Gang Christi nach Golgatha (Gemälde der Dresdener Gallerie)
Das Sanftrührende, welches Veronese mit einer so großen Kunst in die Erscheinung treten lassen kann, ist diesem Bilde in hohem Grade eigen. Die Art, wie Veronese den Christus aufgefaßt hat, entscheidet den Charakter dieses Gemäldes nicht allein, sondern ist auch für die Richtung des Meisters bezeichnend. Durch keine majestätische Größe wird der Beschauer von dem Dulder geschieden, welcher unter der Last des Kreuzes niedergesunken ist. Es ist nicht der Gottmensch, der hier kniet, dessen tiefste Erniedrigung – noch immer unendlich über unsre gebrechliche Erdennatur erhaben – uns ebensowohl geistig niederdrücken, als gewaltsam ergreifen und erschüttern würde. Das Lamm leidet hier, schwerlich aber dürften wir sagen: Veronese hat hier das Lamm gemalt, „welches der Welt Sünden trägt.“ Des Menschen Sohn blickt uns aus dem Bilde entgegen, der sanftmüthige und von Herzen demüthige Märtyrer für die [107] ewige Lehre von der ewigen Liebe, und was er leidet, der schon wie verklärt blickende Dulder, ist das Leiden des Menschen. Während der Gottmensch, dem sich der Beschauer nicht zu substituiren vermag, jedenfalls allein leidet, obgleich man ihn anbetet: so können wir diesen „Jesus“ nicht sehen, ohne mit ihm zu leiden; denn er ist unser Bruder, ungeachtet des himmlischen Strahlenscheines um sein dornengekröntes Haupt.
Diese seine Auffassung hat Veronese mit ungemeiner Zartheit dargestellt, und seine Umstände zusammen beantworten die Frage nach der Ursache der sanften Wehmuth und des melancholischen Vergnügens, welche sein „Christus auf dem Wege nach Golgatha“ hervorbringt.
Dies Gemälde ist zwar in der Gruppirung bald etwas verwirrt componirt, besitzt aber dennoch große Schönheiten. So matt die heilige Veronika gerathen ist, welche Jesus das Schweißtuch vorhält, so ausgezeichnet ist der Mann in asiatischem Costüm, welcher sie abwehren will. In dem halbnackten Henker dürfte Veronese gezeigt haben, wie das Widerliche in der Kunst behandelt werden soll, um Recht zur Erscheinung zu erhalten. Eine Nebensache bemerken wir beiläufig: es ist der Kopf des gebundenen Missethäters im Hintergrunde links; Veronese hat nicht viele Köpfe von solcher charakteristischen Wahrheit aufzuweisen. Ein wieder ideal gehaltener Charakterkopf von unvergleichlichem Ausdrucke ist derjenige des Hohenpriesters, rechts neben dem eiskalten, Alles um sich her als überwundene Sclaven verachtenden Römers Pilatus. Die Mutter Jesu mit dem Johannes ist dagegen wieder vag-ideal aufgefaßt. Ueberhaupt bildet, wie gesagt, Jesus selbst das Moment, weshalb, neben der Pracht der Färbung, dies Gemälde ein sprechender Zeuge von Veronese’s Meisterschaft ist und bleiben wird.