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Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Ferdinand Hiller

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fastnachtsrede nach der 9ten Symphonie Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Ferdinand Hiller
Compositionen von J. C. Keßler


Ferdinand Hiller.[1]
I.

Einen Zug der Beethoven’schen Romantik, den man den provençalischen nennen könnte, bildete Franz Schubert im eigensten Geist zur Virtuosität aus. Auf diese Basis stützt sich, ob bewußt oder unbewußt, eine neue noch nicht völlig entwickelte Schule, von der sich erwarten läßt, daß sie eine besondere Epoche in der Kunstgeschichte bezeichnen wird.

Ferdinand Hiller gehört zu ihren Jüngern, zu ihren merkwürdigsten Einzelnheiten.

Mit ihm zugleich schildere ich eine ganze Jugend, deren Bestimmung zu sein scheint, ein Zeitalter loszuketten, das noch mit tausend Ringen am alten Jahrhundert hängt. Mit der einen Hand arbeitet sie noch, die Kette loszumachen, mit der andern deutet sie schon aus eine Zukunft hin, wo sie gebieten will einem neuen Reich, welches, wie Mahomets Erde, in wunderbar geflochtenen demantnen Banden hängt und fremde noch nie gesehene Dinge in seinem Schooß verbirgt, von denen uns schon der prophetische Geist Beethovens hier und da berichtete, und die der hehre Jüngling Franz Schubert nacherzählte in seiner kindischen, klugen, mährchenhaften Weise. Denn wie es in der Dichtkunst Jean Paul war, der, nachdem er in die Erde gesenkt war, wie ein heilbringender Quell in Schachten fortströmte, bis ihn zwei Jünger, die ich nicht zu nennen brauche, wieder an’s Sonnenlicht leiteten und begeistert, nur zu heftig verkündeten, „es beginne eine neue Zeit” — so war es in der Musik Beethoven. Unsichtbar wirkte er wie eine Gottheit in einzelnen Geistern fort und gebot ihnen, den Augenblick nicht zu versäumen, wo der Götzendienst, dem die Masse lange, leere Jahre sich hingegeben, gestürzt werden könne. Und er empfahl ihnen, den Kampf zu bestehen, nicht die sanfte glatte Sprache des Gedichts an, sondern die freie ungebundene Rede, mit der er selbst schon oft gesprochen, und die jungen Geister bedienten sich ihrer in neuen und tiefsinnigen Formeln.

Die Altweisen lächelten sehr und meinten wie der Riese in Albano’s Traum: „Freunde, hier geht kein Wasserfall hinauf![H 2] Die Jünglinge aber meinten: ei, wir haben Flügel! — Einzelne im Volke nun hatten die junge Stimme vernommen und sprachen „hört, hört!” Dieser Augenblick steht jetzt in der Welt still. –
Florestan.




II.


Es ist schlimm, daß man seinen Recensionen nicht jedesmal die Composition mit einem Virtuosen, der sie uns gleich höchst vollendet spielte, oder (was das Beste wäre) ein Exemplar des ganzen Componisten anhängen kann; dann wäre manchem vorgebeugt. Gut aber ist es immer, wenn wir dem Leser gleich die Anfänge der ersten Etuden vorstellen, damit er uns nicht blindhin aufs Wort zu glauben und eigenes Urtheil beizumischen habe. Auch scheint ein Probegeben bei Etuden nicht so langweilig, als bei andern Gattungen von Werken, weil die ersten Tacte doch meistens den Grund des Stückes bilden, den ein gleichgesinnter Geist vielleicht ähnlich ausführen würde. Hier folgen die Anfänge.[2]

Mit einem Seufzer fahre ich fort — keiner andern Kritik wird das Beweisen so schwer als der musikalischen. Die Wissenschaft schlägt mit Mathematik und Logik, der Dichtkunst gehört das entschiedene, goldene Wort, andere Künste haben sich die Natur, von der sie die Formen geliehen, zur Schiedsrichterin gestellt, — aber die Musik ist die Waise, deren Vater und Mutter Keiner nennen kann. Und vielleicht ist es, daß gerade in dem Geheimnißvollen ihres Ursprungs der Reiz ihrer Schönheit liegt.

Man hat den Herausgebern dieser Blätter den Vorwurf gemacht, daß sie die poetische Seite der Musik zum Schaden der wissenschaftlichen bearbeiten und ausbauen, daß sie junge Phantasten wären, die nicht einmal wüßten, daß man von griechischer und andrer Musik im Grund nicht viel wisse und dergl. Dieser Tadel enthält eben das, wodurch wir unser Blatt[H 3] von andern unterschieden wissen möchten. Wir wollen weiter nicht untersuchen, in wie fern durch die eine oder die andre Art die Kunst schneller gefördert werde, aber allerdings gestehen, daß wir die für die höchste Kritik halten, die durch sich selbst einen Eindruck hinterläßt, dem gleich, den das anregende Original hervorbringt.[3] Dies ist freilich leichter gesagt als gethan und würde einen nur höhern Gegendichter verlangen. Bei Studien indeß, von denen man nicht allein lernen, sondern auch schön und Schönes lernen soll, kommt noch anderes ins Spiel. Darum soll diesmal wo möglich wenig ausgelassen und Hiller’s Werk von vielen Seiten gefaßt werden, von der ästhetischen sowohl wie von der theoretischen und etwas von der pädagogischen.

Denn nach drei Dingen sehe ich als Pädagog besonders, gleichsam nach Blüthe, Wurzel und Frucht, oder nach dem poetischen, dem harmonisch-melodischen und dem mechanischen Gehalt, oder auch nach dem Gewinn für das Herz, für das Ohr und für die Hand.

Ueber manche Sachen aus der Welt läßt sich gar nichts sagen, z. B. über die C dur-Symphonie mit Fuge von Mozart, über vieles von Shakespeare, über einzelnes von Beethoven.[H 4] Blos Geistreiches hingegen, Manierirtes, Individuell-Charakteristisches regt stark zu Gedanken an, daher ich lieber diese Recension wie eine ordentliche Predigt in drei Theile zerlegen und das Ganze mit einer Charakteristik der einzelnen Etüden beschließen will.

Erster Theil: Poesie des Werkes, Blüthe, Geist. Ich glaube, Hiller wird nie nachgeahmt werden. Warum? weil er, eigentlich Original, sich so viel von anderen Originalen beigemischt, daß sich nun dieses fremd-eigne Wesen in den sonderbarsten Strahlen bricht. Der Nachahmer müßte sich daher auf diese Verbindung des Eigentlichen und Uneigentlichen einlassen, was einen Unsinn gäbe. Damit will ich nicht sagen, Hiller wolle nachahmen — denn wer wird das! — oder er habe keine Kraft, seine Natur gegen fremden Einfluß zu sichern — denn er besitzt im Gegentheil so viel, daß er nur fürchtet, sie möchte in ihren höchsten Aeußerungen nicht verstanden werden –; aber er strebt den Ersten, Besten aller Zeiten mit einer Vermessenheit nach, will nicht allein so verwickelt wie Bach, so ätherisch wie Mozart (obgleich dies am wenigsten), so tiefsinnig wie Beethoven (aber dies am meisten), schreiben, sondern wo möglich das Hohe dieser und noch Andrer vereinen, daß es gar kein Wunder ist, wenn gar manches mißlingt. Solchem ungenügsamen Sinne folgt aber der Mißmuth auf dem Fuß, wenn sich, wie im Schiller’schen Berg-Alten, die Riesengestalt herüberdehnt, die uns zuruft: „Weiter darfst du nicht, Freund, das ist meine Region.“[H 5] Darin liegt der Grund zu einer Bemerkung, die sich in jeder Etude aufdrängt. Es ist das plötzliche Stocken, Zurücksinken mitten im Aufflug. Er nimmt den Anlauf wie ein Siegesroß und fällt kurz vor dem Ziel nieder; denn dieses steht fest und kommt uns nicht entgegen: ja, es scheint sogar zurückzufliehen, je mehr man sich ihm nähert. – Darum geht auch ziemlich allen Etuden das goldne Wohlgefühl ab, das Vorahnen des Sieges, welches man starken Geistern schon beim ersten Wort anmerkt.

Sehe ich hier vielleicht zu viel oder irre ich mich, so glaube ich wenigstens die Vorzüge, die dagegen in die Wagschale zu legen, mit Sicherheit angeben zu können.

Sie sind: Phantasie und Leidenschaft (nicht Schwärmerei und Begeisterung, wie etwa bei Chopin), beide in ein romantisches Clairobscure[H 6] eingehüllt, das sich vielleicht später zur Verklärung erheben wird; denn er hüte sich vor dem nächsten Schritt, über den hinaus Gnomen und Kobolde zu wirthschaften anfangen und denke an die Ouverturen zum Sommernachtstraum[H 7] und zu den Hebriden (die sich etwa wie Shakespeare und Ossian[H 8] zu einander verhalten), in welchen der romantische Geist in solchem Maße schwebt, daß man die materiellen Mittel, die Werkzeuge, welche er braucht, gänzlich vergißt. Dennoch bewegt sich Hiller im Abenteuerlichen und Feenhaften, wenn auch nicht so poetisch fein, wie Mendelssohn, doch immer sehr glücklich, und die 2te, 17te, 22ste, 23ste Studie gehören, wie zu den gelungenen in der ganzen Sammlung, zu dem Besten überhaupt, was seit der F moll-Sonate von Beethoven[H 9] und Anderem von Franz Schubert, welche dieses Wunderreich zuerst erschlossen zu haben scheinen, geschrieben worden ist.

Rechne man hierzu noch eine sehr starke Erfindung und einen Charakter, der vielleicht manchmal zu grundlos das Gewöhnlichere zurückweist, so haben wir das Bild eines Künstlerjünglings, der wohl verdient, das Interesse einzuflößen, welches viele am Adel seiner Geburt genommen, der ihn aber noch nicht auf die mäßige Weise zu benutzen versteht, welche zur Selbstkenntniß führt, mit der wir über unsre angebornen geistigen Reichthümer zu schalten und walten haben.

Wie dies gemeint ist, sollen die übrigen Theile noch deutlicher machen.

Zweiter Theil: theoretischer, Verhältniß der Melodie zur Harmonie, Form und Periodenbau. Wo Hiller’s Talent nicht ausreicht, da thut es auch sein Wissen nicht. Er hat vieles gelernt, scheint aber wie gewisse lebhafte Geister, die sich früh hervorthun wollen, manchmal schon auf den letzten Seiten geblättert und studirt zu haben, während der Lehrer noch an dem Anfang explicirte.

Daß ein so ehrgeiziger Charakter Mittel suchen wird, seine Schwächen zu verdecken, läßt sich denken. Daher will er uns oft durch bunte Harmonieen über die Flachheit der Arbeit täuschen, uns berauschen, oder wirft sich auf etwas gänzlich Heterogenes, oder er bricht plötzlich ab mit einer Pause u. s. w. Das erste z. B. gleich vom 9ten Tact an in der ersten Etude, an vielen Orten in der 20ten, das andere in der 15ten vom 4ten Tact auf der 45sten Seite an, in der 24sten in den letzten Tacten S. 73 bei dem Uebergang nach C moll, das letzte in Nr. 7. S. 19, Tact 5, in derselben Etude noch an mehreren Stellen. Will er aber etwas ernstlich durchführen, verarbeiten, wie z. B. in der Fuge Nr. 12, in Nr. 18, die, beiläufig gesagt, die schwächste ist, (ich weiß auch, warum sie es geworden,) in Nr. 24, wo er das Thema des 7ten Tactes später wiederbringt, so wird er meistens dunkel, steif und matt.

Leider weiß ich auch nicht, was man einem ausgezeichneten poetischen Talente, das vielleicht zu rasch die Schule durchgemacht hat, anrathen soll. Mit Genies wird man leichter fertig; die fallen und stehen von selbst wieder auf. Aber was kann man Jenen sagen? Sollen sie Rückschritte machen, von vorne anfangen, umlernen? Sollen sie sich der Natur und Einfachheit befleißigen, wie oft angerathen wird? Sollen sie Mozartisch schreiben? Aber wer kann denn Gesetze aufstellen, daß man gerade so weit gehen dürfe und nicht weiter! Soll man eine schöne Idee verdammen, weil sie noch nicht ganz schön ausgedrückt und ausgeführt ist? Ich weiß nicht, wie hoch es Hiller bringen wird; aber er ist um seiner selbst willen darauf aufmerksam zu machen, daß er das Gelungene von dem Mißrathenen abtrennen lerne, daß er wohlwollende Freunde frage, denen er ein Urtheil, in wie weit sich etwas für die Oeffentlichkeit schicke, zutrauen darf und die ihm sagen: „on ne peut pas être grand du matin jusqu’au soir — man soll die Kinder, die man lieb hat, züchtigen — in meinen vier Pfählen kann ich treiben, was mir gefällt; wer aber an die Sonne der Oeffentlichkeit tritt, wird von ihr beschienen.“

Wir kommen zu den Etuden zurück. Eins fällt mir auf und ein. Hiller scheint oft die Worte, den Ausdruck eher zu haben als den Sinn, den Gedanken; er legt den Schmuck bereit, ohne die Schönheit zu besitzen, die jener erhöhen soll — in Bildern: er hat die Wiege fertig, ehe an die Mutter gedacht ist; wie einem Juwelier geht es ihm, dem es gleich gilt, von welchem Kopf sein Diadem getragen wird, ob von einer schönstolzen Römerjungfrau oder von einer grauen Oberhofmeisterin, wenn er nur seine Waare anbringen kann. Obschon dieses Mißverhältniß bei Studien nicht so hoch anzuschlagen ist, als bei höhern Compositionsgattungen, so würde ich doch Etuden, wie Nr. 4, 8, 18, in denen die Figur als Haupt-, der Gedanke als Nebensache erscheint, der vielen andern wegen (wie 5, 6, 10, 16, 23), wo Etudenzweck und Gedankenadel vereint sind, gänzlich unterdrückt haben.

So steht auch die Melodie in untergeordnetem Verhältniß zur Harmonie, welche reich, ja orientalisch, oft auch hart fortschreitet. Unbegreiflich ist es, wie Jemand, der so viel in Musik gelebt und geschrieben, Bestes und Schlechtestes gehört und unterscheiden gelernt hat, wie unser Componist, in seinen eignen Sachen Harmonieen stehen lassen kann, die nicht etwa falsch nach gewissen altwaschenen Regeln, sondern so widrig klingen, daß ich ihm, wenn ich ihn nicht weiter kennte, geradezu sagen müßte: „es fehlt dir das musikalische Ohr.“ Zu so einem Ausspruch würden mich die ersten Noten im 2ten Tact der 9ten Etüde bestimmen; erst vermuthete ich Druckfehler, fand aber die gräßliche verdoppelte Terz bei der Wiederholung wieder. Fast in allen Etüden finden sich solche unleidliche Intervalle.

Was nun die Form und den Periodenbau unsrer Etüden anlangt, so unterscheiden sie sich wesentlich von andern durch ihre Ungebundenheit, die freilich oft auch in Unklarheit und Mißverhältniß ausartet. Wir wollen hier eine zergliedern, gleich die erste:

Gehört nun der Zergliederer obiger Etude durchaus nicht zu denen, die gern in C dur anfangen, in G dur das zweite Thema bringen, nach einigem Aufenthalt in (höchstens) B dur D moll, dann aber A moll das erste Thema in C dur wieder aufnehmen, das zweite in derselben Tonart anhängen und sofort schließen, so liebt er doch eine gewisse Ordnung in der Unordnung und diese geht der obigen Etude etwas, andern (z. B. den Nummern 18, 20, 24) gänzlich ab. Manches hätte ich auch gegen die Schlüsse, an denen mir ziemlich durchgängig etwas wie zu wenig oder zu viel vorkommt, so wie gegen die Aufeinanderfolge der 24 Sätze im Ganzen einzuwenden; doch ist namentlich das letzte so individuell, daß ich es lieber übergehe.

Wir kommen zum kürzesten und

letzten Theil, zum mechanischen. — Für junge Componisten, die dazu Virtuosen sind, giebt es nichts einladenderes, als Etuden zu schreiben, wo möglich die ungeheuersten. Eine neue Figur, ein schwerer Rhythmus lassen sich leicht erfinden und harmonisch fortführen; man lernt bei dem Componiren, ohne daß man es weiß, man übt seine Sachen vorzugsweise, Recensenten dürfen nicht tadeln, daß man zu schwer geschrieben — denn wozu helfen sonst Etuden? — Hiller hat einen Namen als Virtuos und soll ihn verdienen. Früher von Hummel[H 10] gebildet, ging er dann nach Paris, wo es an Nebenbuhlern nicht fehlt. Im Umgang mit Fr. Chopin, der sein Instrument kennt, wie kein Andrer, mag dies und jenes angeregt worden sein: — kurz er setzte sich hin und schrieb. Es fragt sich, ob er im Anfang gewisse Zwecke im Auge gehabt, zu denen er seine Studien bestimmt, ob zur eignen Uebung, zu der seiner Schüler u. s. w. Wer weiß es? — aber der Clavier-spielende Leser und Lehrer kann verlangen, daß man ihm sage, ob er sie sich anschaffen solle, was er zu erwarten habe, wie schwer sie seien, für welche Classe von Spielern sie vorzugsweise passen. Daraus läßt sich allein dieses antworten. Zwar stellt sich in jeder einzelnen Etüde eine Uebung heraus, hier und da eine neue Schwierigkeit, aber es lag dem Componisten offenbar mehr daran, Charakterstücke zu geben und poetischen Sinn zu beflügeln, als mechanische Claviermäßigkeit auszubilden. Daher findet sich in der ganzen Sammlung kein Fingersatz angezeigt, selten ein Aufheben des Pedals, niemals, außer in den Ueberschriften, welche die Stimmung des Stückes im Ganzen andeuten, eine ängstliche Bezeichnung des Vortrags durch Worte, wie: animato u. s. w. Dies alles setzt Fertigkeiten voraus, die man nicht auf die Welt mitbringt. Wollte ich also die Classe nennen, der man die Studien in die Hand geben dürfe, so würde ich jene geist- und phantasievollen Spieler darunter verstehen, welche die größere Herrschaft über ihr Instrument durch sie nicht erlangen wollen, sondern schon besitzen, überhaupt die musikalischen Menschen, an denen nichts mehr zu verderben ist. — Diese allgemeinen Bemerkungen beschließen wir mit einer kurzen Charakteristik der einzelnen Nummern.

1) Lebhafter Rhythmus, antiker Anstrich, Mattes und Starkes abwechselnd, Uebung in schwerem Staccato.[H 11]

2) Traum. Unterirdisches Treiben. Die Erdgeister singen und hämmern. Feen neigen sich auf demantnen Blumen. Das geht lustig. Der Träumer wacht auf: „was war denn das?“

3) Kirchenstück, gothisch. Um einen Cantus firmus[H 12] ziehen tiefere Stimmen auf und ab. Gute Idee, mißlungene Ausführung.

4) Nichts sagend. Leidliche Uebung, die rechte Hand binden, die linke springen zu lassen.

5) Zartes Bild, etwa das eines bittenden Kindes.[H 13] — Umkehrung der vorigen Uebung. Die rechte Hand schlägt schnell Octaven an, während der Tenor den gebundenen Gesang führt, der aber gegen die Mitte hin steif und schwulstig wird.

6) In Form und Haltung vielleicht die gelungenste in der Sammlung, wenn auch nicht reich an Erfindung. Wogende Bewegung in Decimenspannungen[H 14] für eine Hand, während die andere eine Melodie festhält. Reine Harmonieen.

7) Etwas gemacht, auch als Uebung zu vag.

8) Lebendig, aber reizlos. Zur Uebung im raschen Untersetzen des Daumens geschickt. Aus dem 3ten System der 25sten Seite stehen so viele Druckfehler, daß man förmlich umcomponiren muß.

9) Schönes Accompagnement, kalter Gesang. Uebung im Mordent. Der Vortrag eines Meisters könnte über den eigentlichen Gehalt täuschen.

10) Hätte bei mehr Sorgfalt auf gedrängtere Form vortrefflich werden müssen. Das lebhafte Fortgehen bei der Rückkehr des ersten Themas im Fortissimo ist von brillantem Effect. Matter Schluß. Uebung in Baßsprüngen für die linke Hand und im Aushalten einer Melodie mit dem Daumen der rechten, welche die übrigen Finger begleiten.

11) Volle auf- und niedersteigende Dreiklangsmassen, in der Weise, wie Händel seine Chöre oft begleitet. Großartig, nur einige schwache Augenblicke.

12) Fuge in Bach’scher Manier; im wohltemperirten Clavier steht eine in Tonart und Thema ähnliche.[H 15] Die contrapunctische Meisterschaft noch nicht bedeutend. Zu viel freie Eintritte, häufiges Fallenlassen der Stimmen. Vortreffliches Thema, aus dem sich viel machen ließe.

13) Gigue[H 16] im alten Styl. Getroffen, voll von einzelnen Schönheiten bis auf die Stellen, die oben angeführt. Vom 5ten Tact auf Seite 41 an kann ich keine Auflösung finden.

14) Sehr rasch zu spielen. Hat etwas Reizendes, In der Dis moll-Stelle quält sich ein Gesang vergebens ab. Als Etude ohne Schwierigkeit.

15) Gedankenlos, was ein feines Staccatospiel vielleicht vergessen machen wird. Der Mittelsatz an und für sich gut, wenn er im Zusammenhang mit dem Anfang und der Folge stünde. Die Empfindung geht immer im Zickzack, Berg-auf, Berg-unter.

16) Ausgezeichnet schön, fast durchgehends. Nur der Schluß stört durch seine Plattheit; ich würde vielleicht vom 2ten Tact des 5ten Systems in den 8ten des 6ten springen. Auch scheint das Pedal, welches Hiller doch so selten anwendet, gerade in dieser Etude am unrechten Orte, weil dann der innere Gesang noch mehr verschwömme. Als Etude im Ueberschlagen der linken Hand über die rechte zu benutzen.

17) Wahrscheinlich die dankbarste im ganzen Hefte, wenn sie prestissimo gespielt wird. Doppelgänger, Einbeinmenschen, Schattenlose, Spiegelbilder spazieren drinnen herum — nun, man spiele.

18) Nannte ich schon früher die schwächste von allen und versprach zu sagen, warum sie es geworden. Darum, weil Chopin 2 Etüden, eine in F-, die andre in C moll geschrieben,[H 17] die Hiller jedenfalls gekannt hat, ehe er seine 7te und 18te[H 18] machte. Das letzte klingt dunkel und mag es bleiben.[H 19]

19) Wurde oben schon ausführlich erwähnt.

20) Mag im raschen Tempo imponiren, wüthet aber zu sehr in Harmonieen. Im 4ten Tact des 5ten Systems S. 59 fängt ein schöner harmonischer Gang an. Als Etude nützlich, aber ermüdend.

21) Die fünften Finger beider Hände bleiben liegen, während die andern sich doppelgriffig bewegen. Gute Uebung für Spannungen und für das Eingreifen in die Obertasten. Werthvoll als Composition.

22) Gehört in die Feengattung; durchaus leise zu halten, duftig und luftig, Aeolsharfenmusik. Vortreffliche Uebung, die das Merkwürdige, vielleicht Einzige auf der Welt hat, daß die ersten 4 Finger der rechten Hand gleich vielmal daran kommen, jeder nämlich 322 mal, der kleine Finger aber 324 mal anschlagen darf. Man sehe nach und wird es, wie ich, in einer Minute finden und lachen.

23) Originell und phantastisch. Studie für kurze Triller in beiden Händen.

24) Octavengänge in beiden Händen. Kräftiger Rhythmus im ersten Thema, im Verfolg etwas konfus und ohne Einheit. Der Hauptgedanke wird zum zweiten Mal so frei und glücklich eingeleitet, wie es keiner andern Etude gelungen. Das Hineinkommen (wie man sagt) in den Hauptgedanken bei der Wiederholung bleibt ein Geniuswurf. – Wir stehen am Ende. Hiller, wie er sein „Fine“ unter Nr. 24 schreiben konnte, mag kaum froher gewesen sein, als der Leser, der losgelassen sein will. — Mit Aufmerksamkeit und Interesse habe ich die Studien vielmal selbst gespielt und durchgegangen. Wenn die Redaction dieser Blätter[H 20] ihrer Besprechung einen größeren Raum gestattete, als sie beinahe verantworten kann, so mag dies dem jungen deutschen Künstler für ein Zeichen gelten, wie wenig er in seiner Heimath vergessen ist. Findet er den Tadel zu streng gegen das Lob, so bedenke er auch, nach welchem Maaß er selbst gemessen sein will, d. h. nach dem höchsten. Würde aber der Leser ein Endurtheil verlangen, so könnte ich ihm zum Abschied nichts Besseres auf den Weg mitgeben als die Worte im Wilhelm Meister, die mir immer in diese Recension hineingeklungen:

„Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt; aber selbst schöne Vorzüge werden verdunkelt, ausgehoben und vernichtet, wenn jenes unerläßlich geforderte Ebenmaß abgeht. Dieses Unheil wird sich in der neuern Zeit noch öfter hervorthun, denn wer wird wohl den Forderungen einer durchaus gesteigerten Gegenwart und zwar in schnellster Bewegung genug thun können?“[H 21]




Anmerkungen

  1. Geschrieben bei Gelegenheit des Erscheinens seiner Etuden W. 15.[H 1]
  2. Sie sind, vielen Raum einnehmend, hier ausgelassen.
  3. In diesem Sinne könnte Jean Paul zum Verständniß einer Beethoven’schen Symphonie oder Phantasie durch ein poetisches Gegenstück möglich mehr beitragen (selbst ohne nur von der Phantasie oder Symphonie zu reden) als die Dutzend Kunstrichtler, die Leitern an den Koloß legen und ihn gut nach Ellen messen.

Anmerkungen (H)

  1. [WS] Ferdinand Hiller Six Suites d’Etudes pour le Piano Forte Op. 15, 24 Etüden für Klavier, 1835 gedruckt.
  2. [GJ] Jean Pauls „Titan“, im 99. Zykel.
  3. [WS] Die Neue Zeitschrift für Musik.
  4. [GJ] siehe Seite 198.
  5. [WS] Friedrich Schiller Der Alpenjäger (1804).
  6. [WS] Chiaroscuro oder Clair-obscure, eine „helldunkel“ Technik der Graphik und Malerei seit der Renaissance.
  7. [WS] Felix Mendelssohn-Bartholdy, Ouvertüre Ein Sommernachtstraum op. 21 (1826).
  8. [WS] Ossian, ein von James Macpherson (1736–1796) erfundener gälischer Dichter, dessen Werke in der Romantik weite Verbreitung fanden, obwohl Samuel Johnson schon 1764 die Existenz von Ossian ernsthaft bezweifelte. Mendelssohns Ouvertüre Die Hebriden op. 26 (1829/31/33) referiert auf die Die Fingalshöhle, die nach Macphersonss fiktiven Helden „Fingal“ benannt ist.
  9. [WS] Von Beethovens beiden Klaviersonate, die in f-moll stehen – Nr.1, op. 2,1 (1793) und Nr.23, op. 57 Appassionata (1805) –, kommt nur die letztere in Betracht.
  10. [WS] Johann Nepomuk Hummel (1778–1837), österreichischer Komponist und Pianist.
  11. [WS] Staccato, „abgestoßene, abgetrennte“ Spielweise: die Note (durch einen Punkt über oder unter dem Notenkopf gekennzeichnet) klingt kürzer, als ihre Dauer angibt.
  12. [WS] Cantus firmus (etwa: „feststehende Melodie“, Plural Cantus firmi, Abkürzung c. f.) nennt man eine festgelegte Melodie, die von anderen Stimmen umspielt wird, ohne selbst verändert zu werden.
  13. [WS] Schumann schrieb selbst eine Miniatur Bittendes Kind, Nr. 4 seiner Kinderszenen op. 15 (1838).
  14. [WS] Ein Griff, der zehn weiße Tasten überspannt, mithin recht groß ist; das „Normalmaß“ sind acht.
  15. [WS] Das einzige Fugenthema in Bachs Wohltemperiertem Klavier mit einer gewissen strukturellen (wenn auch nicht morphologischen) Ähnlichkeit ist das Thema der f-moll Fuge (BWV 881) aus dem zweiten Band.
  16. [WS] Eine Gigue ist sowohl ein Tanz des Barock, als auch eine musikalische Form mit charakteristischen Merkmalen.
  17. [WS] Da Chopins Etüden op. 25 erst 1837 veröffentlicht wurden, muss sich Schumann auf die Etuden op. 10 beziehen (1833 in Leipzig, Paris und London erschienen), wobei Chopins Nr. 9 f-moll gewisse Ähnlichkeiten mit Hillers Nr. 7 es-moll und Chopins Nr. 12 c-moll Revolutions-Etüde mit Hillers Nr. 18 G-Dur hat.
  18. [WS] Vorlage: 8te.
  19. [GJ] Wahrscheinlich hat Schumann den ganzen Schluß entfernen wollen und den letzten Satz irrthümlich stehen lassen. Das „Dunkle“ liegt doch wohl nur in dem gestrichenen Satze. I.324. [WS] Im Zeitschriftenaufsatz heißt es: „Darum, weil Chopin 2 Etüden, eine in F-, die andre in C-moll geschrieben, die Hiller jedenfalls gekannt hat, ehe er seine 7te und 18te machte; nun will er aber durchaus nicht merken lassen, daß es nur etwas Aehnliches gäbe, wird auf einmal zärtlich, was man gar nicht an ihm gewohnt ist; aber so sprechen keine Seelen – Kanonen könnten kaum durchs Fell. Das letzte klingt dunkel und mag es bleiben.“ (NZfM, 1835, Nr. 14, 17. Februar, S. 58).
  20. [WS] Die Neue Zeitschrift für Musik; Schumann selbst war der Redakteur.
  21. [WS] Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821/1829), II. Buch, Betrachtungen im Sinne der Wanderer.
Fastnachtsrede nach der 9ten Symphonie Nach oben Compositionen von J. C. Keßler
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