Goethe und Friederike von Sessenheim
Das berühmte „Goethe-Idyll von Sessenheim“ ist jetzt nach länger als hundert Jahren zu einer Art von beruhigendem Abschluß gelangt. Aus den Erträgen der unseren Lesern bekannten Sammlungen ist der „Friederiken-Ruh“ genannte Hügel dort angekauft und bereits zu einer bleibenden Gedächtnißstätte geweiht worden. Seitdem Goethe die Welt in seiner Selbstbiographie mit der theilweisen Enthüllung seines Sessenheimer Liebesidylls überraschte, haben sich die Gemüther nicht wieder von dem eigenthümlich bannenden Zauber desselben abzuwenden vermocht. Man erkannte den Einfluß auf seine Dichtung und deren rührendste Frauengestalten; das Dörfchen Sessenheim wurde ein Wallfahrtsort der Schwärmer und Literarhistoriker; es entstand der Friederiken-Cultus und die Friederiken-Forschung, und es sammelte sich im Laufe der Jahrzehnte eine besondere Friederiken-Literatur, die noch immer nicht zur Ruhe kommen will. Wohlwollende Moralisten beseufzten, zelotische Anschwärzer des Genius verleumdeten und verdammten, feinfühlende Poeten und Aesthetiker vertheidigten den Dichter. Ihn hier von einem sittlichen und humanen Standpunkte aus zu rechtfertigen wird jedoch nicht möglich sein und wäre auch nicht pietätvoll, dem eigenen reuevollen Bekenntniß seines hochreifen Lebensalters gegenüber. Für uns steht es fest, daß das einfache Landmädchen mit ihrer gläubigen Hingebung und stummen Entsagung in dieser Herzenstragödie größer dasteht, als der gewaltige Heros.
Wenn es gewiß ist, daß er der Nation kein „Gretchen“ gegeben hätte ohne das Schmerzensbild Friederikens in seiner Brust, so bleibt es doch ein peinliches Gefühl, daß er selbst diesen Schmerz verschuldet und vernichtendes Wehe untilgbar in den glücklichen Frieden des harmlosen Kindes geworfen hat. Diesen Flecken wäscht keine Bewunderung seiner Größe aus der Geschichte seines Lebens hinweg. Immerhin aber hat man es mit einem Goethe zu thun, an den man unbedingt keine alltäglichen Maßstäbe legen darf. Was er selber nach so langer Zeit über seine Beweggründe mitgetheilt hat oder durchschimmern läßt, giebt im Hinblicke namentlich auf die Schnelligkeit seines Gefühlswandels keine befriedigende Erklärung. Die Lichtung des halbdunkeln Vorganges ist ein Problem der Seelenkunde, eine Aufgabe der Goethe-Biographen geblieben. Die Einen sagen, Friederike sei ihm an Bildung nicht ebenbürtig gewesen, und er habe auch keine Möglichkeit gesehen, die einfache Pfarrerstochter in das Patricierhaus seines Vaters zu führen. Andere wiederum führen den Schritt auf eine frühe Erkenntniß seiner Mission zurück und spenden ihm Lob, daß er nicht durch einen vorzeitigen Herzensbund den freien Aufflug seines Genius gelähmt habe. Dies Alles läßt sich hören, aber es bleiben doch Fragen übrig, welche damit nicht gelöst sind, wenn man dem ritterlichen und auf hohe Ziele gerichteten Dichterjüngling nicht die leere Gewissenlosigkeit eines gewöhnlichen Leichtfußes beimessen will. Von besonderem Interesse wird daher der Versuch einer zum Theil neuen Erklärung sein, die uns einleuchtender als alle bisherigen erscheint, da sie ihre Gründe aus der ganzen Natur der Goethe’schen Charakteranlage und aus dem Gesammtwesen seines Genius schöpft. In dem augenblicklich im Erscheinen begriffenen letzten Bande von K. Biedermann’s hervorragendem und anerkanntem Werke „Deutschland im achtzehnten Jahrhundert“, welches wir hiermit der allgemeinen Beachtung warm empfehlen, findet sich auch eine auf den Sessenheimer Jugendtraum bezügliche Ausführung, die uns der Verfasser im Voraus und in Rücksicht auf die jüngst in Sessenheim stattgehabte Feier zum Abdruck freundlichst überlassen hat.
Nachdem Biedermann den Unterschied zwischen den früheren knabenhaften Liebeleien des jungen Goethe und der mit voller Gewalt ihn ergreifenden Liebe zu Friederike dargelegt hat, fährt er fort:
„Und dennoch barg auch dieses so reizende Verhältniß den Keim der Wiederauflösung schon vom Anfange an in sich. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir es mit einem Dichter zu thun haben, und zwar mit einem jener besonderen Art, wie Goethe war, dem nach Anlage und Gewöhnung Dichtung und Leben in gewissem Sinne in einander flossen. Wie es in Goethe’s Natur lag, seine Dichtung aus seinem Inneren herauszuspinnen (‚in seinen Busen greifen‘, nennt er es), ein Stück eigenen Lebens durch [591] einen Act der Selbstentäußerung in ein Gedicht, in ein Kunstwerk zu verwandeln, so gestaltet sich ihm auch das, was er erlebt, in seiner Auffassung und Empfindung leicht mehr oder weniger zu einer Art von poetischer Illusion. Nicht, als ob er nicht, was an ihn herantrat, Freude und Schmerz, Liebe und Freundschaft, wahrhaft und warm empfunden hätte, aber er empfand es doch nicht ganz so wie gewöhnliche Menschen.
Der Strom seines Empfindens ging gleichsam nicht direct von der Außenwelt zum Herzen, sondern erst durch das brechende Medium der Einbildungskraft hindurch. Dadurch erhielten seine Empfindungen vielleicht für den Augenblick eine gesteigerte Intensität, aber sie übten auf ihn nicht jene unmittelbar zwingende und fesselnde Macht, wie das bei Naturen von einfacherer Structur der Fall zu sein pflegt, sie nahmen nicht sein ganzes Wesen ein und hielten es fest, sondern sie traten hervor und schwanden, sie erglänzten und verblaßten, je nachdem der Strahl seiner dichterischen Phantasie entweder voll auf sie fiel, oder von ihnen abgleitend nach anderen Seiten sich lenkte.
Dichternaturen wie Goethe sind ganz geschaffen für ein Leben voll anmuthig wechselnder, mannigfaltig gestalteter Liebesepisoden, deren jede ein dichterisches Erlebniß oder ein erlebtes Gedicht darstellt, dagegen wenig oder gar nicht für ein dauerndes Verhältniß, in welchem die Realität des menschlichen und des bürgerlichen Daseins mit seinen Anforderungen an Arbeit oder Entsagung, seinen Sorgen, ja auch einem gewissen unvermeidlichen und selbst nothwendigen Einerlei und Gleichmaß der Stimmungen und Empfindungen ihr Recht behauptet.
Nichts zeigt deutlicher die Grundverschiedenheit der Naturen unserer beiden größten Dichter, Goethe’s und Schiller’s, als ihr so ganz verschiedenes Verhalten in Sachen der Liebe und der Ehe. Schiller hatte sehr zeitig den Drang nach einem festen Lebensverhältniß und ging denn auch nach einigen mißglückten Anläufen dazu und einigen flüchtigen Reizungen, bei denen er in der Wahl des Gegenstandes irrte, schon ziemlich früh ein solches ein mit einem ihm ebenbürtigen, ihn geistig und gemüthlich befriedigenden weiblichen Wesen. Goethe durchlief eine Reihe der anmuthigsten Liebesverhältnisse – von seiner frühesten Jugend an bis in sein höchstes Alter, von Gretchen, Käthchen und Friederike bis zu Minna Herzlieb, aber zu einem Lebensglück in der Ehe brachte er es nicht. – – –
Ihn selbst, den jugendlichen Dichter, überkam schon bald das peinliche Gefühl, daß dieses ganze rührende Sessenheimer Erlebniß doch nur ein schönes Spiel, kein ernsterer Bund für’s Leben sei. Jener Traum, in der Nacht nach dem Verlöbniß, wo Goethen die Straßburger Tanzmeisterstochter erscheint (die ihn geliebt hatte) und wo diese den Fluch, den sie einst über seine Lippen gesprochen, jetzt auf diejenige ausgießt, um deren willen Goethe diesem Fluche getrotzt – dieser Traum ist nur wie ein symbolisches Bild der Reue, die Goethe im Stillen darüber empfand, daß er ein liebendes Wesen an sich gekettet, trotz der geheimen Vorempfindung, daß er selbst sich nicht an sie dauernd werde ketten wollen. Dann folgen jene Aeußerungen in Goethe’s Briefe an seinen Freund Salzmann (bei einem Besuche in Sessenheim), wo er von dem ‚bösen Gewissen‘ spricht, ‚das mit ihm herumgehe‘. Genug, sein leidenschaftliches Verhältniß zu Friederike ‚fängt an ihn zu ängstigen‘. – – –
Obschon er auf diese ‚schmeichelnde Leidenschaft‘ bereits ‚ganz verständig Verzicht gethan‘, kann er sie dennoch ‚noch nicht loslassen‘; er ‚ergötzt sich an der lieblichen Gewohnheit‘, und ‚wenn die Gegenwart Friederikens ihn ängstigt, so weiß er doch nichts Angenehmeres, als abwesend an sie zu denken und sich mit ihr zu unterhalten‘. Er kommt seltener hinaus nach Sessenheim, aber ‚ihre Briefe wechseln desto lebhafter‘ und ‚er kann sich in solchen Augenblicken ganz eigentlich über die Zukunft verblenden‘.
So kam die letzte Begegnung und dann die Trennung heran. ‚Es waren peinliche Tage,‘ schreibt Goethe. ‚Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Thränen in den Augen, und mir war sehr übel zu Muthe.‘
So rasch gab ihn jedoch das Bild der verlassenen Geliebten nicht los. Von Frankfurt aus sandte er ihr einen schriftlichen Abschied. Beim persönlichen Scheiden war unausgesprochen geblieben, ob es eine Trennung nur für kurze Zeit, oder für immer sein solle. Er selbst war sich wohl des Letzteren bewußt; Friederike scheint es wenigstens geahnt zu haben. Die Antwort, die er jetzt von ihr erhielt, ‚zerriß ihm das Herz‘. ‚Es war dieselbe Hand,‘ schreibt er, ‚derselbe Sinn, dasselbe Gefühl, die sich zu mir, an mir herangebildet hatten. Nun erst fühlte ich den Verlust, den sie erlitt, und sah keine Möglichkeit, ihn zu ersetzen, ja nur ihn zu lindern. Sie war mir ganz gegenwärtig; stets empfand ich, daß sie mir fehlte, und, was das Schlimmste war, ich konnte mir mein eigenes Unrecht nicht verzeihen. Gretchen hatte man mir genommen, Aennchen hatte mich verlassen; hier war ich zum ersten Male schuldig; ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet, und so war die Epoche einer düsteren Reue, bei dem Mangel einer gewohnten erquicklichen Liebe, höchst peinlich, ja unerträglich.‘
Seine dichterische Phantasie stellte ihm jetzt alle Reize des nun abgebrochenen Verhältnisses, zugleich alle Schmerzen der von ihm Verlassenen auf das Lebhafteste vor, jedoch ohne daß ihm der Gedanke kam, jenes wieder anzuknüpfen und diese Schmerzen zu lindern. Alles, was er that, war, an sich eine Heilung und gleichsam Entsündigung zu vollziehen durch eine ‚poetische Beichte‘, um ‚durch die selbstquälerische Büßung einer innern Absolution würdig zu werden‘. Die beiden Marien, erzählt er, im ‚Götz‘ und im ‚Clavigo‘ (und, setzen wir hinzu, noch mehr vielleicht das Gretchen im ‚Faust‘), sowie die beiden schlechten Figuren, die ihre Liebhaber spielen, möchten wohl Resultate solcher reuigen Betrachtungen gewesen sein.
Nach dem Erscheinen des ‚Götz‘ schrieb Goethe an Salzmann, dem er ein Exemplar dieses Dramas gesandt hatte: ‚Wenn Sie das Exemplar von „Berlichingen“ noch haben, so schicken Sie es nach Sessenheim unter Aufschrift: „An Msll …“ ohne Vornamen. Die arme Friederike wird sich einigermaßen getröstet finden, wenn der Ungetrene (Weislingen) vergiftet wird.‘ Das war, zumal bei der so kurzen Zeit, die erst seit dem Bruche mit Friederike verflossen, ein fast zu grausamer Scherz, aber es bezeugt auf’s Neue, daß Goethe Friederike weit mehr mit der Phantasie als mit dem Herzen geliebt hatte.“
So weit das Biedermann’sche Buch! Das Idyll von Sessenheim hatte noch ein Nachspiel, über welches ebenfalls Goethe selbst berichtet, und zwar mit all der in sich gefaßten Ruhe (nicht mit Unrecht hat man es auch wohl Kälte genannt), die er schon so bald nach seiner stürmerischen Jugend sich immer mehr aneignete. Als Goethe bei Gelegenheit der Schweizerreise, die er 1779 mit dem jungen Herzog Karl August unternahm, von Straßburg aus in dem wohlbekannten Sessenheimer Pfarrhause eingekehrt war, schrieb er seiner Freundin, Frau von Stein:
„Die zweite Tochter hatte mich ehemals geliebt, schöner, als ich’s verdiente, und mehr als andere, an die ich viel Leidenschaft und Treue verwendet habe. Ich mußte sie in einem Augenblicke verlassen, wo es ihr fast das Leben kostete. Sie ging leise darüber weg, mir zu sagen was ihr von einer Krankheit jener Zeit noch übrig blieb, betrug sich allerliebst mit so viel herzlicher Freundschaft, daß mir’s ganz wohl wurde. Nachsagen muß ich ihr, daß sie auch nicht durch die leiseste Berührung irgend ein altes Gefühl in meiner Seele zu wecken unternahm. Sie führte mich in jene Laube, und da mußt’ ich sitzen, und so war’s gut ... Die Alten waren treuherzig. Ich blieb die Nacht und schied den andern Morgen, von freundlichen Gesichtern verabschiedet, sodaß ich nun auch wieder mit Zufriedenheit an das Eckchen der Welt hindenken und in Frieden mit den Geistern dieser Ausgesöhnten in mir leben kann.“
Und so möge denn auch die Einweihung der neuerrichteten „Friederiken-Ruh“ ein Act der Versöhnung sein zwischen dem Andenken an den großen Dichter, der mit seinem reichen Geiste so Bedeutendes und Nachhaltiges geschaffen, und dem an die liebliche Friederike, deren Seelenruhe und Lebensglück durch die Berührung dieses jungen Olympiers allerdings rettungslos zerstört ward, wenn auch sie selbst großmüthig und willensstark genug war, ihn dies nicht fühlen, ja kaum merken zu lassen.[1]
- ↑ Der Verlauf der in dem obigen Artikel erwähnten, am Nachmittag des 18. Juli stattgehabten Einweihung ist, den uns zugegangenen Berichten zufolge, ein ebenso erfreulicher wie erhebender gewesen. Von Straßburg aus führte ein Extrazug Hunderte von Theilnehmern herbei, die auf dem Sessenheimer Bahnhof mit Ansprache und Gesang empfangen wurden und durch das Gedränge der aus ver näheren Umgebung herbei geströmten Schaaren kaum zum Festplatze gelangen konnten. Nachdem hier der akademische Gesangverein das „Erwache, Friederike!“, componirt von Jakobsthal, vorgetragen, folgte die Festrede und die Uebergabe der Friederiken-Laube an Sessenheim. Der Bürgermeister nahm die Schenkung mit dem Versprechen treuer Pflege und Ueberwachung des Adoptivkindes dankend entgegen, und der Chor intonierte sein „Seht die Stätte – die geweihte!“ Mit einem Hoch auf das reichbegabte schöne Elsaß schloß die eigentliche Feier. – Was folgte, war ein zwangloses Gelage im schattigen Baumgarten der „Krone“. D. Red.