen ...“
„Mit Lopez, den ich nicht liebe?“
„Du wirst es lernen.“
„Nie!“
„Lu,“ rief er und schwankte der Thüre zu, an der er sich noch einmal umwandte, „Du kennst einen alten Soldaten noch nicht! Das Ehrenwort! Du wirst einen alten Soldaten nicht wortbrüchig machen … nein, das wirst Du nicht!“ … hier fing er auf einmal an zu weinen und taumelte dann unsicher hinaus.
Lu hatte die Hände fest ineinander gefaltet und starrte eine Weile mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin. Dann nahm sie den entsetzlichen Brief vor und begann ihn zu lesen. So hatte der Vater sie damals also verkauft, für 1857 Pesos war sie das Eigenthum eines fremden Mannes geworden, der sie in sein fernes Land nehmen konnte, obgleich sie ihn nie, nie lieben würde ...
Mußte sie gehorchen? Gab es keinen Ausweg? Zum ersten Male hatte sie einen Konflikt der Pflichten vor sich, und solche Konflikte – ohne den Menschen wesentlich zu ändern – geben ihm Gelegenheit, die in ihm schlummernden Keime zum Guten oder Bösen zu entwickeln. Sie war in so tiefe Gedanken versunken, daß sie ihrer Freundin Eintritt gar nicht bemerkt hatte.
Concha, welche nach dem letzten Geständniß sehr begierig war zu wissen, ob sich nicht wieder etwas Wichtiges zugetragen, hatte kaum erfahren, was für eine neue Sorge der alte Mateos über ihre liebe Guadalupe gebracht, als sie in den leidenschaftlichsten Zorn ausbrach.
„Aber Du darfst nicht geopfert werden,“ rief sie, „es ist zu grausam! Du sagst: ich will nicht, basta! Ich weiß gewiß, daß ich mich nicht zwingen ließe. Und mein Papa wird diesem Señor Mateos seine Meinung schon sagen, wenn ich ihn bitte, daß er sich Deiner annimmt …“
„Denke doch nur, Concha, daß mein Vater einen Schwur gethan hat, Du weißt, was das heißt! Erinnerst Du Dich nicht, was die Schwester Paula uns von Jephta erzählt hat, dessen Tochter auch geopfert werden mußte?“
„Ach, ich will von diesen alten Geschichten gar nichts hören! Jephta, das war ein Feldherr, dessen Wille mußte natürlich geschehen. Aber wenn Jephta nur ein Kastellan gewesen wäre, so hätte ihm seine Tochter nichts vorgetanzt und hätte sich noch weniger opfern lassen.“
„Bedenke doch, wenn Dein Vater in der Kirche etwas beschworen hätte und könnte es um Deinetwillen nicht halten! Wolltest Du Schande und Gewissensbisse über Deinen Vater bringen?“
„Mir scheint, daß, wenn Einer Unrecht thut, so soll er nicht einen Andern dafür schlagen lassen.“
„Aber, Concha, er hat nicht gemeint Unrecht zu thun. Er hat geglaubt, daß es zu meinem Besten wäre, wenn er mich dem Lopez verspräche; er dachte, daß es mich glücklich machen würde.“
„Zu Deinem Besten! Heilige Jungfrau – er hat an sein Geld gedacht, und daß Du immer ein Engel für ihn sein würdest, wie Du schon damals warst. Aber wenn der Andere – Du weißt, wen ich meine – wenn der auch von dem Lopez nichts wissen wollte?“
„O, sprich nicht davon, Concha, es darf nicht sein … Denke Dir, ein Kind, das Fluch auf seinen Vater ladet … wie könnte, es je glücklich sein – je die Augen zum Himmel aufheben und beten … Da – lies den Brief, Du wirst sehen, daß ich nicht anders kann.“
Der fürchterliche Brief! Concha betrachtete ihn mit Grausen, als ob die Schrift kabbalistische Zeichen enthielte, welche das Unglück herauf beschworen hätten.
„Was hast Du Deinem Vater geantwortet?“ frug Concha, als sie sich mühsam durch das Dokument durchbuchstabirt.
„Er verlangte keine Antwort; er verlangte nur Gehorsam.“
„Und natürlich wirst Du gehorchen, denn Du bist viel zu gut. Du bist eine Heilige, und Heilige ließen sich immer martern, von Felsen herunterstürzen und geduldig schlachten! Ich werde noch zu Dir beten, meine heilige, süße Lu!“
Und das lebhafte kleine Ding warf sich vor der Freundin nieder, legte ihren Kopf in deren Schoß, umklammerte ihre Kniee und bedeckte ihre Hände mit leidenschaftlichen Küssen.
Plötzlich sprang sie auf.
„Du weinst!“ rief sie, denn sie hatte zwei heiße Tropfen auf ihrer Stirn gefühlt. „O, weine nur nicht, ich will mit Lopez reden, ja, ich werde es thun! Ich werde ihm sagen, daß Du [66] ihn nicht lieben könntest, daß er Dir widerwärtig sei und daß ein Anderer ...“
„Still, Concha, ich bitte Dich, um Gotteswillen mache meinen Entschluß nicht noch schwerer.“
„Aber,“ rief Concha plötzlich, als ob ein glücklicher Gedanke sie erleuchte, „wenn Lopez Dich nun auch nicht gern hätte – denn es ist ja nur sein Vater, der geschrieben – dann gäbe der schreckliche Mensch Dich doch vielleicht frei!“
„Willst Du mir einen Gefallen thun?“
„Alles, was Du willst.“
„So sage nichts Schlimmes von Lopez, bis er wirklich kommt. Vielleicht ist es ihm eben so hart zu gehorchen, wie mir.“
Das war ein schweres Versprechen für das lebhafte Mädchen, aber sie ließ es sich endlich doch entreißen.
Die arme Lu - als der Vater jetzt mit einem zweiten Briefe zu ihr trat, den er ihr zu beantworten übergab – schien es ihr fast, als ob sie den Scheiterhaufen, auf dem sie geopfert werden solle, auch anzuzünden habe. Der Brief war von Lopez selbst und an Lu gerichtet. Er meldete seine Ankunft für den nächsten Tag, falls er dem „ehrenwerthen Pathen“ und seiner „schon aus der Entfernung geliebten Guadalupe gelegen komme“.
Gelegen! Als ob die Hinrichtung dem Verurtheilten je gelegen kommen könnte.
„Meine kleine fügsame Lu wird den Brief beantworten,“ sagte der Krieger, welcher renommirte, daß er nur mit Blut zu schreiben verstehe, eine Tinte, welche hier nicht besonders zu empfehlen war. „Das hilflose Kind, für das ich Nächte durchwacht, wird dem alten Vater nicht mit Undank lohnen – sie wird ihm die Schmach ersparen, einen falschen Eid geleistet zu haben!“
„Was muß ich schreiben?“
„Du sollst ihn willkommen heißen. Wenig Worte, aber gastfreundliche Worte. Er soll von diesem seinem Hause und von diesem seinem Herzen Besitz nehmen.“
„Ich kann nicht lügen.“
„Gastfreundschaft – nichts weiter.“
„Mein Vater trägt mir auf, Ihnen zu schreiben, daß er sich freuen wird, Sie morgen zu empfangen,“ schrieb Lu – hier stockte die Feder.
„Weiter,“ rief ihr Peiniger, „willst Du, daß er auf halbem Wege umkehrt?“
„Er ist bereit,“ fuhr das arme Mädchen fort, „sein Versprechen in allen Stücken, auch soweit es mich anlangt, zu erfüllen.
Ihre Guadalupe.“
Nein, es war ihr nicht möglich, mehr zu sagen, sie wollte gehorsam sein, aber nicht lügen, nur das nicht.
Der verhaltene Schmerz, ein stolzer Zug, der sich früher nicht gezeigt, gab ihrem Gesicht einen ungewohnten, fast verklärten Ausdruck. Der Alte war befriedigt, sie mußte Lopez so gefallen. Er nahm den Brief, in dem er es Schwarz auf Weiß hatte, daß sie einwilligte. Und er kannte sie; was sie zusagte, war gewiß. Nun durfte er es auch wagen, sie zu verlassen und den Brief selbst nach der Post zu tragen. Der „galante Baumeister“ war jetzt nicht mehr zu fürchten.
Felipe hatte Lu den ganzen Tag vergeblich auf dem gewohnten Platze im Hofe erwartet. Er mußte mit ihr reden. Kam der Alte ihm nicht in die Quere, so hätte er es gestern schon gethan. Kaum sah er Mateos mit dem Briefe aus dem Thore treten, so war er an Lu’s Zimmer.
Die Thür war nur angelehnt. Sie hatte sein leises Klopfen überhört, als er eintrat, denn in tiefen Gedanken, wie versunken, saß sie in der Fensternische. Erst als er ihr nah getreten, erhob sie den Kopf ein wenig.
„Sie sind es, Señor Currito!“ sagte sie mit geängsteter Stimme.
„Ja,“ rief er eifrig, „ich bin es! Ich bin Ihnen hierher gefolgt, weil – weil ich Sie sehen mußte, ehe wir jetzt scheiden – weil ich Ihnen sagen will ...“
Er stand mit entschlossener Haltung vor ihr, die Arme verschränkt, freudige Zuversicht im Blick.
„Nein – nein!“ rief sie fast flehend ihn unterbrechend. „Sagen Sie mir nichts, denn ich darf es nicht hören.“
Als sie zu ihm aufsah, bemerkte er Spuren von Thränen in ihren Augen.
„Aber Sie sollen mich hören!“ und er hielt plötzlich ihre widerstrebenden Hände in den seinen, „Guadalupe, ich habe Sie lieb – es ist nur eine kurze Zeit, daß wir uns kennen, aber mein Herz gehört Ihnen – wollen Sie mein Weib werden?“
„Ich kann – ach – ich darf nicht!“ Ihre Stimme klang halb gebrochen, eine große Thräne fiel auf die Hand, welche die ihre fest umschlossen hielt.
„Sie weinen, Guadalupe,“ rief er, ohne ihre Worte zu beachten. „Sie sind unglücklich – ich will wissen warum ... das Unglück ist erst seit gestern eingetroffen, denn vorher sah ich Sie nur heiter ... was bedrückt Sie? – ich liebe Sie und habe ein Recht zu wissen, was Sie quält.“
Keine Antwort.
„Geliebte –“
Sie fuhr bei dem Worte zusammen. „Nennen Sie mich nicht so,“ bat sie.
„Warum nicht? Denn ich verlange den Grund zu wissen. Das Verbot ist keine Antwort auf meine Frage - noch einmal, Guadalupe, ich liebe Sie und werde Sie immer lieben müssen – wollen Sie mir angehören?“
„Nein, es ist unmöglich!“ rief sie fast tonlos. Die Thränen waren versiegt; sie war aufgestanden und versuchte ihre Hände aus den seinen zu befreien.
„Nein?“ stieß er fast heftig hervor. „Wollen Sie mich unglücklich machen?“
Aber er sah trotzdem nicht verzweifelt, sondern nur mit einem Blicke leidenschaftlicher Erwartung auf sie nieder.
Sie stand zitternd vor ihm; die Hände fest in einander geschlossen, die Augen zu Boden geschlagen – es war gar so schwer, eine Pflicht zu erfüllen, dem eignen Herzen entgegen.
„So lieben Sie mich nicht?“ frug er leise und doch eindringlich, ohne den Blick von ihr zu erheben.
Sie bewegte die Lippen, als wollte sie etwas sagen, brachte aber keinen Ton hervor.
„Guadalupe - lieben Sie mich denn nicht?“ wiederholte er noch einmal und legte eine Innigkeit in die Stimme, die ihr bis ins Mark drang - dann hielt er inne, als wolle er ihr Zeit geben zu widerrufen. Als ihm nur ein schwacher Seufzer antwortete, machte er einen Schritt nach der Thür, wandte sich aber noch einmal um, ehe er diese erreichte. „Sie weisen mich also zurück!“ rief er, „gut, leben Sie wohl, Señorita Guadalupe!“
Bis jetzt hatte sie wie unbeweglich gestanden, bei den letzten Worten schlug sie die Augen zu ihm auf, und die sprachen beredt genug von schmerzlicher Entsagung.
Augenblicklich war er wieder neben ihr.
„Ich wußte es ja, daß wir zu einander gehören,“ flüsterte er und wollte den Arm um sie legen.
Sie aber machte eine abwehrende Bewegung, als wollte sie es ihm unmöglich machen, ihr zu nahen.
„Ich bin einem Andern verlobt,“ brachte sie jetzt mit einer gewaltsamen Anstrengung hervor, „und nun werden Sie begreifen, daß ich Sie nicht anhören darf.“
„Und lieben Sie diesen Andern?“
„Ich kenne ihn nicht - mein Vater hat sein Wort gegeben ...“
„Aber der Vater wird sein Wort zurücknehmen, wenn er das erfährt, und mit dem Andern - da will ich’s schon aufnehmen!“
Es blitzte etwas wie Spott um seine Lippen, als er so sprach; er war ihr wieder ganz nahe gekommen.
Sie drängte ihn zurück.
„Es ist unmöglich - ich kann meinen Vater nicht wortbrüchig machen - kann nicht Schande über ihn bringen.“
„Sagen Sie mir nur das Eine, Guadalupe, wenn dieser – dieser Andere nicht wäre – würde ich Sie dann gewonnen haben?“
„O Gott!“ rief das geängstete Mädchen, ihm ausweichend, „ich will meine Pflicht ja thun - es ist nur so schwer, so unsäglich schwer!“
Felipe trat zurück; sein Auge hing fast mit Andacht an ihr, als sie in ihrem Schmerze vor ihm stand, rührend in ihrem kindlichen Opfermuthe.
„Sie sollen Ihre Pflicht thun, Guadalupe,“ sagte er, ohne seine Bewegung zu unterdrücken ich verlasse Sie, aber wo ich auch sein werde - das Andenken an Sie wird mich überall [67] begleiten. Sie sind die beste, die aufopferndste Tochter, Sie werden die aufopferndste Gattin werden. Glücklicher Lopez, was für einen Preis hast Du in dieser Stunde errungen!“
„Leben Sie wohl!“ rief Guadalupe und sah einen Augenblick zu den dunklen Augen auf, die in bewundernder Liebe auf sie gerichtet waren, und deren Blick sie nur zu gern erwidert hätte. „Leben Sie wohl, ich werde an Sie als an einen Freund denken ...“
Einen Augenblick drückte er die Hand, die sie ihm gereicht hatte, leidenschaftlich an seine Lippen. Dann – ohne sich noch einmal umzusehen - stürmte er zur Thür hinaus.
Der Abschied vom Alten war kurz. Der machte ein Kreuz, als der Friedensstörer endlich zum Hause hinaus war.
Die Nacht verging dem armen Mädchen in dumpfer Qual. „Ich hörte doch immer,“ dachte sie bei sich, „daß das Bewußtsein, eine schwere Pflicht erfüllt zu haben, den Frieden gäbe. Aber in mir ist kein Friede - nichts als Zweifel ... wie soll ich Lopez geloben, ihm ein treues Weib zu werden, mit der Liebe zu einem Andern tief im Herzen ... Ach, warum ist es gar so schwer, recht zu handeln!“
Concha hatte auch nicht viel geschlafen, denn sie hatte zuviel über einen herrlichen Plan nachdenken müssen, auf den ihr Scharfsinn verfallen. Am frühesten Morgen stürzte sie schon zu ihrer lieben Freundin, um diese dafür einzunehmen.
„Du mußt Dich heut so häßlich als möglich machen,“ rief sie sehr eifrig, „dann wird der abscheuliche Lopez vor Dir erschrecken und schnell von Dir loszukommen suchen.“
Und dabei übergab sie Guadalupe ein altes Kleid ihrer Mutter und breitete alles Nöthige vor ihr aus, um sie mit einem hohen Rücken zu versehen. Sie wußte genau aus Papas Atelier, wie man die Körperformen verschönere. Und sie zu verhäßlichen, das beruhe am Ende doch auf denselben Principien, nämlich auf Roßhaaren und Baumwolle.
Lu konnte sich kaum erwehren zu lächeln, die naive kleine Concha meinte es gar so treu. Aber Verstellung lag nicht in ihrem Charakter, und die hilfreiche Freundin mußte ihren scharfsinnigen Plan sammt den alten Kleidern verschmäht sehen.
Wie lang dieser Tag schien, er wollte gar kein Ende nehmen. Die Post von Valladolid war schon eingelaufen und noch immer wollte sich kein Lopez blicken lassen.
Concha frohlockte.
„Vielleicht ist ihm ein Unfall zugestoßen, vielleicht ist die Post zwischen Valdestillas und Olmedo, wo der Weg so einsam ist, von Räubern geplündert und er fortgeführt worden; ach, das wäre zu herrlich!“
Und das lebhafte kleine Ding klatschte bei der Aussicht in die Hände und tanzte in der Stube herum.
„Concha“, rief Lu vorwurfsvoll, „schämst Du Dich nicht, einem Andern, der Dir kein Leid zugefügt und dem die Pflichterfüllung vielleicht gerade so schwer wird, wie mir, Böses anzuwünschen?“
Nein, sie schämte sich nicht einmal, sie hatte nur den einen Wunsch, ihre liebe süße Guadalupe von drohender Gefahr befreit zu sehen. Schließlich hoffte sie noch auf ein Wunder, in Segovia ist dieser Glaube noch in Kraft. Es war ihr gar nicht recht, daß die Eltern sie abrufen ließen, noch ehe es stattgefunden.
Die Sonne war bereits im Sinken und einzelne Sterne wurden schon sichtbar. Lu aber saß einsam in ihrer kleinen Stube wie gestern, als Felipe zu ihr getreten war. Wehe ihr, daß sie ihn hatte abweisen müssen und mit ihm ihr ganzes Glück – für immer war es mit ihm aus ihrer Nähe gewichen.
Aergerlich vom vergeblichen Warten wollte der Vater endlich zum Nachbar hinübergehen, als ein Zug an der Klingel des Thores ihn zurückhielt.
„Gott, verleihe mir Kraft die Stunde zu überstehen -“ betete Lu im tiefsten Herzen, denn sie war nicht einen Augenblick im Zweifel, daß Lopez nun eingetroffen sei.
Schritte näherten sich bald darauf ihrer Thür. Der Vater drückte die Klinke auf und trat mit einem Andern ein.
Lu erbebte bis ins Innerste und sah zu Boden, es wäre ihr nicht möglich gewesen, ihrem furchtbaren Geschick entgegenzusehen.
„Da ist mein wackrer Schwiegersohn Lopez,“ hörte sie den Vater sagen, und zwar mit einem ganz eigenthümlichen Tone, den sie sich nicht recht zu erkläreu wußte. „Und da ist die Guadalupe,“ fuhr er zu dem Andern gewendet fort - „Komm hervor, Kind ... komm – sie ist befangen, Lopez,“ unterbrach er sich, „aber so gehört sich’s auch. Das Frauenzimmer muß der Heirath gegenüber immer zurückhaltend sein – he? hab’ ich nicht Recht, Schwiegersohn?“
Der Titel schien ihm schon recht geläufig geworden.
„Wollen Sie mich einen Augenblick mit meiner Braut allein lassen?“
Bei dieser Stimme war Lu sofort aufgesprungen und hatte die Augen erhoben ... es war schon dunkel und dennoch schien es ihr ...
„Ich bringe Licht,“ rief der Alte, lief zur Thür hinaus und ließ die Beiden allein.
„Guadalupe“, sagte der Fremde, näher tretend und warf seinen weiten Mantel ab.
„Aber,“ rief diese, und ihr Herz klopfte zum Zerspringen, „aber Sie sind ja nicht Lopez Canelo ... Sie sind ja ...“
Er nahm aus seiner Tasche einen Brief, ihren Brief hervor und hielt ihn ihr hin.
„Ich habe mir meinen Brief heut aus Valladolid geholt,“ sagte eine wohlbekannte, tiefe Stimme - „denn Sie haben mir selbst geschrieben, daß Ihr Vater bereit sei, sein Versprechen zu halten. Und hier steht Lopez Canelo und fordert die alte Schuld ein.“
„Aber Sie sind doch Felipe“ ... stammelte Lu tiefbewegt, denn die Wahrheit begann ihr klar zu werden.
„Geliebte, Einzige!“ rief er und schloß sie leidenschaftlich in seine Arme „Ich wollte Dich nicht einem alten Gelübde, sondern mir selbst verdanken – so täuschte ich Dich ... kannst Du mir vergeben?“
Jetzt verstand sie ihn, jetzt wußte sie, daß sie dem Auge, das in seliger Liebe auf sie gerichtet war, in Gegenliebe begegnen durfte – daß sie ihn gewähren lassen durfte, sie ans Herz zu drücken.
„Wie hast Du mich gequält!“
„Mein ganzes Leben soll diese Qual sühnen – Gott lohne es Dir, daß Du trotz ihrer standhaft geblieben bist!“
„Kleine folgsame Lu ist glücklich geworden,“ rief der edle Krieger, der jetzt mit dem Lichte herein trat – „als ob ich nicht gewußt hätte, daß ich die kleine folgsame Lu glücklich machen würde!“
- ↑ 1 Peso etwa 4 Mark.
- ↑ Landwein.
- ↑ Kupfermünzen.
- ↑ Eine Erbsenart, tägliche Kost in Kastilien.
- ↑ Segovia ist auf einem ungeheuren Felsen, der fast die Form eines riesenhaften Schiffs hat, erbaut; zu seinen Füßen fließt die Eresma.
- ↑ Die Segovianer nennen ihren Aquädukt, welcher von Trajan herrühren soll und eines der wunderbarsten Bauwerke ist, das eine Ausdehnung von gegen 3000 Fuß hat, gewöhnlich: die Brücke, el Puente; sie ist auch im Stadtwappen.
- ↑ Irdene Fliesen, mit denen namentlich die Araber ihre Fußböden auslegten.