Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Concerte für Pianoforte
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Werk 93.
Werk 40.
Die Claviermusik bildet in der neueren Geschichte der Musik einen wichtigen Abschnitt; in ihr zeigte sich am ersten das Aufdämmern eines neuen Musikgenius. Die bedeutendsten Talente der Gegenwart sind Clavierspieler; eine Bemerkung, die man auch an älteren Epochen gemacht. Bach und Händel, Mozart und Beethoven waren am Clavier aufgewachsen, und ähnlich den Bildhauern, die ihre Statuen erst im Kleinen, in weicherer Masse modelliren, mögen sich jene öfters auf dem Clavier skizzirt haben, was sie dann im Größeren, mit Orchester-Masse ausarbeiteten. Das Instrument selbst hat sich seitdem in hohem Grade vervollkommt. Mit der immer fortschreitenden Mechanik des Clavierspiels, mit dem kühneren Aufschwung, den die Composition
[62] durch Beethoven nahm, wuchs auch das Instrument an Umfang und Bedeutung, und kömmt es noch dahin, (wie ich glaube,) daß man an ihm, wie bei der Orgel, ein Pedal in Anwendung bringt, so entstehen dem Componisten neue Aussichten[H 1] und sich immermehr vom unterstützenden Orchester losmachend, wird er sich dann noch reicher, vollstimmiger und selbstständiger zu bewegen wissen. Diese Trennung von dem Orchester sehen wir schon seit länger vorbereitet: der Symphonie zum Trotz will das neuere Clavierspiel nur durch seine eigenen Mittel herrschen und hierin mag der Grund zu suchen sein, warum die letzte Zeit so wenig Clavierconcerte, überhaupt wenig Originalcompositionen mit Begleitung hervorgebracht. Die Zeitschrift hat seit ihrem Entstehen ziemlich von allen Clavierconcerten berichtet; es mögen auf die vergangenen sechs Jahre kaum 16 bis 17 kommen, eine kleine Zahl im Vergleich zu früher. So sehr verändern sich die Zeiten, und was sonst als eine Bereicherung der Instrumentalformen, als eine wichtige Erfindung angesehen wurde, gibt man neuerdings freiwillig auf. Sicherlich müßte man es einen Verlust heißen, käme das Clavierconcert mit Orchester ganz außer Brauch; andererseits können wir den Clavierspielern kaum widersprechen, wenn sie sagen „wir haben Anderer Beihülfe nicht nöthig; unser Instrument wirkt allein am vollständigsten.“ Und so müssen wir getrost den Genius abwarten, der uns in neuer glänzender Weise zeigt, wie das Orchester mit dem Clavier zu verbinden
[63] sei, daß der am Clavier Herrschende den Reichthum seines Instruments und seiner Kunst entfalten könne, während daß das Orchester dabei mehr als das bloße Zusehen habe und mit seinen mannichfaltigen Charakteren die Scene kunstvoller durchwebe. Eines aber könnten wir billig von den jüngeren Componisten verlangen: daß sie uns als Ersatz für jene ernste und würdige Concertform, ernste und würdige Solostücke gäben, keine Capricen, keine Variationen, sondern schön abgeschlossene charaktervolle Allegrosätze, die man allenfalls zur Eröffnung eines Concertes spielen könnte. Bis dahin werden wir aber noch oft nach jenen älteren Compositionen greifen müssen, die ein Concert in kunstwürdigster Weise zu eröffnen, des Künstlers Gediegenheit am sichersten zu erproben geeignet sind: nach jenen trefflichen von Mozart und Beethoven, oder, will man einmal im ausgewählteren Kreise eines noch zu wenig gewürdigten großen Mannes Antlitz zeigen, nach einem von Sebastian Bach, oder will man endlich Neues zu Gehör bringen, nach jenen, in welchen die alte Spur, namentlich die Beethoven’sche, mit Glück und Geschick weiter verfolgt ist. Unter die letzteren zählen wir mit der gehörigen Einschränkung zwei unlängst erschienene Concerte von I. Moscheles und F. Mendelssohn-Bartholdy. Von beiden Künstlern war in der Zeitschrift so oft die Rede, daß wir uns kurz fassen können.
In Moscheles haben wir das seltnere Beispiel eines [64] Musikers, der, obschon in älteren Jahren und noch jetzt unablässig mit dem Studium alter Meister beschäftigt, auch den Gang der neueren Erscheinungen beobachtet und von ihren Fortschritten benutzt hat. Wie er nun jene Einflüsse mit der ihm angebornen Eigenthümlichkeit beherrscht, so entsteht aus solcher Mischung von Altem, Neuem und Eigenem ein Werk, eben wie es das neuste Concert ist, klar und scharf in den Formen, im Charakter dem Romantischen sich nähernd, und wiederum originell, wie man den Componisten kennt. Daß wir nicht zu fein spalten, — das Concert verräth überall seinen Meister; aber Alles hat seine Blüthe, und der einst das G moll-Concert schrieb, der ist er nicht mehr, wohl aber immer der fleißige, treffliche Künstler, der keine Mühe scheut, sein Werk den besten gleich zu machen. Auf Popularität verzichtet er diesmal gleich von vorn herein; das Concert heißt pathetisch und ist es; was kümmern sich unter 100 Virtuosen 99 darum! Das Abweichende in der Form von andern und Moscheles’ eigenen früheren Concerten wird Jedem im Augenblick auffallen. Der erste Satz schreitet rasch vorwärts, die Tutti sind kürzer als gewöhnlich, das Orchester greift überall mit ein; der zweite mit seinen langsameren Zwischenspielen scheint mir mühsamer gefunden, er leitet den letzten ein, der den pathetischen Charakter des ersteren in leidenschaftlicherer Bewegung wieder aufnimmt. Mechanisch schwierig möchten wir das Concert im Vergleich zu andern neuern nicht nennen: das Figurenwerk ist sorgfältig ausgewählt, [65] aber auch von mäßigen Spielern nach einigem Studium zu bewältigen; zusammen mit dem Orchester erfordert es aber von beiden Seiten größte Aufmerksamkeit, genaue Kenntniß der Partitur, und so vorgetragen wird es in seiner kunstvollen Gedankenverwebung in hohem Grade interessiren, wie wir uns mit Freuden daran erinnern, als Moscheles es in Leipzig spielte.
Einen besonderen Dank votiren wir neueren Concertschreibern, daß sie uns zum Schluß nicht mehr mit Trillern, namentlich mit Octavspringern langweilen. Die alte Cadenz, in die die alten Virtuosen an Bravour einpackten was irgend möglich, beruht auf einem weit tüchtigeren Gedanken und wäre vielleicht noch jetzt mit Glück zu benutzen. Sollte nicht auch das Scherzo, wie es uns von der Symphonie und Sonate her geläufig, mit Wirkung im Concert anzubringen sein? Es müßte einen artigen Kampf mit den einzelnen Stimmen des Orchesters geben, die Form des ganzen Concerts aber eine kleine Aenderung erleiden. Mendelssohn dürfte es vor Allen gelingen.
Wir haben über des letzteren zweites Concert zu berichten. Wahrhaftig, noch immer ist er der nämliche, noch immer wandelt er seinen alten fröhlichen Schritt; das Lächeln um die Lippen hat Niemand schöner als er. Virtuosen werden beim Concerte ihre ungeheuren Fertigkeiten nur mit Mühe anbringen können: er gibt ihnen beinahe nichts zu thun, was sie nicht schon hundertmal gemacht und gespielt. Oft haben wir von ihnen diese [66] Klage gehört. Sie haben etwas Recht; Gelegenheit, die Bravour zu zeigen durch Neuheit und Glanz der Passagen soll vom Concerte nicht ausgeschlossen bleiben. Musik aber steht über Alles, und der uns diese immer und am reichsten gibt, dem gebührt auch immer unser höchstes Lob. Musik aber ist der Ausfluß eines schönen Gemüthes; unbekümmert ob es im Angesicht von Hunderten, ob es für sich im Stillen fluthet; immer aber sei es das schöne Gemüth, das sich ausspreche. Daher wirken auch Mendelssohn’s Compositionen so unwiderstehlich, wenn er sie selbst spielt; die Finger sind nur Träger, die eben so gut verdeckt sein könnten; das Ohr soll allein aufnehmen und das Herz dann entscheiden. Ich denke mir oft, Mozart müßte so gespielt haben. Gebührt Mendelssohn so das Lob, daß er uns immer solche Musik zu hören gibt, so wollen wir deshalb gar nicht läugnen, daß er es oft in einem Werke flüchtiger, in dem andern nachdrücklicher thut. So gehört auch dies Concert zu seinen flüchtigsten Erzeugnissen. Ich müßte mich sehr irren, wenn er es nicht in wenig Tagen, vielleicht Stunden geschrieben. Es ist als wenn man an einem Baum schüttelt, die reife, süße Frucht fällt ohne Weiteres herab. Man wird fragen, wie es sich zu seinem ersten Concert verhalte. Es ist dasselbe, und nicht dasselbe; dasselbe ist es, weil es von einem ausgelernten Meister, nicht dasselbe, weil es zehn Jahre später geschrieben ist. Sebastian Bach sieht an der Harmonieführung hier und da heraus. Melodie, Form, Instrumentation [67] im Uebrigen sind Mendelssohn’s Eigenthum. So freue man sich der flüchtigen heiteren Gabe; sie gleicht ganz einem jener Werke, wie wir manche von älteren Meistern kennen, wenn sie von ihren größeren Schöpfungen ausruhten. Unser jüngerer wird sicherlich nicht vergessen, wie jene dann oft plötzlich mit etwas Mächtigem hervortraten, und das D moll-Concert von Mozart, das in G dur von Beethoven ist uns ein Beweis davon.
Anmerkungen (H)
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