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Götzendienst

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Autor: Alexander Baron von Roberts
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Titel: Götzendienst
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14–26, S. 217–222
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Fortsetzungsroman
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[217]

Götzendienst.

Roman von Alexander Baron v. Roberts.


1.0 Nur ein Einsilber.

„Warum nicht, Herr Lieutenant? Warum sollten Sie sich nicht adoptiren lassen? Sie bekämen einen liebenswürdigen Papa und Herr Oberstlieutenant bekämen einen gewiß recht liebenswürdigen Sohn.“

Die Wirthin des Hauses, die „imposante“ Frau Belzig, begleitete diese Bemerkung mit einem feierlichen Neigen des geräuschvollen Schildpattfächers nach den betreffenden beiden Herren hin. Ihre Stimme klang sonor und voll, ein Lächeln glitt über das immer noch hübsche, doch zu massive und stark zur Rundung neigende Gesicht, ihr schwarzes, etwas kleinstädtisch glatt angestrichenes Haar zeigte lebhaften Seidenglanz; dabei funkelten die braunen Augen, und leuchtete das hohe Rosa der vollblütigen Wangen.

„Ich weiß nicht,“ sagte Lieutenant Eff, aus Artigkeit wie die Wirthin lächelnd, gegen die kleine, untersetzte Figur des Pensionärs gewandt, der mit seinen blinzelnden, wasserblauen Aeuglein Frau Belzig bei ihren Aeußerungen stumm anstaunte, „ich weiß nicht, ob Herr Oberstlieutenant viel Freude an mir erleben würden; ich bin ein Streber, und Streber purzeln leicht.“

„Sie und purzeln? Famos!“ rief Lieutenant Mühüller, sich mit fast klownartiger Schnelligkeit plötzlich herumwendend, von der anderen der beiden Gruppen aus, in die sich die kleine Gesellschaft nach dem Diner getheilt. Lieutenant Mühüller von der Centralturnanstalt war stets überall und machte Alles mit, natürlich nahm er gleichzeitig an der Unterhaltung der beiden Gruppen Theil, so sehr auch die Sterne des Hauses, die beiden „bildschönen“ Töchter Lolo und Melitta, die über jener Gruppe strahlten, ihn zu fesseln schienen.

„Jedenfalls sind Sie nicht einer von den Strebern, Herr Lieutenant, die über hundert Leichen ihrer Vordermänner hinwegspringen, wie es bei Ihren Kameraden heißt,“ warf Perkisch hin.

Wer war Perkisch? Die Officiere, die im Hause verkehrten, nahmen ihn mit einer gewissen Vorsicht. Frau Belzig hatte ihn wegen seiner Toaste, die er als Virtuose betrieb und um deretwillen er zu den Diners wie ein Künstler zu einer Aufführung engagirt wurde, früher nur mit einigem Widerstreben geduldet, in letzter Zeit zeigte sie ihm ein nervös freundliches Gesicht. [218] Ein ehemaliger buchhalterischer Kompagnon ihres Mannes – doch wollte sie einfach nicht wissen, wie klein und von welchem Winkel aus die Beiden eigentlich begonnen. Später hatte sich Belzig aufgezwungen und sich durch seine Specialitäten, seine Bilderbogen, Etiketten und besonders seine unzerreißbaren Kinderbücher Namen und Vermögen erworben, während Perkisch nach wie vor in nicht ganz hellen Gewässern umherglitt. Man wußte nicht, was er außer seinen Toasten betrieb, er schrieb effektvolle Reclameartikel, und man sagte, er habe sich der „unzerreißbaren Firma“ dadurch unentbehrlich zu machen gewußt; er hatte sich in allerlei Kommissions- und Hintertreppengeschäften versucht und eine Zeit lang eine sogenannte Professur an einem dunkeln Handelsinstitut bekleidet. Ein mittelgroßer Mann von unbestimmbarem Alter, übertrieben höflich, aalglatt in Wesen und Anzug, mit einem Ausdruck des gänzlich rasirten, gelblichen Gesichtes, der aus einem Prediger und einem Diplomaten gemischt schien; Sprache und Gesten erinnerten an einen Officier.

Sie hatten Beide Recht, Mühüller wie Perkisch. Es sah nicht aus, als könnte Eff’s hohe und kräftige Gestalt, die so sicher ihren Weg dahinschritt, leicht ins Stolpern gerathen, auch hatte der Angeredete sein Kommando zum Generalstab nicht wie manche seiner Kameraden einem heißen und unersättlichen Streberthum zu verdanken. Das männliche, mit einem dichten, normal schönen, hellbraunen Vollbart ausgestattete Gesicht mit den großen offenen Blau-Augen, der energischen Nase und der freien faltenlosen Stirn war die Verkörperung alles Tüchtigen und Zuverlässigen.

„Nun, wie denken Sie darüber, Herr von Gamlingen?“ hob die Hausfrau von Neuem an, zu dem Oberstlieutenant gewandt, diesmal leuchteten auch noch die Meisterstücke ihres prächtigen Gebisses.

Perkisch’s blöde Augen, die stets in scheinheiliger Verlorenheit über eine poetische Wendung nachzusinnen schienen, trotzdem aber sehr scharf beobachteten, schlossen sich bis zur Schmalheit einer Linie – o, er kannte seine Leute! Die Bemerkung war nicht ohne Absicht und nicht bloß als Gesprächsfüllsel von Frau Belzig hingeworfen worden. Die Situation war folgende: Eff liebte Melitta, die Jüngere des Hauses, leidenschaftlich, sie liebte ihn wieder, eben so leidenschaftlich. Der Ehrgeiz der Mutter, der bestrebt war, den Parvenühauch des Hauses durch eine glänzende Heirath ihrer Töchter zu verwischen, schien nicht fanatisch genug, um sich brutal und ohne Besinnen über das Glück ihrer Kinder hinwegzusetzen. Dieser Ehrgeiz befand sich dennoch gerade jetzt in einem gereizten Zustande. Und er selbst, Perkisch, war schuld daran: warum hatte er den Grafen, diesen famosen Grafen Nachewski, in den Salon der Belzig’s eingeschmuggelt! („Wo zum Teufel hat er den Grafen her?“ fragte der schreckliche Mühüller immer wieder.) Natürlich würde man auf den Grafen anbeißen, Melitta ist nicht frei, jedenfalls aber Lolo. Eff ist wohl eine solide Partie; er wird schon Karrière machen, aber sein Name ist hart, ist häßlich, ein abgehackter Namenssplitter, nichts weiter als ein Buchstabe! „Frau Eff“ ist gar nicht zum Anhören! Der gute Eff wird sich also dazu bequemen müssen, seinen Namen tüchtig zu renoviren, oder – oder man muß sich zu einer Gewaltthat aufschwingen und ihm die Tochter, wenn er sie begehrt, rundweg abschlagen! Es ist doch so einfach – eine so hübsche Gelegenheit: es kostet nichts, den alten Oberstlieutenant zu einer Adoption zu bewegen. Und wer würde dumm sein und nicht zugreifen? Freiherr Trutz von Gamlingen zu Trachenberg, klingt das nicht wie eine pompöse Fanfare, die zu einem rauschenden Feste ladet?

„Ze … ze … ze …“

Der alte Herr stieß ein wenig mit der Zunge an, und er schien mit den Fingern seiner kurzen rundlichen Hand, die er jedesmal beim Beginn einer Rede in die Höhe des Schnurrbärtchens emporhob, gleichsam die widerspenstischen Worte hervorzuzupfen.

„Ze … ze … ze … wir würden uns gut zusammen vertragen, nicht wahr, Herr Lieutenant?“

Die Bemerkung kam so spät, als hätte sie all’ die Zeit zum Ausreifen benutzt.

„Zweifle durchaus nicht, Herr Oberstlieutenant,“ antwortete Eff verbindlich, mit einer kurzen Verbeugung und einem leisen Zusammenklappen der Stiefelhacken.

Aber genug des Scherzes! Es war ja doch nur ein Scherz, meinte Eff für sich. Schon der komische Kontrast der beiden Gestalten: hier die Hünenfigur des zu adoptirenden Sohnes, dort, die winzige, fast possirliche Persönlichkeit des Adoptivvaters, dessen ganzes Streben nur darauf hinauszugehen schien, die Erinnerung an seine vor Jahrzehnten abgeschlossene Militärkarrière auch in seiner äußeren Erscheinung festzuhalten – das kurze stramme Trippeln der säbelförmigen Husarenbeinchen, das keck aufwärts gesteifte Schnurrbärtchen, die vorschriftsmäßig über die Schläfen nach vorn gestrichenen silbergrauen Haare, die Nonchalance im Tragen der Civilkleidung, wovon besonders Kravatte und Kragen wahre Musterleistungen phantasievoller Unordnung aufwiesen.

Wie war man doch auf den Scherz verfallen? Nun, es war von der Adoption eines Prinzen durch einen Reichsunmittelbaren die Rede gewesen – ein erlöschendes Geschlecht, das seinen Namen vor dem Untergang zu retten sucht. Und auch hier war es der letzte Sproß eines altehrwürdigen Geschlechtes, der seinen Namen einsam und unbegleitet zu Grabe tragen würde. Schon einmal war den Lippen des alten Herrn in Eff’s Gegenwart ein wehmüthiger Seufzer entschlüpft: „Ich hätte mich längst nach einer Adoption umsehen müssen …“ Und auch Frau Belzig hatte schon einmal im Freundeskreise diese Adoption berührt, freilich nicht so deutlich wie heute. Fast schien es eine Verabredung zwischen ihr und dem Freiherrn. Doch Eff’s gerade und naive Natur sträubte sich gegen die Voraussetzung eines solchen Raffinements.

Ja, genug des Scherzes! Welche moralische Häßlichkeit: ein Mann, der seinen alten ererbten guten Namen mit dem bunten Flittertand eines fremden Namens, um äußerer Vortheile willen aufputzen will – der solide, bescheidene, lakonische Einsilber Eff, der sich von dem arroganten Geschnörkel eines Freiherrn Trutz von Gamlingen verschlingen läßt!

Während der Diener Friedrich mit seiner Geheimrathsmiene den Kaffee offerirte, nahm Eff Gelegenheit, sich zu erheben. Drüben saß sie – und er hatte sich nur durch die Höflichkeit gegen die Hausfrau nach dieser Gruppe verschlagen lassen.

Er ging auf einem Umwege, an einem geöffneten Sammelwerk vorüber, das dort auf einem Tische lag und in das er zwei heuchelnde Blicke warf. Nachdem er sich dann einen Augenblick mit aufrichtigem Wohlgefallen an der malerischen Wirkung der in magischer matter Beleuchtung sich öffnenden Flucht der Prachträume geweidet, trat er hinter Mühüller’s Sitz, die Blicke auf Melitta gerichtet, die mit ihren strahlenden Augen längst sein näheres vis-à-vis herbeigesehnt.

Der „Scherz“ war wie ein Funke auf diese Nachbargruppe übergesprungen und hatte hier gezündet. Der weißlich blonde, glänzend geschniegelte Kopf Mühüller’s wandte sich zu Eff empor.

„Nun, Baronchen?“

Es tönte auffällig durch den weiten Salon. Mühüller hatte wohl nur eine neckische Zuflüsterung beabsichtigt, aber seinem scharfen ostpreußischen Organ geriet kein Flüstern.

„O, ho, ho!“ sagte Eff in jenem Gutturalton, mit dem man wohl ein muthwilliges Pferd beruhigt, und klopfte auf die Epauletten des Kameraden.

„Na, ich weiß nicht,“ fuhr Mühüller empor, und diesmal war auch kein Flüstern beabsichtigt. „Ich kann mir doch wahrhaftig keinen tüchtigeren Baron denken als Sie!“

Er durfte sich das dem Regimentskameraden gegenüber wohl erlauben. Hatte er, Mühüller von der Centralturnanstalt, überhaupt nicht das Privilegium, auch mit seinen Worten und Bemerkungen kühnere Sprünge auszuführen? Er warf einen verschmitzten Seitenblick auf das rosarothe Gesicht des Grafen, das doch, in der Nähe betrachtet, die beginnende Verwitterung nicht verleugnete – „Perkisch’s Graf“ wie Mühüller sagte; in welch verwunderlich müde, abschreckend nichtssagende Pausen verfiel dieser junge Greis doch nach seinem jedesmal losgelassenen Feuerwerk von Späßen und Anekdoten!

„Schon gut, Mühüller! Lassen Sie das!“ sagte Eff in liebenswürdig abwehrender Art. Als er seine Augen zu Melitta hinüberwandte, hauchte eine feine Röthe über deren Antlitz bis zu dem Gekräusel ihres mattbraunen Haares, das so reizvoll das Elfenbeinweiß ihrer Stirn umrahmte. Sie lächelte, wobei sich die köstlichen Grübchen in dem zarten Oval der Wangen zeigten; [219] es war ein eigenthümliches Lächeln lüsterner Verlegenheit: ein Kind, dem eine bunte Kostbarkeit gezeigt wird und das gerne zugreifen möchte.

Nein, nicht das! Eff sah in dieser Röthe und in diesem Lächeln nichts Anderes als Glück, Hoffnung, das Bewußtsein, daß sie Beide zusammengehörten und nicht von einander lassen würden. Seine Augen strahlten.

„Na, ich weiß nicht,“ fuhr das enfant terrible mit bekannter Zähigkeit fort. „Wenn Einer kommt und mir solchen Braten anbietet, ich genire mich nicht, ich greife einfach zu. Mühüller – man hätte in der Wahl seines Namens vorsichtiger sein können – Müh – hüller, ich bitte Sie, meine Herrschaften, nicht Müll – err! ich bitte das nicht zu verwechseln!“ Er rief es gedämpft, im komischen Ausruferton. Dann die Unterarme flach auf die Kniee gelegt, mit gesenktem Kopf vor sich hinmurmelnd: „Ich weiß, es klingt so wie Müller, und es liegt mir nicht viel daran, daß es so klingt. Wenn einer käme und mich gründlich von dieser Müllerei kurirte, ich wäre ihm sehr dankbar.“

„Aber Herr Lieutenant!“ rief Lolo lachend.

„Sie sind ein entsetzlicher Mensch!“ jammerte Frau Belzig gleichfalls lachend, mit dem Fächer einen Schlag durch die Luft nach ihm hinführend.

Natürlich ließ er erst recht nicht nach und sagte noch lauter: „Ich weiß nicht, ob ich nicht die allererste Gelegenheit ergreife und mich auch adoptiren lasse! Wer will mich denn haben? Gesund, immer fidel, springe über vier Kasten, Hechtsprung, Todtensprung, was Sie verlangen – beiße Ihnen ein Stück aus einem Bierseidel oder, wenn Sie’s riskiren wollen, auch die Tischecke da ab -“

Er grinste und wies dabei die großen, breiten, wie aus zwei massiven Elfenbeinstücken geschnitzten Zähne.

„Genug, genug, halten Sie ein!“ wehrten die Damen. Alles lachte. Die alte Tante Mala (nach der Edition Mühüller „Via Mala“ genannt), ein kostbares, nach Gold klingendes Familienstück, übertönte die allgemeine Heiterkeit mit ihren hohen, kreischenden Lachausbrüchen, sie hörte so gut wie nichts, aber Lieutenant „Müller“ (das einfache derbe „Müller“ – und sie blieb dabei) hatte jedenfalls wieder etwas besonders Köstliches losgelassen.

„Na, also der Mü – hü – hüller ist zu haben! (in dem Ton der Jahrmarktsschreier fortfahrend:) Wer, meine Herrschaften, hat Lust? Sie vielleicht, Herr Graf?“

Der Angeredete hob den mit wolligem Flaum bedeckten Kugelkopf, wie aus einem jener müden und stummen Anfälle erwachend, empor. Er schlug mit nervöser Hast ein Bein über das andere und schlenkerte den schmalen, mit einem Lackschuh bekleideten Fuß. Er fühlte sich nicht ganz behaglich unter dieser „Müllerei“.

„Man muß diesen Bajazzo mit in Kauf nehmen: er spielt eine Rolle hier im Hause,“ wollte sein Lächeln sagen; aber er brachte es nicht zu einem solchen. „Es würde mir eine große Ehre sein,“ erwiederte er matt und vornehm abweisend, die langen, überaus zarten und blüthenweißen Finger der Rechten nach der weit ausgezwirbelten Spitze des dunklen Schnurrbartes erhebend, ohne diese zu berühren.

Mühüller enthob ihn der Verlegenheit. „Ah Pardon, Herr Graf, es geht ja nicht – die Frau Gräfin, wenn Sie eine solche haben werden –“ er machte eine bedeutsame Pause, die Augen schelmisch zu Boden geschlagen, beim Aufblicken vermied er Lolo, und dann gedämpfter: „– die Frau Gräfin würde sich schönstens dafür bedanken.“

Eff trachtete vergebens, durch einen strafenden Blick solcher Produktion Mühüller’scher Cirkuskünste Einhalt zu thun.

Und dann, ohne die Wirkung dieses kleinen Ausfalles abzuwarten, schnellte Jener auf dem Sitz herum: „Herr Perkisch, Sie? – Ah Pardon, das lohnt nicht! Für solche Kleinigkeit haben Sie natürlich keine Verwendung!“

„Aber, Herr Belzig, Sie vielleicht?“ Diesmal geschah die Frage mit der leichten Karikatur einer ceremoniösen Verbeugung.

Die hagere Gestalt des Hausherrn erwiederte zerstreut und linkisch schmunzelnd die Verbeugung. „Gern, sehr gern!“ rief er.

Melitta hörte nur mit kurzen gelegentlichen Wendungen des Kopfes und mit einem mechanischen Lächeln nach Mühüller hin. Eff war zu ihr getreten und unterhielt sich mit ihr, den Arm auf die Lehne des Fauteuils gestützt, den Kopf zu ihrem Antlitz herabgebeugt. Anscheinend sprachen sie über Gleichgültiges: über das Theater, über ein Buch, oder was war es doch? – Worte gaben nur die Begleitung, die Hauptmelodie wurde von ihren Augen gespielt. Wie bestrickend, wie zauberisch sie ihnen erklang!

Endlich konnte das kostbare Familienstück dem Gelüste nicht widerstehen, den Grund des eigenen Lachens, unter dem fort und fort die unzähligen Bänderchen ihrer Salonhaube erzitterten, zu erfahren. Das Ungethüm ihres guttapertschauen Hörapparats emporhaltend, geraden Wegs in die Gesellschaft hinein für irgend wen, der ihr antworten wollte, fragte sie: „Wovon ist denn die Rede? Lieutenant Müller ist doch zu drollig!“

Sofort war Mühüller an ihrer Seite, erfaßte mit einer Verbeugung das trompetenartige Rohr und begann laut und accentuirt hineinzurufen: „Man will mich adoptir – enn, mein gnä – di – ges Fräulein! Sie woll – enn mich All – e hab – enn! Ich weiß nicht – wen ich nehm – enn soll!“

Und das Horn immer noch in der Hand haltend, blickte er mit einer köstlich unglücklichen Miene in das begierig horchende Gesicht der alten Dame. Diese nickte überfroh: immerhin hatte sie doch die Worte verstanden, wenn auch der Sinn ihr unverständlich schien.

Wieder allgemeine Heiterkeit. Frau Belzig aber rückte ungeduldig auf ihrem Sitz – es war etwas zu viel! Dieser Müller mit dem H, wie er sich oft in selbstironisirender Weise vorstellte, ist ein guter Bursch und sie möchte einen solchen guten Komiker in ihrem Salon nicht missen – aber zuweilen kann er kein Ende finden. Hat er nicht mit seiner Parodie die ganze Wirkung ihrer Bemerkung über den Haufen geworfen und ins Lächerliche gezogen? Dieser Eff – sie stolperte jedesmal darüber – mein Gott, welch ein Name! Noch nie war dessen nichtssagende Häßlichkeit ihr so aufgefallen! – Dieser Eff schien die ganze Angelegenheit wirklich nur als einen Scherz aufzufassen. Der fascinirende Glanz des anderen Namens schien nicht einmal einen Eindruck auf ihn zu machen. In naivster Sorglosigkeit tändelte er mit Melitta! Ah, entweder – oder!

„Melitta!“ rief sie fast streng.

„Mama!“

Und sofort wandte sich die Gerufene wieder zu Eff zurück. „Ja, Dahn ist mir auch tausendmal lieber als Ebers. Ich liebe Dahn furchtbar. Einiges von Ebers ist ja wundervoll … ich komme gleich, Mama!“

Es war schwer, sich aus solcher „furchtbar“ interessanten literarischen Unterhaltung loszureißen.

„Mein gutes Kind,“ sagte Frau Belzig, und die Maske der erheuchelten Freundlichkeit, die anfangs ihre Verstimmung decken sollte, ging allmählich in eine aufrichtig strahlende Miene über, wie ihre Augen sich an der herrlichen Schlankheit ihrer Jüngsten zu weiden schienen – der Mutterstolz verwischte jede Unmuthsfalte. „Mein gutes Kind, bitte, sorge dafür, daß der Wagen für das Theater rechtzeitig bereit ist. Wir haben ein tüchtiges Stück zu fahren. Auch müssen wir noch eine Droschke dazu haben.“

Melitta nickte, es fiel ihr schwer, ihre freudige Hoffnung zu verbergen: vielleicht bedeutete das Supplement dieser Droschke, das man der eigenen Equipage zufügte, daß Lieutenant Eff mit von der Partie sein werde.

Herr Belzig kam mit drei Cigarrenkisten bepackt herbei, um die Herren zum Rauchen einzuladen: ein anderes Zeichen zum Aufbruch.

„Ich kann Ihnen diese dunkle da empfehlen – früher mein Lieblingskraut. Leider rauche ich selbst nicht mehr. Ich kann es nicht mehr vertragen.“

„O wie schade,“ sagte der Oberstlieutenant, mit seiner leicht bebenden Hand in der Kiste tastend; „ich leiste mir eine am Vormittag, eine am Nachmittag.“

„Ich schösse mich todt, wenn ich nicht den ganzen Tag rauchen sollte wie ein Schornstein! Sie müssen turnen, Herr Belzig,“ meinte Mühüller, griff herzhaft ist die Kiste und prüfte, in den Knieen wippend, die Cigarre mit kurzem dreisten Kennerblick. „Es giebt nichts Gescheiteres als Freiübungen.“

„Ich laufe,“ erwiederte Herr Belzig. „Jeden Morgen noch vor acht Uhr renne ich den Thiergarten ab. Ich trinke Brunnen.“ Es gab wenige Monate des Jahres, wo Herr Belzig nicht Brunnen trank.

[220] „Brrr! im Januar!“ rief Mühüller.

„Perkisch, nimm nur, ich weiß schon, es giebt nirgends –“

„– in Berlin eine bessere Cigarre!“ fiel Perkisch im Ton des Recitativs ein. Er raffte unter dem Deckmantel dieses Duetts, das der pedantische Belzig bei der Cigarre seit Jahren mit ihm intonirte, ein ganzes Päckchen aus den drei Kisten zusammen. Er wußte sich für seine Toaste schadlos zu halten!

Bald, mitten in einer Rossi-Begeisterung, die sich der Gesellschaft bemächtigt hatte, brach man auf.

„Was, Sie haben Rossi noch nicht gesehen, Herr Lieutenant?“ fuhr Melitta in das Gespräch des Generalstäblers mit einer ältlichen Dame, einem gleichgültigen Lückenbüßer der Gesellschaft, herein – „Sie müssen Rossi sehen! Sie können sich nirgends mehr zeigen, ohne ihn gesehen zu haben.“ Sie war ganz Feuer und Begeisterung.

„Ich bin augenblicklich sehr beschäftigt,“ antwortete Eff, mit einem tiefen Athemzug die Schultern hebend. „Ich stecke in einer wichtigen Arbeit, und ich muß sogar die Nächte zu Hilfe nehmen. Ich hätte Rossi sehr gern gesehen.“

Er fügte das mit Nachdruck hinzu, seine Augen in die ihren versenkend.

„O wie schade!“ sagte Frau Belzig, die Mittheilung aufgreifend; sie war mit einer auffallenden Hast herzugerauscht. „Wir haben einen Platz in unserer Loge frei und hofften, wir würden die Ehre haben, mit Ihnen den Abend zu verbringen.“

Es war die kalte Phrase, mehr eine Abwehr, daß er sich ja nicht in seiner Arbeit stören ließe. Der Platz war ja längst für einen Andern bestimmt.

„Rossi ist einzig! Rossi ist entzückend!“ rief Melitta, und ihre Herzensangst vibrirte durch die Worte. Ihre Augen flehten Eff an – ohne ihn wird Rossi entsetzlich, ganz fürchterlich sein!

Der Lieutenant dankte höflich für die Einladung.

„Ja, diese Herren vom Generalstab! Alle möchten sie natürlich gern Moltkes werden!“

Und Frau Belzig rauschte davon, auf Lolo zu, die sich mit dem Grafen unterhielt. Dieser mochte ein neues, noch nicht gebrauchtes Register seines Unterhaltungsrepertoires aufgezogen haben, wenigstens schien sich seine Zuhörerin köstlich zu amüsiren, und in der glitzernden Lebhaftigkeit ihres frischen Gesichtes, das in seiner Rundlichkeit mehr als das Melitta’s dem der Mutter ähnlich war, sah sie besonders lieb, fast pikant aus. Nein, nein, sie brauchte keine Furcht zu haben, daß Jemand sie nur des Geldes wegen zur Frau begehrte!

Und der Graf, wenn er nicht seine müden, greisenhaften Momente hatte und sich auch körperlich aus einer gewissen Gebeugtheit aufrichtete, war wirklich keine üble Erscheinung. Er hat gelebt, er hat seine Vergangenheit – nun, das giebt die besten Ehemänner. Seine Rosaröthe, sein Lächeln, die naive grelle Bläue seiner vorstehenden Augen: das Alles bürgt dafür, daß ihn diese Vergangenheit nur oberflächlich gestreift. Nein, nein, gewiß, wenn man ihn acceptirt, und er scheint sich ernstlich für Lolo zu interessiren, so geschieht es nicht um das dumme Ding einer neungezackten Krone …

Gleich darauf sah man den Grafen Nachewski ein Kompliment machen, das eine Annahme der nunmehr an ihn gerichteten Einladung bedeuten mußte. Und Lolo erröthete verlegen.

„Bravo, bravo! Nun natürlich!“ erläuterte halb für sich Lieutenant Mühüller, der die Scene verfolgt hatte.

Perkisch schmunzelte, auch das entging Mühüller nicht.

„Na natürlich! Sie beißen auf seinen Grafen an!“

Frau Belzig war ganz glücklich, und die Reflexe und Lichter ihres Gefühles hörten den ganzen Abend hindurch nicht auf von diesem Glück zu erzählen. Von all den Besuchern der heutigen Rossi-Vorstellung leuchtete wohl keinem die Begeisterung für den großen Mimen heller aus dem Antlitz als ihr, deren Loge vorn mit einem leibhaftigen Grafen und zwei „bildschönen“ Töchtern garnirt war. Nach dem ersten Akte waren drei reizende Bouquette, die den süßen Duft der Gardenia verbreiteten, in der Loge abgegeben worden. Von ihm, ihrem erlauchten Gast? Nun, er war doch selbst ein wenig überrascht! Es war ein kleiner hübscher Trumpf, den Perkisch für des Grafen Rechnung ausgespielt. Perkisch ist vorzüglich, er kennt seine Belzigs, und er kennt seinen Grafen, der in seiner unbegreiflichen Sorglosigkeit jedenfalls diese wichtigen Bouquette vergessen hätte.

„Belzig, so applaudire doch!“

Es klang fast, als lüde Frau Belzig ihren Gatten ein, daß er ihr selbst applaudiren möchte. Dieser saß da und brütete jedenfalls, während die italienischen Tiraden Rossi’s sein Ohr betäubten, über einer geschäftlichen Unzerreißbarkeit.

„Ausgezeichnet! Bravo! bravo!“ fuhr er zerstreut empor. Mußte er nicht im Stillen eingestehen, daß nur sie es war, die den Salon Belzig glanzvoll zu dekoriren verstand mit Namen, Titeln und Epauletten, darunter ein paar Generalsepauletten, ja nun gar mit einer Grafenkrone? Ohne ihre rastlosen Bemühungen und ihre fieberhafte Wachsamkeit wäre die „unzerreißbare Firma“ in ihrem Golde erstickt. Wenn es nach ihm gegangen wäre, so hätten die Thürpfosten ihrer Wohnung nicht ausgereicht für die anlehnende Pose des langweiligen, langmähnigen Litteratenpacks, und er wäre im Stande gewesen, die Mädchen, diese geborenen Prinzessinnen, an einen honorargierigen Belletristen oder an ein übergediegenes Firmenschild mit Kompagnie und dergleichen zu vergeben.

„Applaudiren, Belzig!“

Ja, nun war es genug und völlig abgethan mit jener Redensart, die sie seit zwanzig Jahren stets wie eine Legitimation bei sich getragen. „Bei uns (sie meinte das Haus ihres Vaters, eines Bürgermeisters in einer kleinen niederrheinischen Stadt) verkehrte das ganze …te Husarenregiment, der Kommandeur, ein Graf von Soundso, an der Spitze.“ Bah, sie wollte sich auch nicht mehr darüber ärgern, daß der Lithograph hartnäckig das „van“ in dem „geborene van Schülpchen“ auf ihren Visitenkarten in ein „von“ umwandelte. Wegen eines elenden Vokals!

„Bravo, bravo, bravo!“ rief Belzig, da Rossi eben seinen Abgang hatte, in jenem plärrenden Staccatotempo, das er in einem italienischen Theater gehört.


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[237]
2. Die Heinzelmännchen.

Eine öde Nummer! Oberfaul!“ rief Lieutenant Mühüller, das surrende Geräusch des Gaskandelabers, das die hohe feierliche Treppenhalle erfüllte, übertönend. „Vier Assistenzärzte und ein halber Zahlmeister – es ist zum Radschlagen!“

Es war vom neuesten „Militärwochenblatt“ die Rede. Auch der Oberstlieutenant liebte es, selbst noch nach zwanzigjähriger Inaktivität in Avancementsgesprächen zu schwelgen; er bekam das wichtige Blatt regelmäßig von Eff zugestellt.

„Es scheint Alles zu stocken dort oben,“ antwortete er, „es rückt und weicht nicht. Ze … ze … ze … zu meiner Zeit (das famose ‚zu meiner Zeit‘ der Pensionäre, das so bitter, so scharf, so wehmüthig, so stolz, so liebevoll hätschelnd zu klingen vermag), zu meiner Zeit warteten wir oft halbe Ewigkeiten auf einen Eisgang. Ich wußte es, nach dem Krieg mußte ein Umschlag eintreten. Sehen Sie, meine Herren, mit dem Avancement ist es so eine Sache –“

Und er blieb auf der Treppenstufe stehen, setzte sich förmlich in Positur, um seine besondere Avancementstheorie zum hundertsten Male aus einander zu setzen.

Um Gotteswillen – hier auf der Treppe! Er würde kein Ende finden! Der angehende Generalstäbler kam dem Unheil in seiner ruhig höflichen Art zuvor:

„Wissen Herr Oberstlieutenant schon, Stachvogel soll die …te Division erhalten!“

„I was Sie …? Ich bitte Sie, Stachvogel?! Der ist ja noch gar nicht an der Tour!“

Die Neuigkeit hatte eine erregende Wirkung, und die stramme Positur ließ sich nicht länger behaupten.

„Ze … ze … wissen Sie auch, daß ich Stachvogel noch bei meiner Schwadron als Lieutenant hatte? Später mein Adjutant.“

Er hatte ihnen oft genug von dieser Adjutantur erzählt.

Wenn er daran dachte! Wie oft hatte er Stachvogel vor der Front abgekanzelt! Freilich gewann später der Adjutant über ihn die Oberhand. Sein Untergebener damals, aber ein recht schwieriger – und nun eine Excellenz! Was wäre er selbst denn jetzt schon, wenn er geblieben wäre! Ach, all der fröhliche Glanz, der aus jener Zeit in das Dunkel seiner alten Tage herabstrahlte!

Sie hatten den Podest des Erdgeschosses erreicht. Die Thüren zu den Komptoirräumen der Firma Belzig standen offen; drinnen summte es von geschäftigem Geräusch; Arbeiter kamen mit schweren Stößen von Drucksachen und Büchern – und dort vor dem aufdringlichen Glanz des großen messingenen Schildes, das die Bezeichnung: „Otto Friedrich Belzig, Verlagsbuchhandlung“ trug, verblaßte plötzlich die ganze Herrlichkeit der Erinnerungen.

Vor sechs Jahren war es, als dieses Schild ihm zum ersten Male mit brutaler Deutlichkeit das ganze farblose Nichts seines a. D. aufgedeckt. Er stand mit [238] seinem Töchterchen Olga davor – als Bittende waren sie gekommen, Arbeit suchend, Arbeit für Olga’s fünfzehnjährige Kinderhändchen Es war in der Zeitung der Köder: „Leichter Verdienst für Damen“ ausgeworfen worden: ein renommirter Verlag, der geschickte Hände zum Koloriren brauchte.

„Papa! ach ja, Papa! Ich gehe hin, ich melde mich! Wozu nützt mir sonst mein Zeichentalent?“

Das herzige Kind war ganz Begeisterung.

Papa war erstaunt – er verstand nicht sofort. Was? Sie wollte gleich einer Tagelöhnerin sich hinsetzen und Bilder koloriren? Die Tochter des Oberstlieutenants Freiherrn von Gamlingen?

„Aber, Papa, was ist dabei? Es ist ja nur des Scherzes wegen. Ich werde mich kostbar amüsiren. Versuchen kann man es doch!“

O, es gab so noch so viel Zeit unterzubringen! Es war ja nicht dies niedliche Persönchen mit seinem klugen Blondkopf, nein, es waren gewiß die unsichtbaren Heinzelmännchen, welche die Wirthschaft des Vaters so musterhaft blank in Ordnung hielten – wer könnte sich auf eine plumpe und übelnehmende Aufwärterin verlassen? O gewiß, die fünfzehnjährigen Händchen waren ja nur so rauh vom Klavierspielen und die allerlei kleinen Narben rührten vom Romanlesen her.

Es war wie ein Schreck, der den guten Papa überfiel. Man hätte es ihm allmählich beibringen können; aber dergleichen Annoncen spornen zur Eile. Sie hatte nicht bedacht, wie unvorsichtig sie damit die ganze Situation bloßlegte. Nun ja, die Verhältnisse waren nicht glänzend, das Vermögen des Freiherrn war durch allerlei Zufälle in den letzten Jahren immer mehr zusammengeschmolzen, die beiden Brüder, die in kostspieligen Regimentern standen, hatten tüchtig von der väterlichen Schatulle gezehrt, und man wollte den braven Jungen nicht den Tort anthun und sie in obskure Regimenter versetzen lassen. Es war noch ein Dritter da; an der Wand des Wohnzimmers hing das verblaßte Daguerreotyp eines jungen Menschen im Maskenanzuge. Sie wußte: es war der Aelteste. Sie erinnerte sich nur ganz dunkel aus ihrer frühesten Kindheit seines Gesichtes und eines gewissen, immer wiederkehrenden Alarms, den seine Streiche im Hause verursachten. Dann erlosch seine Spur. Papa sprach nicht von ihm, nicht mit ihr, die doch sonst in alle seine Verhältnisse eingeweiht war. Zuweilen, wenn die beiden Brüder zu Besuch waren, ließen diese scharfe verdammende Worte über ihn fallen. Aber der Vater vertheidigte ihn immer wieder, sein Herz vermochte sich nicht von dem Herzen des unglücklichen Verlorenen loszureißen. Manchmal kamen Briefe an, die der Alte verheimlichte; sie wußte auch, daß die nur zu bereitwillige Schatulle sich eben so heimlich gewisser Geldsendungen entledigte.

Der Freiherr hatte nach dem Tode der ersten Gattin abermals geheirathet. Die Erkorene war die Wittwe eines entfernten Vetters von Gamlingen und Mutter des niedlichen Blondkopfes Olga. Doch auch dieses Band zerriß der unerbittliche Tod nach kurzer Frist, Olga war vier Jahre alt, als ihre Mutter starb. Sie bewahrte von der Verklärten nur die dunkle Erinnerung einer zarten, blassen Gestalt, die ihr kleines Dasein mit lautlosen Engelsfittichen umschwebt hatte. Doch ihr Andenken schien im Laufe der Jahre zu einem immer deutlicheren Bilde in der rührenden Verehrung heranzuwachsen, welche Stiefvater und Stiefbrüder der Verstorbenen widmeten.

Stiefvater – Stiefbruder – die häßliche Silbe „Stief“ – sie wollte nichts davon wissen! Warum hatte sie überhaupt davon erfahren, daß Papa nicht ihr leiblicher Vater? Konnte sie sich denken, daß es eine Kindesliebe gab, die sich das Recht anmaßte, stärker und echter zu sein, weil sie im Blute wurzelte? Trug sie denn nicht denselben Namen wie ihr Vater?

Der Krach eines Bankhauses ließ das Vermögen bis auf einen winzigen Rest auffliegen, und man war fortan auf die bescheidene Pension angewiesen. Welches Elend, unter der Last solches Namens Noth zu leiden! Aber man muß tapfer sein! Nun gerade wollte Olga zeigen, daß sie eine Trutz-Gamlingen ist! Ist denn Arbeit eine Schande?

Wie sie zugriff! Wie sie ihre zehn Heinzelmännchen in der Wirthschaft leistete! Welch eine Heldin, dies Kind, das mit seiner Fröhlichkeit selbst die grauesten Tage sonnig verklärte!

Der Freiherr selbst hatte es mit einer Stellung versucht. Er war alt, er war Kavallerie-Officier gewesen; das Vorurtheil, einer anderen Sache zu dienen, die nicht die Etiquette „Königlich“ trug, beengte ihn, und der Name schmerzte ihn bei jeder Bewegung wie ein Dorn; in der subalternen Luft eines Bureaus wäre er erstickt. Er war von Versuch zu Versuch getastet, man hatte ihn zuletzt in das Kuratorium einer größeren patriotischen Stiftung gewählt, wo er über das Bedürfniß hinaus sich abmühte für das geringe Honorar, das an dem Amte hing und das ihn wie ein Almosen zu bedrücken schien.

Da warf die Firma Belzig den Köder aus. Es wäre eine verschämte Arbeit, die nicht anstrengen würde und die mit dem Namen nicht in Konflikt käme. Am Nachmittag standen Vater und Tochter vor dem glänzenden Schild in dem vornehm dämmerigen Treppenhause am Lützowufer, dessen reichlicher Pflanzenschmuck eine würzige Treibhausluft verbreitete. Endlich wurde geöffnet; ein Kontorist nickte barsch und wies die Bittsteller nach einer zweiten Thür, man bäte Platz zu nehmen da drinnen.

Die Aufforderung war wohl nur ein Hohn? Sie wären auf der Schwelle fast umgekehrt: ein großer Saal, der mit Wartenden und Bittenden gleich ihnen angefüllt war. Die ganze verschämte Armuth des Potsdamer Viertels schien sich hier ein Rendez-vous gegeben zu haben. Damen jeglichen Alters, von dem Backfischchen mit bebändertem Zopf, das mit naiver Neugier sich der Neuheit dieser Situation fast zu freuen schien, bis zu dem verhärmten Mütterchen, das mit bebender Angst die Konkurrenz immer noch anwachsen sah. Die wenigen Stühle waren besetzt; man stand umher, in den Fensternischen, an den Wänden, in der Mitte des Saals, die meisten nach der Thür hingedrängt, die sich von Zeit zu Zeit öffnete, um eine der Konkurrirenden in das Allerheiligste vorzulassen. Es gab allerlei Toiletten, einzelne scheinbar elegante, die sich aber dieser Eleganz an solchem Orte schämten und sich in den Winkeln zu verbergen suchten, andere, die in ihrer zusammengerafften Originalität sonst gewiß ein Lächeln hervorgerufen hätten, und auch das fadenscheinige zusammengeflickte Elend, das sich mit der Eleganz zusammen in den Winkeln drückte. Die verhärmten, die blassen, ja die offenbar krankhaften Mienen herrschten vor – man hätte glauben können, sich in dem Wartezimmer eines berühmten Arztes zu befinden. Von wieviel grausam zerstörten Illusionen, von wieviel zerbrochenen Lebenshoffnungen erzählten diese Gesichter! Aus einigen grinsten die Noth und der Hunger in erschreckender Hohlheit. Nur hier und da wurde ein Gespräch angeknüpft, das gleich wieder einsickerte; man schämte sich vor einander, man wand sich hin und her, um nicht gesehen zu werden; man musterte sich mit mißtrauischen Blicken; eine peinliche Stille der Verlegenheit lag über dem dumpfen Raum.

„Komm, Kind, hier ist nichts für uns,“ flüsterte der Freiherr.

„Aber, Papa, das weißt Du ja nicht, wir müssen doch abwarten.“

Und in den lachenden, auch hier noch lachenden Augen seines Kindes fand der alte Herr den Muth, in der Scham dieser Stunde auszuharren, die Bilder an den Wänden immer von Neuem zu betrachten, immer von Neuem sich mit den Anderen nach der sich öffnenden Thür umzuwenden, die eigene Ungeduld niederzuhalten, während die Pein des langen Harrens die nervöse Unruhe ringsum steigerte. Ja, es war eine bittere Stunde der Demüthigung.

„Papachen liebes Papachen …“ Wie das gute Kind mit seinem süßen Geplauder ihn zu zerstreuen suchte! Wie ihr köstlicher Humor der Scenerie die komische Seite abzugewinnen wußte! Und von Zeit zu Zeit ein Trosteswort: „Jetzt sind wir noch dreißig – jetzt nur noch vierzehn –“

Endlich kam die Reihe an den Freiherrn und seine Tochter. „Papa, laß mich gehen!“ wehrte sie, da er mit in das Heiligste eintreten wollte. Sie bestand darauf, dem Vater die neue Demüthigung eines Examens da drinnen zu ersparen.

Und siehe da, nach einigen Minuten kam Olga mit strahlendem Gesichtchen zurück. „Angenommen, Papa! Meine Aquarelle müssen wohl Gnade gefunden haben vor diesen Brummbären.“

Sollte es nicht die naiv vertrauende Fröhlichkeit des Gesichtchens gewesen sein, welche die Brummbären besiegt, oder hatten die paar unbeholfenen Blumenstücke, über die man mitleidig lächelte, den Ausschlag gegeben?

Von nun an saß die kleine Heldin viele Stunden des Tages an dem zum Fenster gerückten Tisch und kolorirte. Anfangs eine lustige Arbeit! Es gab immer noch zu lachen über den possierlichen Ernst der Figuren, die auf ihre Farben warteten, und über die [239] drolligen Bonbonverse, die darunter standen. Nach und nach verödete diese Beschäftigung zu einer mechanischen Tagelöhnerarbeit. Nun, es ließ sich aber so hübsch plaudern, während der Pinsel fast mit der kunstlosen Eintönigkeit eines Besens sein Werk verrichtete, und die Schmetterlinge der Gedanken konnten so ungehindert ins Weite flattern. Papa saß ihr dabei gegenüber an demselben Tische und brütete im Angesicht der dicken Stiftungsakten über einem Referat – oder war es nur das Gefühl, daß er nicht hinter seiner Heldin zurückbleiben wollte, was ihn seine Peinlichkeit verdoppeln hieß?

Welche Freude, wenn am ersten des Monats der Kassendiener der Firma Belzig das Honorar brachte! Nicht viel, aber es reichte doch aus, die Miethe zu bezahlen, und im Lauf der Jahre gab es eine Steigerung, als der Verlag zur Herausgabe seiner neuen Puppentheater („unverbrennbar“ natürlich) nebst Textbüchern schritt, die eine Zeit lang in der Spielwaarenbranche Sensation machten.

Einmal kam eine Zeit, wo die Sonne des Humors, die den Kolorirtisch so freundlich beschien, nicht mehr recht leuchten wollte – Monate lang. Es war während des deutsch-französischen Krieges; mit wenigen Wochen Abstand meldete die lakonische Kürze der Verlustliste den Heldentod der beiden Söhne. Der alte Gamlingen war wie gebrochen; aber auch nachdem die Zeit das erste bittere Weh gestillt, blieb eine schmerzhafte Narbe zurück: wenn ihm die Gnade Gottes doch nur einen der prächtigen Jungen bewahrt hätte – nur einen, der den alten Namen der Gamlingen vor dem Erlöschen schützen konnte! So aber würde dieser Name, der die Jahrhunderte kräftig und glanzvoll überdauert, dereinst mit Olgas Verheirathung, mit seinem eigenen Tode, wie ein welkes Blatt verweht werden.

Ist denn nicht der – Dritte da? Da erst erfuhr Olga Näheres über die Irrsale des Verlorenen. Ah, nicht er wäre berufen und befugt, den Namen stolz wie eine Standarte durch die Zeiten dahinzutragen! Und dann, wo war er? Seine Spur war plötzlich, vor Jahren schon, abgerissen. Dann brachte ein Zufall, der Auszug aus dem Schiffsrapport eines Atlantic, die Nachricht seines Todes; er war auf der Rückfahrt nach Europa verstorben. Wenn es die Ehre des Namens galt, so mußte dieser Tod fast willkommen geheißen werden. –

Ja, es war nicht viel Freudiges, was der Spiegelglanz des messingenen Schildes dem Alten beim Vorüberschreiten ins Gedächtniß rief. Aber es wäre Unrecht, ja Undankbarkeit gewesen, wenn er dem Schilde gegrollt hätte. Das geschäftliche Verhältniß zu den Belzig’s hatte sich im Laufe der Jahre zu einem freundschaftlichen gestaltet. Besonders Olga hatte viel dort im Hause verkehrt; Frau Belzig gefiel sich darin, dem Freifräulein eine hätschelnde Mutter abzugeben; Olga war klein und zierlich geblieben und wollte aus dem Backfisch nicht herauswachsen, den großen blitzenden Augen zum Trotz, die so resolut in die Welt hineinschauten. Die Tochter eines Pensionirten – hatte sie denn ein Anrecht, mehr von dem festlichen Lichterglanz des Lebens kennen zu lernen, als den Schein, der von den hellen Fenstern in das Dämmer der Straße fällt? Nun aber durften die kleinen Hände zuweilen selbst in die Zweige greifen und sich ihr bescheiden Theil Naschwerk vom Baume herabholen.

„Zu unserem Bedauern hatten wir in der letzten Zeit nicht die Freude, Ihr Fräulein Tochter zu sehen, Herr Oberstlieutenant,“ sagte der höfliche Eff, als die Herren gemeinsam das Haus verließen.

„Ich danke ergebenst. Ein einseitiger Kopfschmerz – hat Nichts zu bedeuten! A propos, verlautet denn Nichts über die Neubesetzung des Metzer Gouvernements?“ Immer noch das Steckenpferd!

Ein nervöser Kopfschmerz – nun ja, die Kleine hatte ihren Vater gebeten, sie bei den Belzig’s zu entschuldigen, sie wäre nicht im Stande, ein vernünftiges Wort zu reden. Der gute Papa merkte nicht, wie sie in der letzten Zeit mehrmals einen Vorwand suchte, um an einer Einladung bei den Belzig’s vorbeizuschlüpfen. Und der gute Eff hätte sich gewiß nicht träumen lassen, was ihn und die Anderen der Freude beraubte; es war jedenfalls ein aufrichtiges Bedauern, wie auch die Freude aufrichtig gewesen wäre.

Unter einem großen vergoldeten Stiefel, der neben einem Portal in der Derfflingerstraße wie eine Laterne leuchtete, empfahl sich der Pensionär.

„Gute Besserung wünschend, Herr Oberstlieutenant!“ rief Mühüller.

„Wünsche gleichfalls von Herzen!“ fügte Eff hinzu.

„Ze … ze … ze …“

War es die Verlegenheit der anstoßenden, oft über die gleichgültigsten Dinge stolpernden Zunge, die den alten Herrn die Hand des Generalstäblers länger als zu einem gewöhnlichen Abschiedsgruß in der seinen halten ließ? Und mit welch seltsam lauerndem Blinzeln die wasserhellen Aeuglein in Eff’s Antlitz forschten! Aber nichts weiter als das hilflose: „Ze … ze… ze …“ und der militärische Gruß der Hand an der Pelzmütze, die ihre Abstammung von dem ehemaligen Husaren nicht verleugnen konnte.

Die scharfe Januarkälte hieß die beiden Officiere ausschreiten. Nach einem kurzen Schweigen warf Mühüller aus der Vermummung des hochgezogenen Mantelkragens die Bemerkung hin: „Ich weiß nicht, Eff, ich würde zugreifen! Brrr! diese Kälte!“

„Wieso?“ fragte Eff zerstreut.

Mühüller zuckte mit den Schultern: er ist verliebt; er hat ein Recht, zerstreut zu sein; man muß ihn in Ruhe lassen!

Nach ein paar trippelnden Schritten begann er dennoch von Neuem:

„Na, ich weiß nicht – ich würde mir einfach diesen neuen Paletot anschaffen und ihn anziehen. Er wird Sie pompös kleiden; er wird Sie warm halten; das müssen selbst Sie einsehen, trotz Ihrem Generalstab! Ein verteufelt guter Name! Alle Wetter!“

Eff machte kurz Halt. Mühüller, der noch ein paar Schritte weiter gelaufen war, vollführte eine rasche Kehrtwendung: „Nun?“

„Ich weiß wirklich nicht, wie Sie das meinen, Mühüller! Ich dächte, es wäre genug darüber gescherzt worden!“

Es war nicht die geringste Heuchelei bei dieser fast strengen Abweisung.

„Mein heiligster Ernst!“ krähte Mühüller. „Kommen Sie, man friert an. – Sie sehen nicht, Sie hören nicht, Sie sind kein Praktikus! Sie sind zwar vom Generalstab (ein ganz winziger verzeihlicher Neid, der sich immer wieder Luft machte – ‚das Ponceauroth des Generalstabs reizt auch die frömmsten Thierchen,‘ meinte er gelegentlich). Nun, Sie brauchen sich weder zu empören noch erstaunt zu thun. Ich habe es von Perkisch. Es ist vor ein paar Tagen in aller Unverfrorenheit davon die Rede gewesen – ein einfaches Geschäft: der Alte ist durchaus nicht abgeneigt, seinen Namen neu aufzupfropfen – na, ich bitte Sie, es lohnt sich doch! Und Melitta’s Mama muß wohl ihre Gründe haben, daß sie sich so uneigennützig um anderer Leute Namen kümmert. Das heute Abend war nur der erste Vortrupp; Perkisch wird das Gros kommandiren. Sie werden ihn in ein paar Tagen mit einer Offerte antreten sehen. Er wird das Ding von einem Namen eben so in Entreprise nehmen, wie er die Heirath seines Grafen in Entreprise genommen hat …“

„Ah, aber Mühüller, ich bitte, sich zu menagiren! Sie wollten doch nicht behaupten …?“ fiel Eff entrüstet ein.

„Ich sehe, was ich sehe. Ich weiß, was ich weiß. Bin ich ein Schlauberger oder bin ich keiner? Wer ist der Graf? Und wer ist Perkisch? Und wie kamen sie zusammen?“

Ueber Eff’s erstaunte Miene hätte Mühüller fast laut aufgelacht, aber er bezwang sich.

„Na, à part das! Es geht uns ja nichts an! Wohl dem, der kopfhoch in Illusionen steckt – man soll ihn nicht gewaltsam herausreißen! Mancher liebt kalte Douchen, Mancher nicht. Ich weiß, was ich weiß!“ schmunzelte er in sich hinein. Und er ließ noch einmal in Gedanken alle Faktoren des hübschen Rechenexempels Revue passiren: den verschuldeten Grafen und seinen Goldhunger, Perkisch’s außerordentliche Bemühungen, ihn bei Belzig’s zu produciren, den Adelshunger dieser Damen, wenigstens der Mama – die Töchter mochten ja immerhin ein paar gute harmlose Kinder sein – es war wirklich reizend, wie nett das Alles zusammentraf!

Mühüller spitzte die Lippen und fing an, vor sich hin zu pfeifen.

„Ich verstehe Sie nicht!“ unterbrach ihn Eff ungeduldig.

„Na, denken Sie, was Sie wollen, lieber Eff! Am besten vielleicht, Sie denken gar nicht darüber nach. Wollte Ihnen nur [242] Eins sagen – meine verdammte kameradschaftliche Pflicht: welch eine Primaprachtkarrière stände Ihnen bevor! Welch eine Kombination, ich bitte Sie: erstens Ihr Fleiß, Ihre unheimlichen Kenntnisse – der ganze famose Kerl; zweitens dieser verteufelt gute Name, falls Sie ihn acceptiren; ad drei eine reiche Frau; ad vier eine schöne dito –“

„Mühüller!“ Dieser halb bittende, halb verbittende Ruf ward von einer Unmuthsfalte begleitet, die zwischen Eff’s kräftigen Brauen zuckte.

„Schon gut, schon gut!“ besänftigte der Andere. „Ich weiß, Sie wünschen nicht, daß man an so Etwas tastet. Sie sind bereit zu schwören, daß Sie sich auch nicht des kleinsten Seitenblickes auf den Geldbeutel Ihres Schwiegervaters in spe bewußt sind. Sie sind ein seltener Mensch, und wenn man Sie ausstellen dürfte, könnte man eine brillante Einnahme haben: ein lebendiger Kavalier aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, der es als ein Unglück betrachtet, einen reichen Schwiegervater zu bekommen – aber pscht! Vorsicht! Man darf nicht daran rühren! Man darf Ihnen die Sache nicht verleiden. Sie sind im Stande, kurz abzuschnappen; das wäre doch verdammt schade!“

Eff lachte. Man konnte dem kleinen Schwadronneur nicht böse sein. Das „klein“ natürlich nur in Bezug auf Eff’s eigene herkulische Gestalt.

„Ich finde, Sie turnen zu viel mit der Zunge, darunter leidet Ihre Gesammtausbildung. Ich dächte, wir redeten von was Anderem, wie?“

„Mir auch recht! Reden wir von Rußland! Apropos, da Sie vom Turnen anfangen: ich möchte noch eine kleine Uebung der Schluckmuskeln vorschlägen. Wie ist’s mit Sichem?“

„Thut mir leid; ich stecke bis über die Ohren in Arbeit! Zwei Berichte, die übermorgen fällig sind.“

Da nahte das dumpfe Rasseln eines Pferdebahnwagens. Mühüller empfahl sich mit seinem bekannten und gefürchteten Krafthändedruck, der manchen Weichlingen einen kurzen Ruf des Schmerzes zu entpressen pflegte, und mit jenem Grinsen der breiten Zähne, das immer wieder zu fragen schien: „Bin ich ein Schlauberger, oder bin ich keiner?“


3.0 Der Letzte seines Stammes.

„Ein Kavalier von ältestem Adel, der Letzte seines Stammes, wünscht einen Sohn aus guter Familie, möglichst selbständig und im Besitz eines angemessenen Vermögens, zu adoptiren. Gef. nicht anonym. Off. sub. v. Z. 1250 erb. in d. Exped. dies. Z.“

Das Zeitungsblatt raschelte in den Händen des Oberstlieutenants; er rückte den alten schlechtsitzenden Kneifer mit einer hastigen Bewegung empor.

Als wenn er es gewesen, der die Annonce in die Zeitung gesetzt! So hätte es heißen müssen, wenn er sich dazu hergegeben, seinen Namen öffentlich auszubieten. Und der merkwürdige Zufall der Annoncenchiffre – war sie nicht fast gleichlautend mit der Jahreszahl, in welcher die Wurzel des Stammbaumes dort an der Wand gründete? Ein verstorbener Bruder hatte der Anfertigung dieses Stammbaumes über zehn Jahre seines Lebens gewidmet. Mit einem Eifer, der zuletzt in eine Art Manie ausgeartet, hatte er den leisesten Verzweigungen der Namensspur bis in die Tiefe der Jahrhunderte hinein nachgegraben. Er hatte darüber Besitz und Hausstand vernachlässigt und die Reisen und Forschungen hatten einen guten Theil seines Vermögens aufgezehrt. Es stand sogar in der Familie fest, daß diese aufreibende Manie seinen Tod verursacht hatte. Nun hielt der Stammbaum, mit kostbarem Eichenschnitzwerk umrahmt und mit dem Wappen der Gamlingen gekrönt, in fast aufdringlicher Arroganz die eine Wand der niederen Stube besetzt: die Raumhöhe eines vierten Stockwerks ist eben nicht für den Luxus solcher Art von Bildwerken berechnet.

Es war wie eine stete Mahnung an ihn, den Letzten, die Zweige des Baumes, der sechs Jahrhunderte gegrünt, nicht elendiglich verdorren zu lassen. Mit dem Tode seiner Söhne hatte er oft genug an die Verpflichtung einer Adoption gedacht; doch war es nur bei dem Gedanken geblieben, bis vor ein paar Tagen Frau Belzig in ihrer resoluten Weise den Bann brach und einfach die Frage aufdeckte: „Aber, verehrtester Herr Oberstlieutenant, Sie haben keinen Sohn, Lieutenant Eff hat keinen Vater mehr; er ist ein ausgezeichneter Mensch; Sie können sich keinen besseren Adoptivsohn wünschen. Adoptiren Sie ihn doch!“

Er hatte etwas sagen wollen, aber es nur zu einem lebhaften Zwinkern der kleinen Augen gebracht.

Ja, ja, ja! der ist der Richtige! Eff ist tüchtig, sympathisch, ein seltener Charakter – er wird eine glänzende Karrière machen, d. h. ob er sie mit seinem Namen machen wird? Seinen Schultern darf man die kostbare Last dieses Namens schon anvertrauen! – Wie liebenswürdig von Frau Belzig, daß sie sofort die Sache in Angriff nahm und gleich heute Abend das Terrain rekognoscirte!

Würde Eff zugreifen? – Natürlich kam ihm der Antrag als eine Ueberraschung; in seiner diskreten Weise wich er zur Seite. Man müßte ihm jedenfalls Zeit gewähren!

Die Aeuglein des Alten stöberten unruhig in den Annoncen der Zeitungsseite weiter. Immer wieder, wie von einem Magnet angezogen, fuhren sie auf die Namensofferte zurück. Das nackte Elend lugte unter dem Prunk dieser Anzeige hervor. Man verlangt also Vermögen als solide Stütze für den Namen. Es werden sich die Söhne von Schlächtern und Bierbrauern melden; an Bewerbern wird kein Mangel sein. Ein Gefühl der Scham über diese Preisgabe beschlich ihn. Nun gottlob, bei der Adoption eines Eff ist doch der Verdacht eines schmutzigen Eigennutzes nicht zu befürchten. Eff ist arm; nur seine Tüchtigkeit und seinen Charakter setzt er für den Namen ein. Alle die Ahnen des Stammbaumes mögen ruhig ihre Jahrhunderte weiter schlummern; es ist nun Jemand da, der die Ehre des Geschlechtes weiter bewacht!

„Olga, mein Kind, da lies einmal,“ sagte der Freiherr plötzlich, indem er das Blatt über den Tisch hinüberreichte.

„Gleich, Pa’, daß die Farbe nicht eintrocknet!“ antwortete sie, ohne aufzublicken. Sie saß auf der anderen Seite des Tisches in der vollen Helle des Lampenlichtes, mit herabgebeugtem Köpfchen, dessen üppig aus dem Zwang der Frisur umherwuchernde Wildhaare wie Seide in dem grellgelben Scheine erglänzten. Ein Haufen lithographirter Blätter lag vor ihr, und die feinen Hände führten in flinker Behendigkeit den Pinsel – immer dieselbe maschinenhaft regelmäßige Bewegung: zwei Karminklexe, die aufgetuscht und dann mit dem Wasserende des Pinsels abgetönt wurden; es bedeutete die blutroth gesunden Bäckchen zweier Kinderfiguren.

„Papa, ich habe noch 300 Bäckchen zu malen; ich werde nicht vor elf Uhr fertig. Und ich muß mich noch sehr sputen,“ hatte sie dem Vater bei dessen Rückkunft gemeldet.

„Ich dachte, Du littest an Deinem Kopfschmerz, mein Kind? Du solltest Dich schonen!“

„Ach, dazu ist keine Zeit,“ wich sie aus, stark erröthend. Sie hatte wohl die Schnelligkeit im Erröthen den Karminklexen der Bäckchen abgelernt, die sie ihren Figuren anmalte. Der „Einseitige“ war ja am Nachmittag nur vorgeschützt worden; nun hatte sie die kleine Nothlüge vergessen. „Macht mir außerdem Spaß. Sieh, wie fix es geht, Papa!“ Und sie malte ihm ein halbes Dutzend Rothbäckchen vor.

„Du gutes, liebes Kind!“ Zärtlich hatte seine Hand über das rundliche Köpfchen gestrichen.

Aber in das Wohlgefallen, das er beim Anblicke des Köpfchens empfand, mischte sich ein Schatten von Sorge: was soll werden, wenn er selbst nicht mehr sein wird? Und wäre auch die Sehnsucht nach dieser Adoption nur der Sorge des Vaterherzens entsprungen, dem zarten süßen Geschöpf einen brüderliehen Schutz gegen kommende Unbill zu schenken!

„Nun, was ist, Pa? Gieb her!“ sagte Olga, den Pinsel endlich fortlegend, um nach der Zeitung zu greifen. „Darf ich Dir noch eine Tasse Thee einschenken?“

„Wenn Du die Güte haben willst.“

Eff würde ihr einen vortrefflichen Bruder abgeben … Während er die zierliche Figur neben sich betrachtete, deren Gesichtchen vom weißen Dampf des ausgegossenen Thees umwallt war, mußte er an die imponirende Erscheinung des Generalstäblers denken: welch ein Bild männlicher Kraft! Wohl dem auserwählten Weibe, dem das Los zu Theil wird, von solchen Händen durch das Leben getragen zu werden! Ein fast unmerklicher Seufzer entfuhr ihm – so pflegen Mütter zu seufzen, die ihre Töchter immer wieder aussichtslos vom Balle heimführen. Die [243] Tochter eines Pensionirten – wird sich für sie ein Bewerber finden, dem das Silber ihres Lachens und das Gold ihres Gemüthes den gestanzten und gedruckten Inhalt eines Arnheim ersetzen kann?

„Was meinst Du denn, Papa?“ Olga suchte immer noch auf der Zeitungsseite.

„Ganz oben, fettgedruckt – ‚Ein Kavalier‘ –“

„Ah, da ist’s!“ Olga’s Augen weiteten sich voll wachsender Verwunderung. Und nun, fast mit dem Ausdruck des Schreckens blitzte sie den Vater an. Es war doch nicht der Vater, der die Annonce eingesetzt?! Aber sofort verneinte sie sich solchen Verdacht und las, das Köpfchen schüttelnd, noch einmal. Hätte Papa Solches hinter ihrem Rücken ausführen können? Nein, so heruntergekommen waren die letzten Gamlingen doch noch nicht, daß sie ihren Namen gegen Geld in den Zeitungen ausboten!

„Was soll das, Papa?“ Sie blickte ihn verdutzt über das Zeitungsblatt an.

„Ze … ze … ze …“ Es war nicht so leicht, ihr in kurzen Worten Alles zu erklären. Das kam davon, daß er diesen Winkel seiner Gedanken vor ihr versteckt hatte!

„Setz’ Dich hierher, Kind!“

Sie rückte den Stuhl an seine Seite und ließ sich darauf nieder.

„Sieh, ich hätte mich längst nach einer Adoption umsehen sollen. Ich bin es unserem Namen schuldig.“ Es war der Seufzer, der ihm schon Anderen gegenüber entfahren. „Es ist Zeit, daß ich daran denke, ich werde alt, mein gutes Kind. Sehr traurig, wenn unser Name spurlos verschwände. Freilich nicht nobel von dem sogenannten Kavalier – man stellt seinen alten ehrwürdigen Namen nicht so ins Schaufenster. Aber wenn sich eine Gelegenheit bietet, so muß man doch zugreifen. Nicht Jedem möchte man den Namen anvertrauen. Ze … ze … ze … ich weiss Jemanden, bei dem er gut aufgehoben wäre. Er wird ihn schon in Ehren halten. Er wird Dir ein braver Bruder sein, aber ich möchte nicht, daß Du eine Einwendung gegen die Wahl hättest.“

„Du machst mich sehr neugierig, Pa’.“

„Ze … ze … ze … war neulich davon die Rede und auch heute. Halb Scherz, halb Ernst. Aber bin überzeugt, kostet nur ein Wort zur richtigen Zeit, und die Sache kann perfekt werden. Ich weiß, Du schätzest Lieutenant Eff sehr –“

„Ah!“

Ein kurzes Ah! der Ueberraschung. Eine Röthe übergoß ihr Gesichtchen, ein starkes Karmin, das wohl gemalt dort auf dem Papier als besonders gelungen erschienen wäre. „Doch nicht Herr Lieutenant Eff?“

„Hast Du etwas an ihm auszusetzen? Seine Tüchtigkeit, seine Ehrenhaftigkeit stehen über allem Zweifel – ein wahrhaft vornehmer Charakter – wüßte nicht, wer besser paßte.“

„Lieutenant Eff ist ein reizender Mensch! Er ist der liebenswürdigste Mensch, den ich mir denken kann!“ rief Olga mit einem übertriebenen Enthusiasmus. Wollte sie dadurch ihre seltsame Erregung verbergen?

„Er wird Dir ein vorzüglicher Bruder sein. Ich wüßte nicht … ze … ze … ze … unter wessen Schutz Du besser aufgehoben wärest.“

„Ein herrlicher Mensch!“ fiel sie nochmals ein. „Ich würde mich unendlich freuen, Pa’!“ sie sprang auf, ihre Arme umschlangen des Vaters Hals, und eine kurze Weile fühlte er den lebhaften Athem des Kindes an seiner Wange.

Was ist ihr denn? Ei, die Nachricht kommt ihr nur so neu und überraschend – sie freut sich wirklich!

„Ist er denn damit einverstanden? Weiß er denn davon?“ fragte sie dann in anscheinender Ruhe.

„Er wird es nicht ausschlagen mein Kind.“

Sie erinnerte sich plötzlich, daß sie in der Küche noch Wichtiges für morgen früh zu ordnen hatte – man kann sich auf diese Aufwärterinnen nie verlassen! Und sie schlüpfte hinaus. Gleich darauf hörte der Freiherr von der Küche her das klirrende Poltern von Geschirr und das feinknarrende Umhertrippeln von Olga’s Füßchen. Dann, während er sich selbst wieder in die Lektüre seiner Zeitung vertiefte, ward es draußen still. Wenn er die Küche betreten hätte, wäre er Zeuge von etwas Außergewöhnlichem geworden. Das liebe fröhliche Ding stand mit dem Köpfchen an die kalte Scheibe des Küchenfensters angelehnt und blickte gedankenschwer hinaus nach dem Stückchen Sternenhimmel, das über der schwarz und finster aufragenden Häuserfronte hereinleuchtete. Eine schwere Thräne löste sich langsam von ihrer Wimper und rollte über die Wange herab; sofort schüttelte Olga heftig den Kopf. Thorheit! liebte Er nicht Melitta? War das nicht ausgemacht? Und wenn dies nicht der Fall wäre, würde er denn jemals an ihr unbedeutendes Persönchen denken?

Sie hatte Eff zuerst im vorigen Winter auf dem alljährlich stattfindenden Ball des Pensionirten-Vereins kennen gelernt; sie hatte ihn dann oft genug im Belzig’schen Hause getroffen. Zuletzt siegte doch die Vernunft über den unbegreiflichen Trotz ihres Herzens, und sie hatte einen Vorwand gefunden, einzelnen Einladungen dorthin auszuweichen. Sie wollte der Thorheit Herr werden. Keines Menschen Auge sollte hinfort Zeuge sein, welch seltsame Flamme ein Jahr hindurch in ihrer Brust geglimmt. Eff und Melitta würden ein Paar werden, und man würde auf der Hochzeit recht lustig tanzen und lachen, man würde die Miniaturböller der Knallbonbons losschießen und die Glocken der Gläser erklingen lassen. Und so, unter all der Ausgelassenheit würde diese Backfischliebe zu Grabe getragen werden.

Und nun hatte Papa den „Herrlichen“ zu ihrem Bruder erkoren! Soll sie sich dagegen auflehnen? Eine neue Thorheit, und sie gäbe damit zu, was sie sich wegzuleugnen so eifrig bemüht war. Nein, nein, nein! So sei er als Bruder willkommen!

Bald darauf saß sie wieder an der Arbeit. Ihre Augen strahlten klar wie vordem, und fast schien es ein Muthwille, wie flink der Pinsel in ihren Fingern Bäckchen auf Bäckchen tupfte und abtönte.

„Gute Nacht, mein Liebling! Strenge Dich nicht zu sehr an. Bleib’ nicht zu lang’ auf,“ sagte der besorgte Vater, als er sich zur Ruhe begeben wollte.

„Nur noch hundertfünfzig Bäckchen, Papa. Es macht mir besondere Freude heut. Es giebt nichts Besseres als Arbeit. Die armen reichen Leute, die solche Wohlthat nicht kennen! Meinst Du nicht auch, Papa?“

Und dann, beim eintönigen Schlag des Regulators, während da draußen die vielartigen Geräusche der großen Stadt nach und nach verstummten, saß die kleine Heldin und malte Bäckchen; sie wollten ihr immer hübscher gerathen, und es war schade, daß das fünfte Hundert so bald vollendet war.

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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 16, S. 257–263
[257]
4.0 Suum cuique.

Auf der Treppe zu seiner Wohnung begegnete Eff der feisten, untersetzten Gestalt seines Burschen, der sich eben in einem stark beschädigten Bunzlauer Topf seinen Abendkaffee holen wollte. Der Mann wollte umkehren, als er seinen Herrn kommen sah.

„Allez, Baptiste, allez prendre votre café – je vais attendre,“ redete Eff ihn an.

Baptist war ein Lothringer, ein Stockfranzose, und gerade einen solchen hatte sich der lernbegierige Officier vom Regiment als Burschen erbeten, damit er im Französischen doch etwas in Uebung bliebe.

„Su Beefäl, ’err Leut’!“

„Baptist, Du sollst ja Französisch sprechen. Parler français, rien que français! Avez-vous compris?“

Und Baptist abermals, über das ganze gutmüthige Gesicht grinsend, aber in strammster Haltung, den Bunzlauer Topf wie zu einer Freiübung gegen die Brust gedrückt: „Su Beefäl, ’err Leut’!“ wie es ihm der Unterofficier in der Instruktion beigebracht; es waren über diese paar deutschen Worte sogar Thränen der Verzweiflung geflossen.

Er war unverbesserlich; seitdem er des Abends in einer halbgeöffneten Hausthür der Nachbarschaft bei einer drallen Berliner Köchin Unterricht im Deutschen nahm, war er wie besessen auf diese Sprache. –

„Der reine Wartesaal!“ pflegte Mühüller auszurufen, wenn er Eff’s Zimmer betrat. Letzterer war in der Eisenbahnabtheilung des Generalstabs beschäftigt, dort, wo der überaus schwierige Mechanismus der Truppentransporte für jede Eventualität einer Mobilmachung konstruirt und gangbar erhalten wird: eine anstrengende Handwerksarbeit, die jedoch die zuverlässigsten Arbeiter verlangt. Gelbe, weiße und rothe Eisenbahnfahrpläne waren an die Wände, ja sogar an die beiden Thüren geheftet, den Bilderschmuck halb verdeckend; mit dem markigen Ausdruck der kecken Haudegengesichter überragten einige Menzel’sche Feldherrnköpfe diese dürre papierene Prosa der modernen Kriegsführung. Mühüller konnte sich auch eines Schauders nicht erwehren, der sich in einem herzhaften „Brrr!“ Luft machte, wenn er der Tabellen und zahlenwimmelnden Bogen ansichtig wurde, die den Schreibtisch bedeckten. Aus dieser Wüste von Zahlen schien ihm nur eine Oase hervorzuragen, die Rangliste, die Eff mit peinlicher Genauigkeit nach der jedesmaligen Ausgabe des Militärwochenblattes auf dem Laufenden erhielt. [258] Daneben lag eine russische Grammatik nebst einem Uebungsheft aufgeschlagen. Aber auch Strategie und Gefechtswisssenschaft kamen zu ihrem Recht. Ueber einen Nebentisch lag eine große Karte gebreitet, auf der die einzelnen Truppenpositionen durch niedliche Stecknadelfähnchen bezeichnet waren, die neueste vom Feldmarschall selbst gestellte Uebungsaufgabe, über die sich alle Streber in der Armee augenblicklich die Köpfe zerbrachen.

Einige Briefe hatten sich nebst der Zeitung eingefunden. Der eine, von altmodischer länglicher Form, zeigte die wenig ausgeschriebenen Schriftzüge seiner guten Mutter. Zuerst, ohne den Paletot abzulegen, erschloß er das große feierliche Quartkouvert des anderen. Der vergoldete preußische Adler schimmerte ihm von der starken Kartonkarte entgegen, die „Das königliche Hofmarschallamt“ unterzeichnet war. Sie enthielt eine Einladung für den achtundzwanzigsten Januar zu Kour und Ball im königlichen Schlosse.

Ein Schimmer der Befriedigung glitt über sein Gesicht wie ein Abglanz aus dem lichterstrahlenden Ballsaal dort bei Hofe. Ah, aber er mit seinem Eff – mit seinem Buchstaben? Was soll er dort, wo nur die glänzenden Namen ihre Triumphe feiern? Gleich verflog der Schimmer von seinem Antlitz. Mühüller’s Ausruf: „Ein verteufelt guter Name!“ klang ihm im Ohr. Auf der Schule hatten sie ihn mit seinem Buchstaben geneckt, später, als jungen Lieutenant, stach ihn zuweilen, bei Vorstellungen, eine thörichte Scham. Nun, darüber ist er längst hinaus – zum Glück ist das „suum cuique!“ keine hohle Devise in Preußen. Er weiß, er wird auch mit seinem Einsilber und trotz desselben nicht in der Masse stecken bleiben, er hat Vertrauen zu seiner Tüchtigkeit. „Vorwärts!“ lautet seine Parole – aber nicht vorwärts mit Katzenbuckeln!

Doch wie kam er zu solchen Betrachtungen? Hatte Mühüller Recht und lugte durch den „Scherz“ von Frau Belzig wirklich eine tiefere Absicht?“ War es möglich, daß dessen Andeutung, Perkisch und den Grafen betreffend, eine Spur von Wahrheit enthielt? Ihnen Allen, den Kameraden, die dort verkehrten, war der Parvenühauch, der das Haus Belzig durchwehte, nicht ganz geheuer – aber vor dem Zauberglanz der beiden Sterne verblaßte jede Kritik.

„Ich liebe das herrliche Wesen – ich muß sie erringen! Sie muß mein sein! – Der Name, was hat der Name mit dieser Liebe zu thun? Und wenn diese Liebe das Opfer meines Namens forderte, wie Mühüller anzudeuten scheint? – Nein, nicht das! Nicht um diesen Preis! Auch Melitta nicht!“

Mit einer Bewegung, als begänne die Karte ihm in der Hand zu glühen, ließ er sie auf den Tisch fallen. Dann entledigte er sich mit nachdenklicher Langsamkeit seines Paletots und Degens, zündete eine Cigarre an und schmiegte sich in einen Polsterstuhl, um den Brief der guten Mama mit Behaglichkeit zu genießen.

Der aromatische Geruch des Lavendels, der die gewaltig massiven Schränke der verwittweten Steuerräthin Eff zu erfüllen pflegte, wehte ihm daraus entgegen. Und dieser Geruch zauberte die Erinnerung an die elterliche Wohnung zu Erfurt vor seine Augen. Die niederen, nicht streng quadratischen, durch Treppchen und Rampen verbundenen Zimmer, die kleinen klirrenden Fenster mit den steifen Zugjalousien; nach der Stille des Hofes, den das grüne Dunkel einer mächtigen Linde beschattete, das Arbeitszimmer seines Vaters, wo vor dem geräumigen tannenen Schreibtisch noch der glänzend glattgesessene Lehnsessel stand: alles altfränkisch, echt Erfurtisch, aber lieb und von naiver Traulichkeit.

Er sah sein Mütterlein, die kleine Dame mit dem ängstlichen Gesichtchen, stets in abgetragene Seide gekleidet, mit Staubtuch und Federwedel lautlos huschend durch die Räume walten. Er sah sie an den Nachmittagen am Fenster sitzen, dem grauen Spiegelglase des „Spions“ gegenüber. An dem anderen Fenster, der Mutter gegenüber, pflegte sein Schwesterchen Adelheid zu sitzen, der Riesenteppich, an dem sie schon seit Jahren mit Unterbrechungen stickte, war immer noch nicht fertig, seine Farben drohten zu verblassen, und die Blüthe des zarten Antlitzes reifte immer mehr einer resignirten Duldermiene entgegen.

Eff hatte die Weihnachtsfeiertage zu Hause verbracht. Der Brief zehrte noch von der Erinnerung an diesen Besuch. Walther hatte zu Hause von seinen Arbeiten, seiner Stellung, vom Generalstab, von Moltke, von seiner Zukunft ausführlich erzählen müssen, und nun brach der Mutterstolz immer wieder durch die Zeilen.

„Gott segne Dich, mein Sohn!“ schrieb die brave Dame. „Tante meint und wir freuen uns Alle so, daß Du dem guten Namen unserer Familie solche Ehre machst.“

„Tante meint …“ dies kennzeichnete die Autorität, welche die Schwester des verstorbenen Steuerrathes in der Familie genoß. Immer wieder: „Tante meint – Tante hat gesagt – Tante will es so“ – nichts Wichtiges, das beschlossen wurde, ohne daß man den Rath der kleinen rundlichen, quecksilbernen Wittwe in Anspruch nahm, die auch ohne ihr bedeutendes Vermögen sich ihre Hauptrolle in der Familie bewahrt hätte, denn unter ihrer polternden Tyrannei verbarg sich ein Goldherz, das nicht müde wurde zu geben und, wo es nöthig war, zu vergeben.

Die eben ausgesprochene Zuversicht erhielt dadurch noch mehr Nachdruck, daß unmittelbar ein Stoßseufzer folgte, der Adolf, dem älteren der beiden Brüder, galt. Adolf hatte die technische Hochschule besucht und war dann abseits der großen Heerstraße einer regelrechten Anstellung auf den Irrpfad der Erfindungen gerathen. Er betrieb eine „Idee“ nach der andern, von der eine jede Ruhm und Reichthum bringen sollte, stand mit allen Patentämtern der Welt in Verbindung und wurde von den gelegentlichen Kompagnons seiner Pläne weidlich ausgebeutet. Zudem hatte er voreilig geheirathet und saß nun, nachdem die unseligen Erfindungen das kleine Vermögen seiner Frau aufgezehrt hatten, im Elend.

„Adolf ist im Begriff, wie er uns mittheilt, in Berlin eine Fabrik für seine neueste Erfindung einzurichten,“ schrieb die Steuerräthin; „er hat uns den Plan in seinem Briefe ausführlich aus einander gesetzt, ich habe es wie gewöhnlich nicht verstanden. Du guter Gott, was soll dies wieder bedeuten?“

Und gleich darauf, als müßte die Schreiberin sich wieder an etwas Erfreuliches klammern: „Mein lieber Walther, Tante behauptet fest, daß Du Aussicht hättest, eine gute Partie zu machen. Hast Du ihr eine Andeutung gemacht? (Die gute Frau stand so gern hinter der allmächtigen Tante zurück) Wie sehr wir uns Alle freuen würden, kannst Du Dir denken. Ich bin überzeugt, daß Du Deine Wahl nicht zu bereuen haben wirst.“

Er fuhr empor – wer hatte das gesagt? Wie kam Tante dazu, das zarte Geheimniß seines Herzens in solch greifbarer Gestalt ans Licht zu zerren?

Ah, nun erinnerte er sich. Die „Autorität“ hatte ihn mit ihren nadelspitzen Fragen, die überall umherstachen, auch nach seinen gesellschaftlichen Beziehungen gefragt. Und er hatte ihr Haus für Haus, wo er verkehrte, schildern müssen. Da mochte er wohl die Familie Belzig am Lützow-Ufer mit etwas wärmeren Farben herausgestrichen haben: das liebenswürdige gastliche Haus, die exquisiten Diners, die interessante Gesellschaft, die man zuweilen dort träfe – und ganz zuletzt, ganz nebenher die beiden bildschönen Töchter.

„I sieh einmal!“ Und die grauen Augen der Tante glitzerten noch lebhafter als sonst. „Du bist verliebt in eine von ihnen!“ Lachend wehrte er ab. „Ich sage Dir, Du bist verliebt in eine von ihnen! Du wirst Dich mit einer von ihnen verloben!“

In einem köstlichen tyrannischen Befehlton kam es heraus. Er zwirbelte mit etwas listigem Schmunzeln das Musterstück seines prächtigen Schnurrbartes. Das mochte sie als eine Bestätigung aufgefaßt haben. –

Nachdem er den Schluß des Briefes nur flüchtig durchflogen, sprang er auf. Ja, wie gern gab er der Tante Recht: „Ich liebe Dich! Ich liebe Dich, Melitta, Du Herrliche, Einzige!“ hätte er fast laut ausgerufen. Und in einem Sturm der Begeisterung, der ihn in dem Gedanken an sie erfaßte, rannte er die Stube auf und ab.

„'err Leut', il y a un monsieur qui désire parler 'err Leut'!“ meldete Baptist.

Eff hatte nicht einmal gemerkt, wie der Bursche eingetreten war. In einem leichten Unmuth über die Störung fuhr er ihn an.

Baptist blieb unbeweglich, nicht die Spur einer Regung in dem frischrothen, von Gesundheit strotzenden Musketiergesicht.

Da pochte es auch schon an die Thür, zwei heftige Schläge; daran hätte Eff schon seinen Bruder erkannt. Ohne das „Herein“ abzuwarten, trat Adolf in die Stube, eine große Papierrolle unter dem Arm; selten sah man ihn ohne diese Rolle.

Adolf war eine kleinere, weniger hübsche und elegante Ausgabe des jüngeren Bruders. Auch kontrastirte sein nervöses hin- und herfahrendes Wesen gegen die vornehme und sichere Ruhe des Officiers. Er sah älter aus als die etlichen dreißig Jahre, die er zählen mochte; Haar und Bart waren leicht ergraut, und die Züge schienen mit ihren zahlreichen Falten gleichsam Buch zu führen über die „Ideen“, die in seinem Hirn umherwühlten.

[259] „Guten Tag, alter Junge!“ rief er, Walther's Hand ergreifend. „Ich bemerkte Licht bei Dir und wollte nur sehen, wie es Dir geht – nur auf eine Minute.“ Er warf die Rolle dabei auf den Tisch.

„Darf ich Dir eine Cigarre anbieten, Adolf? Ist Dir ein Glas Bier gefällig?“

„Ich danke Dir – wenn Dein Parlez-vous mir ein Glas Bier holen wollte, so wäre es mir sehr willkommen.“

Nach einer kurzen Pause fügte er mit einem eigenartig listigen Ausdruck der kleinen unruhig funkelnden Augen und mit einem übertrieben vergnügten Händereiben hinzu:

„Glaubst Du, daß ich seit acht Tagen keinen Schluck Bier über die Lippen gebracht?“

„Du bist doch nicht krank, Adolf?“

„Frisch und gesund und beim besten Humor. Aber ich kann mir den unerhörten Luxus eines Glases Bier nicht gestatten. Ebbe, völligste Ebbe!“

„Wieder einmal? Nicht möglich! Du scherzest wohl, Adolf!“ rief Walther, mit fast erschreckten Augen den Bruder anstarrend.

Das so vergnügt hingeworfene Geständniß beleuchtete die ganze trostlose Lage. Adolf bewohnte seit Monaten mit Weib und Kind das nach einem engen, feucht-dumpfen Hof gehende Hinterzimmer eines kleinen Chambre garnie der Jägerstraße. Der Wirth hatte auf die „Idee“ hin lange genug Kredit gegeben; nun verweigerte er die Verabfolgung von Speisen und Getränken, die Familie immerhin als Faustpfand in dem dunklen Verließ seines allerschlechtesten Zimmers zurückbehaltend.

„Baptist, ein Glas Bier – un boc, Baptiste!“ rief Walther in das Dunkel des Flurs hinein. Und zurückkommend, die Thür noch in der Hand: „Soll er Dir auch etwas zu essen mitbringen?“

„Wenn ich bitten darf, ein Butterbrot, irgend etwas, eine Kleinigkeit,“ antwortete Adolf die Papierrolle betrachtend, die er halbgeöffnet hielt.

„Aber, Mensch, das ist ja geradezu entsetzlich!“ zeterte Walther, aus dem Flur zurückkehrend, wo er Baptist den Auftrag gegeben hatte, irgend eine warme Portion herbeizuschaffen. „Ich bitte mir aus, daß Du es nicht so weit kommen läßt und Dich rechtzeitig bei mir einstellst!“ Er war ganz empört.

Adolf zuckte die Achseln, immer noch die Rolle vor dem Gesicht. „Du hast selbst nichts, und ich habe Dich schon oft genug belästigt,“ warf er dumpf hin. „Alles muß einmal ein Ende haben. Der Kredit und die Bettelei – aber auch dies Elend, ich versichere Dich!“ Seine Augen leuchteten auf, es klang fast wie eine Herausforderung.

„Ich will nicht, daß Du mit den Deinigen hungern sollst, Adolf!“

„Nun, so schlimm ist’s nicht, mein guter Junge. Meine Frau und der Bub’ sind Stammgäste in einem Milchkeller der Friedrichstraße. Na, und ich nähre mich von der Hoffnung. Hast Du einen Bleistift? Einen Moment, ich sehe, ich habe mich da verthan.“ Er trat mit der Rolle an den Schreibtisch und begann, mit einigen markigen Strichen an einer Stelle der Zeichnung zu verbessern. „Solltest übrigens den Bub’ sehen, wie er dabei gedeiht! Prächtig, sag ich Dir!“

„Deine Frau ist ein Engel!“ rief Walther mit anzüglicher Betonung.

„Ich habe Alles versucht, um mir vor der Hand ein Unterkommen zu schaffen. Vergebens! Ich bin kein Handlanger. Ich werfe mich nicht weg. Ich weiß, was ich kann und leiste. Ihr werdet sehen, daß ich durchdringe. Ich habe neue Aussicht für meinen Aspirator: Jemand, der den Vertrieb für Australien übernehmen will. Es handelt sich um die Herstellung des verbesserten Modells. Ich habe, seitdem ich Dir ihn das letzte Mal erklärt, bedeutende Verbesserungen hinzugefügt. Wenn Du einmal sehen wolltest …“

„Ach, laß mich mit Deinen Hirngespinsten in Ruhe!“

„Ich bitte Dich, nur einen Blick hierher zu werfen. Willst Du mir den Gefallen nicht thun? Ich will auch Alles über mich ergehen lassen.“

Widerwillig trat Walther an den Tisch heran.

„Siehst Du, Walther, während ich früher die kalte Luft in der Richtung dieses punktirten Pfeiles ausströmen ließ …“

Und die Schleuse war geöffnet. Adolf redete sich in immer heißere Begeisterung hinein, um die Vorzüge seiner verbesserten Idee in ein glänzendes Licht zu setzen. „Es ist Alles so einfach, so handgreiflich, ein Kind muß es begreifen!“

„Weißt Du was, Adolf, beruhige Dich, laß es gut sein für heute,“ unterbrach ihn der gutmüthige Walther lachend. „Wenn ich nur endlich das erste kalte Lüftchen durch Deinen Aspirator strömen hörte!“

„Kommt schon, wird schon kommen!“ rief Adolf fast triumphirend aus der Zeichnung heraus.

„Da ist übrigeus Dein Essen. Mach Dir’s bequem und iß Dich vorerst satt. Das ist das Wichtigste. Und dann wirst Du mir nicht übel nehmen, wenn ich mich an meine Arbeit setze. Ich habe sehr viel zu thun.“

„Wie das Beefsteak duftet!“ sagte Adolf begeistert.

Es war gut, daß Walther sich am Tische mit seinen Papieren zu schaffen machte und nicht Zeuge des Heißhungers war, mit dem sein Bruder über die Speise herfiel. Aber gleich nach dem ersten Bissen forderte auch die „Idee“ schon wieder ihr Recht.

„Ich habe übrigens Aussicht, die Fabrikation des Aspirators selbst in die Hand zu bekommen. Ich hab’ heut Abend noch ein Rendez-vous (er hatte stets ein Rendez-vous in Aussicht), das die Fabrikangelegenheit betrifft. Eine Eismaschinenfabrik in der neuen Lindenstraße ist bankerott geworden, vielleicht gelingt es uns, den Plunder billig zu kriegen.“

„Vielleicht – vielleicht – und das ist die ganze Aussicht?“ unterbrach ihn Walther ärgerlich, ohne sich umzuwenden. „Nach dem, was Du Mama schreibst, sieht man den Schornstein Deiner famosen Fabrik schon dampfen. Ich denke, Du hast nicht einmal genug, um Dir den Luxus von einem Glas Bier zu verschaffen?!“

„Kommt schon, wird schon kommen!“ Kein Einwurf vermochte die Zuversicht des Erfinders zu erschüttern.

„Das Geld wird schon zur rechten Zeit da sein! Ist augenblicklich nur gerade ein unglücklicher Moment. Ich habe vor acht Tagen die Patentgebühr für Rußland erlegen müssen und das will viel sagen, sie halten dort Alle die Hand auf. Uebermorgen ist das für Italien fällig. Natürlich drängen sie im Hôtel, aber die Patente gehen vor, es ist mein größter Schade, wenn sie verfallen. Ich muß einen neuen Wechsel aufnehmen, und der alte muß prolongirt werden. Mein Aspirator ist das Vorzüglichste, was je in dieser Art erfunden wurde. Er wird, er muß in allen Spitälern, in allen Schulen, Fabriken und dergleichen eingeführt werden. Ich bekomme äberall Geld darauf, soviel ich will. Es wird schon Alles werden! Prosit, alter Junge!“

„Aber es ist wirklich und wahrhaftig nicht zum Anhören!“ brauste Walther auf. „Mensch, Du hast doch Weib und Kind. Du mußt doch auch an uns Alle denken und hast Rücksicht auf unsere Familie zu nehmen.“

Mit erregten Schritten maß er die Stube.

Adolf kaute in aller Ruhe an einem schwierigen Stück seines Beefsteaks, die beiden Brüder schienen ihr Temperament vertauscht zu haben. Endlich, den Bissen hinunterschluckend, die Hand abermals am Bierglas, sagte er mit dem gemessensten Ton: „Ich weiß ganz genau, was ich mir und meiner Familie und Euch Allen schuldig bin. Ich bin zwar kein angehender Moltke, aber ich werde dem Namen Eff dennoch keine Schande machen. Im Gegentheil, ich hoffe, daß ich ihn zu Ehren bringen, ihn bekannt, ja berühmt machen werde! Mein Aspirator allein, wenn er erst allgemein eingeführt sein wird …“ Da hielt er vor einer ungeduldigen Geste des Bruders inne. Und nach einer Pause: „Uebrigens, darf man wohl ein Wort mit Dir reden?“

„Bitte!“ klang es scharf und kurz.

„Du willst Dich verloben, Walther? Mama schreibt, Du wolltest Dich verloben. Ich habe es auch sonst gehört.“

„Von wem?“

„Von einem Herrn Perkisch. Ein Allerweltskerl. Man hat mich an ihn empfohlen. Er will meinen Aspirator in der Presse herausstreichen. Freilich, der horrible Preis, den er verlangt …“

„Und nun? Was ist?“ Walther schien die Mittheilung überhört zu haben. „Gewiß, ich liebe die Dame, und es ist möglich, daß ich das Glück habe, sie heimzuführen. Was soll's?“

„Ein Goldfisch, Walther, eine von den reichen Belzig’s. Ich gratulire Dir!“

„Ich dagegen muß mir jede Gratulation in dieser Beziehung ernstlich verbitten! Das Geld der Eltern übt keinen Einfluß auf meine Absichten.“

„Und warum hältst Du denn nicht gleich um das Mädchen an?“

[260] „Das hätte ich wohl schon gekonnt, aber ich wollte warten, bis ich zum Hauptmann avancirt und definitiv in den Generalstab versetzt bin.“

„Sie geben viel auf dergleichen, Deine zukünftigen Schwiegereltern. Es heißt, sie, die Frau Belzig, reservire ihre beiden Töchter für die Söhne Bismarck’s.“

„Laß die Scherze, Adolf! Sprechen wir von was Anderem!“

„Noch eine Frage. Ich muß wissen, wie ich daran bin. Wann wird Deine Versetzung in den Generalstab perfekt sein?“

„Warum? Sie kann jeden Tag heraus sein. Vielleicht kann es auch noch Monate dauern.“

„Und wenn das Andere, das, wovon Du nicht gerne sprichst – Du bist eben ein gelungener Kerl – auch heraus ist, darf ich dann auf Dich rechnen?“

„Wieso?“

„Nun, der betreffende Vater Deiner Erkorenen wäre doch im Stande, einem armen Kerl von Streber herauszuhelfen. Ich kann zwar anderweitig Geld bekommen, so viel ich will, mein Aspirator schlägt jede Konkurrenz; aber es wäre doch das Einfachste, es wäre das Natürlichste.“

„Ah, also das ist’s! Daher Dein Interesse an meiner Verlobung!“ lachte Walther.

„Nun, ich freue mich wirklich von Herzen auf meine schöne und liebenswürdige Schwägerin. Aber was wird sie mit einem Schwager anfangen, der sich von Milch und Hoffnung ernährt?“

„Sehr gut! Also darauf reducirt sich die ganze Aussicht, Deine Fabrik zu gründen! Wenn ich nun einen Abfall erlebe?“

„Nicht möglich!“ rief Adolf.

„Ich danke für Deine Zuversicht,“ lächelte Walther. Seine Liebe zu Melitta und Melitta's Liebe zu ihm war so felsenstark, daß sie alle Hindernisse, wenn es solche gäbe, siegreich überwinden mußte! Und in dem freudigen Bewußtsein dieser Stärke klopfte er auf Adolfs Schulter. „Nun, sei nur ruhig. Vielleicht bringen wir dann Deinen Aspirator auch noch durch.“

„Du bist ein guter Bursch, Walther, und Du befreist mich von einer großen Sorge. Diese Wechsel sind entsetzlich. Würdest Du mir bis dahin Bürgschaft leisten?“

„Gewiß, recht gern,“ antwortete Walther zögernd, „aber ohne die Klausel ‚bis dahin‘. Es wird sich Alles finden. A propos, Du bist in augenblicklicher Verlegenheit?“

„Ich muß Papier zum Zeichnen und Petroleum für die Lampe haben. Wir brauchen viel von letzterem; selbst am Mittag kann man in unserem Verließ Nichts sehen ohne Licht. Und der Hallunke von Wirth will auch das Petroleum nicht einmal mehr liefern.“

„Schon gut, schon gut.“

Ein paar Minuten darauf empfahl sich Adolf, mit Geld für Papier und Petroleum, und auch wohl mit bedeutend mehr versehen.

„Du bist ein guter Junge, Du bist ein famoser Junge, Walther!“ Und er schlug jenem zum Abschied liebkosend auf die Schulter. „Na warte, wenn erst mein Aspirator …“

Die zuschnappende Thür schnitt das Wort ab.

Walther schüttelte mit einem bedauerlichen Lächeln den Kopf. Bald darauf saß er tief in seinen Zahlen. Bis in die zweite Morgenstunde hinein instradirte er Bataillone, Schwadronen und Batterien, ließ er Züge nach der Grenze abgehen und zurückkommen und die leeren wieder von Neuem beladen, richtete er Frühstücksstationen ein und sorgte für Trinkgelegenheiten. Hier und da huschte der Gedanke an Melitta heran und gaukelte über dem unabsehbaren Gewirr der Zahlen wie ein Schmetterling über einem sonnigen Blumenfeld. Aber nur wenige Minuten lang duldete er das süße Gegaukel. Hing doch von dem kleinen Versehen einer ungenauen Abfahrtszeit die Brauchbarkeit des ganzen Planes ab, vielleicht konnte dies Versehen die Rechtzeitigkeit des strategischen Aufmarsches in Frage stellen – vielleicht konnte damit die erste Offensive verzögert werden. Nicht am wenigsten verdankt Preußen einen Theil seiner Erfolge der erstaunlichen Korrektheit seiner Mobilmachungsfahrpläne.




5.0 Die rothe Stube.

Nichts Einladenderes, nichts Freundlicheres als der gedeckte Tisch des Hauses Belzig. Er schien gleichsam das Glück des Hauses darzustellen; so strahlte, so schimmerte, so glitzerte er. Im Kamin knisterte ein Feuer, und der Schein der Flammen huschte in lustigen Reflexen über das Geschirr und das Silber der Gedecke, ließ die schweren vergoldeten Rahmen der gemalten Stillleben mit ihren unmöglichen Riesenfrüchten aus dem traulichen Dämmer, das den Raum auch jetzt zur Stunde des Frühstücks einhüllte, hervorglänzen und rief in den stets etwas bebenden Krystallen des Kronleuchters ein lebhaftes Gaukelspiel von Lichtern hervor. Nur die kostbaren Rosen auf der Mitte des Tisches verschmähten solchen Flammengruß, und es war, als ginge besonders von dem stolzen hochgelben Marschall Niel eine besondere Gluth aus. Von der anderen Seite, durch das Pflanzenwerk, das sich an der Spiegelscheibe des einzigen Fensters mit den graziösen Kontouren japanischer Arabesken scharf abzeichnete, brach die Januarsonne in einzelnen Lichtstreifen herein. Es war eine so vornehme, so diskrete, durch den Frühdunst, der heute nicht weichen wollte, zum zartesten Rosa gedämpfte Sonne.

Doch die Tischgäste wollten sich noch immer nicht einstellen. Der überaus stattliche Friedrich, ein ehemaliger Gardist, der wegen des Effektes seines Eisernen Kreuzes und der Kriegsdenkmünzen die seine Livree schmückten, besonders gut bezahlt wurde und auch jüngst erst von Frau Belzig in seinem Lohn gesteigert worden war, erschien immer wieder hinter der Portière und umkreiste mit der ganzen majestätischen Gemessenheit seines lautlosen Schrittes den Tisch. Er hatte vier Gedecke aufgelegt, davon dienten zwei nur als Dekoration, denn die beiden jungen Damen waren nach der flüchtigen Näscherei eines Imbisses früh schon nach der Eisbahn geeilt, um den herrlichen Frosttag auszunutzen. Jetzt hielt Friedrich vor dem Kamin, und die Flammengluth vergoldete das wundervolle Kunstwerk seiner weißen Kravatte und die rasirte bronzenartige Glätte seines Diplomatengesichtes. Friedrich lauschte nie, sonst hätte er dem Geknatter des Feuers zum Trotz die sonore Stimme von Frau Belzig hören können, die, wenngleich durch eine Thür gedämpft, aus einem der hinteren Zimmer herüberschallte, aber er lauschte nie, er war zu vornehm dazu. Jene Stimme sprach in hoher Erregung, durch kurze Pausen unterbrochen – vermuthlich kam „der Alte“, um die Nomenklatur der Dienstboten anzuwenden, während dieser Pausen zu Wort; aber von seinem trockenen, klanglosen, vorsichtigen Organ drang kein Laut durch die Thür.

Es war nicht Alles wie sonst! Es war etwas im Anzuge, das die Physiognomie des Hauses gewaltig verändern mußte. Ungefähr vor anderthalb Stunden, als die beiden jungen Damen eben das Haus verlassen, war Graf Nachewski erschienen, weniger nonchalant, weniger müde als sonst, fast feierlich. Natürlich hatte Friedrich dies besonders zu bemerken nicht der Mühe werth gefunden, er hätte ja, wenn er gewollt, einen Vergleich zwischen dem auffallend schäbigen Pelz des Grafen und dem herrlichen Bären anstellen können, der die begehrte Kostbarkeit seiner eigenen Gestalt so imposant auf dem Kutschbock zu drapiren pflegte. Die Unterredung mit der Herrschaft hatte eine Viertelstunde gedauert, und nun sah es fast aus, als empfände der Besitzer des Pelzes eine gewisse Verachtung für das heruntergekommene Ding und als sagte ein verhaltener Triumph in seiner Miene, daß es nun überhaupt vorbei sei mit aller Schäbigkeit und daß man nun getrost diesen Pelz den Motten überantworten könne.

Kurz nachher war Lieutenant Eff erschienen – o Pardon, Hauptmann Eff! Friedrich war natürlich durch die neue funkelnde Generalstabsuniform des Ankömmlings nicht überrascht worden, und er hatte sofort die Doppelsterne auf den Epauletten bemerkt. Man hätte sich erlauben können, zu diesem Avancement zu gratuliren; denn das leutselige und zugleich vornehme Wesen dieses Officiers war dem früheren Soldaten besonders sympathisch. Aber er begnügte sich nur, das „Herr Hauptmann!“ mit Nachdruck zu betonen.

„Wollen Sie mich Herrn Belzig melden!“ Auch hier ein so feierlicher Ton der eine innere Aufregung zu bemänteln hatte.

Gewiß, es lag etwas in der Luft; es mußte Derartiges eintreffen! Der Graf mußte um Fräulein Lolo, und Hauptmann Eff mußte um Fräulein Melitta anhalten. Aber Beide auf einmal? Etwas viel auf einen Tag! Sie haben sich doch nicht etwa verabredet? Was für Chancen diese Leute haben! Ein Graf und Einer vom Generalstab! Doch keine Glossen, Friedrich!

Plötzlich ward der Diener durch das hastige Oeffnen einer Thür aus der Betrachtung des Kaminfeuers gerissen. Laut, im gereizten, fast kreischenden Ton platzte die Stimme von Frau Belzig herein: „Für den Grafen ja! für Eff nein!“

[262] Ein gewaltiges Rauschen und Rascheln von Kleidern folgte diesem Kriegsruf. Ja, er klang wie ein solcher.

Friedrich war sofort wie hinweggehext. Als er gleich darauf mit den Bouillontassen erschien, zeigte sein linkes Auge eine leichte Verkleinerung. Diese Verkleinerung pflegte sich bei ihm einzustellen, wenn stürmische Krisen die herrschaftliche Atmosphäre aus dem Gleichgewicht brachten.

Während des Entrées herrschte völliges Schweigen. Das Gewitter zuckte in stummen wetterleuchtenden Blitzen auf. Frau Belzig hatte offenbar ihr „letztes Wort“ gesprochen, doch pflegte diesem letzten noch eine tagelange Fluth allerletzter Worte zu folgen. Und der „Herr des Hauses“ war jedenfalls mehr denn je von der Angst besessen, daß ihm die Aufregung gerade jetzt, in der Höhe seiner Brunnenkur, einen verhängnißvollen Schaden zufügen könnte.

Endlich unterdrückte er diese Angst und, die Gabel voll junger Erbschen, die kurgemäß besonders für ihn zubereitet waren, in der halberhobenen Linken, den Blick auf den winzigen Wiederschein des Fensters an der Weinkaraffe gerichtet, sagte er:

„Was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig, und ich. dächte, wenn man die Beiden abwöge …“

„Weiß ich, weiß ich ganz genau, brauchst Du mir erst nicht gar aus einander zu setzen,“ fuhr Frau Belzig in seine Worte. Sie athmete auf – Gottlob, daß dies stumme Wetterleuchten ein Ende hatte!

„Ich weiß so gut wie Du, Otto (sie nannte ihn nur selten bei seinem Vornamen), daß ‚er‘ mit Schulden gespickt ist und daß wir tüchtig werden bluten müssen.“

Sie meinte natürlich den Grafen; sie war so voll von diesem „er“, daß alles Andere hinter der kleinen Silbe verschwand.

„Das gehört übrigens der Vergangenheit, und es geht uns eigentlich Nichts an. Das Bischen Schulden wird uns nicht umbringen. Wir werden ihm nichts nachtragen. Junge Leute sind leicht, und solche Namen sind allerlei Gefahren ausgesetzt! Wir sind eben in der Lage, uns solch’ einen kostbaren Schwiegersohn anzuschaffen. Wir können es und werden es. Er hat übrigens bewiesen, daß er im Stande ist, Vergangenes wieder gut zu machen, sonst hätte er nicht seit drei Jahren wie ein Einsiedler auf seinem Vorwerk gesessen und Gänse gemästet. Er ist ein Charakter so gut wie ein Anderer.“

„Es blieb ihm einfach nichts übrig, wenn er es nicht vorzog, bei anderen Leuten Holz zu hauen,“ unterbrach sie Belzig trocken, aber immer, ohne seine Frau anzusehen.

„Es ist nicht zu glauben, wie Du redest,“ brauste diese auf. „Du hast keinen Respekt, Du hast keinen Verstand, Du hast keinen Ehrgeiz! Das kommt von Deinen Demokratenblättern, die Du liesest. Aber gerade diese Schreier sind die ersten, die, wenn es darauf ankommt, sich vor einem Namen oder Titel bücken. Der Name ist das Einzige, was bleibt. Dein Geld kann Dir jeden Augenblick mit einem Krach auffliegen. Aber ein Name ist sicher vor Dieben und Motten.“

Für sich schaltete sie ein: „Die Schulze und Lehmann mögen Biederleute sein, und ich verkehre ganz gern mit ihnen, aber für meine Töchter – Hand davon! sag’ ich.“ Und wieder laut: „Ich bleib’ dabei, für den Grafen ja! für den Eff nein!“

„Du hast übrigens ganz vergessen, zum Generalstab zu gratuliren, Bella,“ sagte der Unzerreißbare mit einer Ruhe und Langsamkeit, die bestimmt schienen, jene zu reizen. Gleich hinterher aber, auffahrend gegen den Diener gewandt:

„Friedrich, sagen Sie doch in der Küche, ob es denn wirklich nicht möglich ist, die Koteletts magerer zu bereiten. Wie oft soll man es denn befehlen!“

„Paperla –“

Frau Belzig mißhandelte eben mit dem Messer eines von den gesundheitsmörderischen Koteletts.

Generalstab hin, Generalstab her! Wer hat in solchen Momenten Lust, an Lappalien zu denken! Gewiß. ich habe Nichts gegen diesen – Eff.“ Der Name schien ihr jedesmal Schwierigkeiten in der Kehle zu machen. „Er ist mir lieb als Gesellschafter, ich achte ihn hoch als Charakter. Ich weiß, Melitta könnte nicht besser aufgehoben sein. Aber – Eff! Ich bitte Dich – Eff! Und nun erst Frau Eff! Ich sage es gerade heraus, ich habe eine unüberwindliche Antipathie gegen den Namen. Aber selbst als General Eff, als Excellenz Eff – man wird ihn natürlich als Excellenz nicht so blank herumlaufen lassen – aber selbst eine Excellenz von Eff – ich kann nicht anders: der Name ist mir einfach entsetzlich, er ist mir ein Gräuel; er macht mich nervös, und wenn Du nicht willst, daß ich krank werde, so laß mich damit in Ruhe!“

Sie prustete vor Erregung, und das Messer in ihrer fleischigen, mit tiefen Grübchen gezeichneten Hand klirrte laut auf dem Messerbänkchen.

Herr Belzig war wider Erwarten zähe: „Ich dächte doch,“ sagte er, die einzelnen Theile seiner Sätze durch eine gesteigerte Thätigkeit im Kauen und Schlucken unterbrechend, als wollte er sich dadurch Muth machen – „ich dächte doch, wir wären schließlich so situirt – daß wir unsere Töchter – nach ihrem Herzen wählen lassen könnten. Und wenn Melitta das – Unglück gehabt, sich in den Besitzer – solch häßlichen Namens zu – verlieben –“

Friedrich nahte eben mit dem nächsten Gang, und Belzig hielt vorsichtig inne. Seine Frau aber vermochte nicht abzuwarten, bis der Gang servirt war. Vor einem ihrer Blitzesblicke verwehte Friedrich.

„Glück – Unglück! Glück und Unglück sind Begriffe!“ rief Frau Belzig. „Wir wissen, was für eine Art Glück für unsere Kinder paßt. Man will weder Lo noch Litta einen Mann aufzwingen, den sie nicht leiden können. Auch soll dieser – Eff! nicht ein- für allemal abgewiesen werden. Man wird ihn schon acceptiren – nur nicht so wie er ist. Ich bitte Dich – Eff! Es geht wirklich nicht, es ist unmöglich! Mag er doch sehen, wie er den Namen embellirt.“

Belzig blickte mit einem Ruck auf.

„Nun so, warum soll man nicht davon reden? Mag er sich doch umtaufen lassen! Was ist an einem Namen gelegen?“

Die Spur eines feinen Lächelns, die das graue Guttapercha von Belzig’s Hypochondergesicht belebte, deutete doch nicht etwa auf den Widerspruch hin: vorhin war der Name Alles und jetzt ist er Nichts?

Sofort schlug sie den Versuch eines solchen Hinweises mit dem entrüsteten Ausruf nieder:

„Eff ist überhaupt kein Name! Ich vergebe meine Tochter nicht an einen Buchstaben!“

Er nickte mit einem ironischen Schmunzeln in den Teller hinein.

„Du scheinst nicht zu verstehen, Belzig! Man muß Dir mit dem Scheunenthor winken. Als wenn nicht die schönste Gelegenheit vorhanden wäre! Da ist doch unser Oberstlieutnant. Er wird sich glücklich schätzen, seinen Namen abzugeben und jeder Andere als dieser Hartkopf von einem Eff, der so thut, als verstände er nicht, würde glücklich sein, einen solch hübschen Namen einzustreichen.“

„Du willst doch nicht, daß wir uns lächerlich machen sollen, Bella!“

„Das zu verhüten kannst Du getrost mir überlassen!“ Sie sprühte und funkelte.

„Eff ist ein Ehrenmann, er ist ein Kavalier durch und durch. Er wird sich auf solche Scherze nicht einlassen.“

„So liebt er Melitta nicht!“ dekretirte sie. „So soll er sie nicht haben! Was, er sollte nicht einmal das Bischen Opfer bringen können? Uebrigens, was steht da wider den Ehrenmann und Kavalier? Natürlich, Deine Demokratenblätter wissen das am besten! Uebrigens,“ fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, die der Wirkung ihrer Worte gewidmet war, „kann die Sache auf die denkbar einfachste Weise angefaßt werden. Lolo ist die Aelteste; es ist selbstverständlich, daß ihr der Vorrang gebührt. Man giebt nicht beide Töchter, unsere einzigen Kinder, auf einmal weg. Melitta ist erst achtzehn Jahre alt. Man kann warten und sich gefälligst gedulden. Monsieur Eff wird sich dann besinnen müssen. Einstweilen muß es dabei bleiben: für den Grafen ja! für Eff nein! – Friedrich, noch eine Flasche Apollinaris!“

„Wenn nun aber Lo für den Grafen – nein! sagt?“ Es schien ihm eine Herzensfreude zu machen, mit dieser Bemerkung das ganze Netz ihrer Pläne zu zerschneiden.

„Ah!“ – Es war ein Unsinn, das anzunehmen. Es war nicht denkbar. Sie hielt es nicht der Mühe werth, dagegen etwas einzuwenden.

Da klingelte es zweimal rasch hinter einander im Flur. Es waren die Beiden; der elektrische Apparat schien noch einmal so fröhlich unter dem Druck solcher Finger zu arbeiten.

„Sie sind es, Belzig. Du wirst Lolo in Kenntniß setzen, ich werde Melitta auf mich nehmen – das arme, gute Kind!“ [263] setzte Frau Belzig mit einem Seufzer hinzu, der aus einer reservirten Ecke ihres Mutterherzens zu kommen schien. „Friedrich, meinen Kaffee in das rothe Boudoir!“

Die Verkleinerung des linken Auges hatte bei Friedrich nunmehr ihren höchsten Grad erreicht.

Gleich darauf erscholl im Nebenzimmer das laut krächzende Gelächter des Papageis. „N’tag, Hans! N’tag, Hansi!“ riefen die lachenden Mädchenstimmen. Der Vogel stellte sich ganz ungeberdig, und der ganze Käfig wankte und schwankte unter der Freudenwuth seiner Sprünge. Ein Fältchen der Ungeduld zog sich zwischen Frau Belzig’s energischen schwarzen Brauen zusammen; das Gelächter und die Fröhlichkeit fiel ihr wie ein Vorwurf aufs Herz, und Solches paßte durchaus nicht in die Situation.

Dann, in dem breiten Rahmen der Schiebethür, die Friedrich lautlos aus einander gleiten ließ, erschienen Lo und Melitta. Es war wie die Wirkung eines Sonnenscheins, der jubelnd aus dem Regengrau der Wolken bricht: alle die Tümpel und Pfützen der schlammigen Landstraße wie Goldplatten erglänzend und die häßliche Oede der versumpften Landstrecken zu farbiger Heiterkeit verklärt.

Ein paar Augenblicke hielten die beiden Gestalten in der Thür, als gälte es, den Eltern dort am Tische mit dem Bilde ihrer Erscheinung eine Freude zu bereiten. Das mit kostbarem Pelz verbrämte Eiskostüm kleidete sie „zum Entzücken“ – oft genug, während sie über die mit feinem weißen Krystallstaub bedeckte Fläche dahinsausten, war ihnen das Wort mit anderen Rufen der Bewunderung an den Köpfen vorbeigehuscht. Sie waren noch in der hellen Begeisterung des herrlichen Sportes, ihre Gesichter mit blühender Röthe bedeckt und die dunkelrothen Lippen halb geöffnet von der Erregung des Athmens; ihr ganzes Wesen in Leben und Bewegung. Ein so würziger Hauch stählender Winterkälte wehte von ihnen aus.

„Was? noch bei Tische?“ rief Melitta.

„Wie könnt Ihr nur in der häßlichen Stube sitzen!“ rief Lo zu gleicher Zeit. „Ein Verbrechen, nicht draußen zu sein! Alle Welt ist draußen!“

„Ihr habt keine Ahnung, wie herrlich es ist!“

„Ganz wundervoll! – Wir kommen wohl viel zu früh? Wie schade!“

Es war zum Nachmittag ein gemeinsamer Besuch angesetzt worden; eine wichtige Nothwendigkeit. Was sollen die Leute denken, wenn man sich nicht bald blicken läßt! Diese Leute waren aber auch nichts Gewöhnlicheres als eine aktive Generalsfamilie.

„Es wird heute leider nichts aus dem Besuch, Ihr dürft ruhig ablegen,“ sagte Frau Belzig, mit der unbefangensten Miene in der Fruchtschale suchend.

„O, da hätten wir wohl noch bleiben können?“

„Nein, es ist gut, daß Ihr da seid – Papa und ich haben mit Euch zu sprechen.“

Es klang so schwer, so feierlich, fast streng. Plötzlich, mit einer nachdrücklichen Gebärde, preßte Frau Belzig die Serviette auf den Tisch, stand auf und legte ihre Arme, die so rundlich von der enganschließenden Seide umspannt waren, um die Taillen der beiden Mädchen. „Nun, seid Ihr auch nicht zu echauffirt? Seid Ihr auch nicht zu wild gewesen?“ Es war gar kein Uebergang von jener Feierlichkeit zu diesem besorgt zärtlichen Ton. Ihre weiche, warme Hand strich ihnen nach einander uber das Oval der Wangen. „Ich stehe immer eine Todesangst aus, und ich bin wie erlöst, wenn Ihr zurück seid.“

„Du kleine närrische Mama!“ lachte Lolo. Und sie umschlang den Nacken der Mutter und bedeckte deren Wangen mit ein paar herzigen Küssen.

„Du erstickst mich noch, Du Wilde!“ rief Frau Belzig, etwas erzwungen lachend und sich wohlig unter der Liebkosung hin- und herwindend. Dann mit neckischer Gewaltsamkeit löste sie sich aus den Fesseln von Lolo’s Armen, und nun fiel sie mit einem seltsam stürmischen Ausdruck uber Melitta her, deren Hand in den beiden streichelnden Händen des Vaters geruht hatte. – Was war den Eltern beiden? Melitta schrak fast zurück vor dieser Heftigkeit.

„Komm her, Du bist mein gutes, braves Kind, nicht wahr?“

Melitta’s ahnungslose Braunaugen forschten verwundert in dem Antlitz der Mutter. Warum wich ihr diese mit den Blicken aus, während ihre Worte so auf sie einstürmten? Warum die Gezwungenheit ihres Lächelns? Was war geschehen? Ein plötzlicher unerklärlicher Schreck krampfte ihr Herz zusammen.

Welch eine Thorheit! Was sollte, was konnte Böses von dieser Seite drohen? Doch in einer Vorahnung, daß sie vielleicht zum letzten Mal Schutz zu suchen hätte an dem Herzen ihrer Mutter fügte sie sich hingebend in deren Liebkosung. „Liebe Mama …“

Die ganze Scene sah ja fast wie ein Abschied zu einer längeren Reise aus.

„Ihr werdet kalt sein. Ihr werdet nach Eurem Thee verlangen. Friedrich, den Samowar in die rothe Stube!“ befahl Frau Belzig.

Sie hatte ihre Fassung wiedererlangt. Durfte ihr Gewissen nicht in ungetrübter Reinheit strahlen? Und sie reckte sich auch körperlich aus der Enge ihres Mieders heraus. Wie ihr die süßen Wesen ins Herz gewachsen sind! Wie sie ja keinen andern Gedanken hat, als das Glück und das Wohl ihrer Lieblinge!

„Kommt!“ Und die Arme abermals um die Taillen ihrer Beiden geschlungen, rauschte sie mit ihnen davon, nach der rothen Stube hin. –

Die rothe Stube … es klingt fast ominös. So pflegt in einem mit Geheimnissen und Furchterlichkeiteu gefüllten Kolportageroman irgend ein Kapitel überschrieben zu werden, in dem das Blut eines unschuldigen Opfers fließen wird.

Bah, nur eine kleine Operation, die an Melitta’s Herzen vorgenommen werden muß. Mit ein paar Thränen ist Alles erledigt.

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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 17, S. 273–278
[273]
6. Euer Graf.

„Litta! – gute Litta! – Sei ruhig – beruhige Dich! – Komm – es wird Alles gut werden!“

Die Worte der Schwester klangen so lieb und gut, wie sonst nur mildheilende Trostesworte einer Mutter zu klingen vermögen.

Aber Melitta wollte nichts von Trost und Heilung wissen. Sie lag ausgestreckt auf ihrem Bette, noch im vollen Kostüm, so wie die erste Verzweiflung sie dorthin geworfen, das Gesicht ins Kissen gepreßt.

Nein, nein, nein – Nichts wird gut werden! Sie wiegte den Kopf, immer schneller, erregter, in leidenschaftlichem Ungestüm. Nichts wird gut – es wird keine Sonne mehr scheinen und kein Stern mehr strahlen – die Welt wird in ein stummes Grau versinken – es ist Alles aus – sie will nicht mehr leben – ohne ihn nicht. Lolo gab jeden Tröstungsversuch auf. Mag der heiße Schmerz in sich selber vertoben! Ein Weilchen stand sie in Gedanken versunken am Fenster.

Wie überraschend doch Alles hereingebrochen! Am meisten wunderte sie sich darüber, daß sie selbst so gleichgültig geblieben.

Wie war es doch geschehen? – Papa hatte sie bei der Hand gefaßt; seine farblosen Augen zwinkerten lebhaft, ein Zeichen seiner Erregung, doch die Worte kamen ganz trocken heraus: „Lo, ich muß Dir die Mittheilung machen, daß Graf Nachewski heute früh um Deine Hand angehalten hat. Deine Mutter und ich, wir sind einig darüber …“

Und er stockte.

Ein kurzes Lächeln der Ueberraschung zuckte über ihr Antlitz. Sie fühlte das heiße Wallen einer Blutwelle hier in der Brust und der Athem verging ihr.

„Nun, wie denkst Du, Lo? Deine Mutter und ich sind, wie gesagt, darüber einig …“

„Ach, Papa!“

Während sie das Köpfchen gegen die Schulter des Vaters gelehnt hielt und dessen Hand besänftigend, ja fast wie belobend ihren Nacken klopfte, war sie sich wie ein Kind vorgekommen: etwas ungemein Glänzendes wurde ihr hingehalten, und sie war im Begriff, ohne Besinnen danach zu greifen, ohne sich Rechenschaft zu geben, ob das Dargebotene auch nicht brannte und nicht weh thäte beim Anfassen, ob es nicht zerbräche, ob es überhaupt nicht schädlich wäre.

[274] Da gellte von der rothen Stube her ein Schrei – Melitta’s Stimme. Lolo fuhr von der Schulter des Vaters empor.

„Es ist – es ist – noch Jemand – dagewesen – heute Morgen –“ stotterte der Vater. „Lieutenant Eff hielt um die Hand Deiner Schwester an.“

„Ah –!“ Diesmal leuchtete Lolo’s Gesicht in herzlicher Freude.

„Aber wir sind uns Beide darüber klar geworden,“ fuhr er fort, mit den Fingern sehr aufmerksam den Pelzbesatz ihres Aermels streichelnd, „wir sind uns darüber klar geworden,“ wiederholte er gedehnt, „daß aus dieser Verlobung einstweilen nichts werden kann.“

„O, warum denn nicht?“ fuhr sie zurück.

„Siehst Du, wir wollen Euch doch nicht Beide zugleich verlieren, und Du bist die Aeltere, Du hast den Vorrang –“

Mit einer schnellen Bewegung warf sie das Köpfchen empor. Nur auf die Dauer weniger Herzschläge flogen die Gedanken an ihr vorüber. „Wenn es nur Eine von uns Beiden sein soll, so ist es doch an mir, zurückzutreten! Melitta liebt, und ich liebe (sie wollte nicht sofort ‚nicht‘ sagen) – nein, ich weiß nicht, ob ich ihn jemals lieben werde. Aber Melitta’s Liebe hat den Vorrang. Muß ich da nicht zurücktreten?“

Plötzlich lohte wieder das gewaltig Glänzende vor ihren Augen, in ihren Händen zuckte wieder das Kindergelüsten – sie war zu sehr die Tochter von Frau Belzig, als daß diese Hände an sich gehalten und nicht mit dem raschen Griff gieriger Kinder das prächtige Spielzeug an sich gerissen.

Eine Grafenkrone – Gott, wie viele sonst verständige Leute rutschen vor solchem Fetisch auf den Knieen, wie mancher würde in solchem Götzendienst sein halbes Vermögen, seinen ganzen Charakter opfern, bloß um solch ein Ding zu besitzen. Wie unwiderstehlich nimmt sich solch Neungezacktes auf einer Visitenkarte aus – wie berauschend wirkt es auf dem dunkelblauen Lack eines Wagenschlages oder auf den thalergroßen Knöpfen eines Livréebedienten – und welch reizende, süßbestrickende Musik: „Frau Gräfin – gnädigste Gräfin –“ nein, man kann es einem Kinde wie Dir, Lolo, nicht verargen, wenn Du die Fingerchen danach ausstreckst!

Die Eltern wünschten es ja auch, und Lolo hatte oft sagen hören, daß Ehen, die ohne brennende Leidenschaft geschlossen würden, eigentlich am besten ausfielen. Es sprach ja für diese Verlobung Vieles. Nur hier, vor dem lauten, rückhaltlosen Jammer Melitta’s, kam ein Gefühl von Scham über sie.

Sie kann nicht – glücklich sein (wie soll sie es sonst nennen?), wenn dieses – Glück ihre Schwester fort und fort an den Schmerz eines Verlustes erinnern soll! Sie will ihr – Glück nicht auf Melitta’s Kosten erkaufen! Sie stutzte. Ist die Gleichzeitigkeit der beiden Heirathsanträge, die dem Hause die beiden einzigen Kinder zugleich entführt, wirklich der Grund, weßwegen Eff abgewiesen und der Graf angenommen wird? Ei, warum ist sie nicht sofort darauf gekommen? Sie hat doch sonst schon genug von dem Ritus und den Satzungen des Götzendienstes kennen gelernt. Nicht die Personen, nein, die Namen – der Kontrast der beiden Namen! Wäre Eff früher, vielleicht auch später erschienen, so hätte man ihn nicht verschmäht. Armer Eff, der über seinen eigenen Namen stolpern muß – bedauernswerthe Schwester, die das Verhängniß gehabt, ihr Herz an einen „Namenlosen“ zu verschenken!

Lolo schritt die Stube auf und ab, die großen sinnenden Augen auf die Arabesken des Teppichs gesenkt; von Melitta’s Lager her kam ein gedämpftes Stöhnen. Plötzlich hielt sie dicht unter der Hängelampe, deren gelblich mattes Licht ihre Gestalt magisch übergoß. Ihre Augen funkelten, und sie waren mit einem fast drohenden Ausdruck auf ein Ecktischchen gerichtet, auf dem eine große Photographie in einem gestickten Plüschrahmen stand – das Bild ihrer Mutter als Kniestück, ganz Würde und Wichtigkeit und Grandezza, ganz die geborene „von“ Schülpchen, mit einem gnädigen und herablassenden Lächeln.

Nur wenige Sekunden lang währte die stumme Herauforderung dieses Blickes. Dann wandte sich Lolo nach dem Bett.

„Litta! – Komm – sei ruhig!“

Diesmal war es mehr als eine tröstende Beruhigung. Litta hob das Gesicht aus den Kissen, und ihre gerötheten, von Thränen entstellten Augen starrten fragend zu der Schwester empor.

„Nun ja, Litta, Du sollst sehen! Es wird Alles gut! Du sollst Deinen Eff haben, oder – Mama soll ihren Grafen –“

Wie lächerlich, wie absurd es klingt. „Mama soll ihren Grafen nicht haben.“ Lolo’s Zähnchen blinkten; sie mußte selbst lächeln über solche Fassung ihrer Kriegserklärung. Gleich aber verschwand das Lächeln wieder unter dem triumphirenden Gefunkel ihrer Blicke.

„Wo willst Du hin, Lo?“

„Laß mich nur machen!“ rief diese von der Thür her. „Daß Du mir keine Thräne mehr weinst, das sag’ ich Dir, Litta!“

Wenige Minuten später stand Lolo im Allerheiligsten des Komptoirs vor dem Vater. Sie war, ohne anzuklopfen, hereingetreten. Herr Belzig war so in Gedanken versunken, daß er das Oeffnen der Thür gar nicht gehört zu haben schien. Er saß auf dem sesselartigen Drehschemel, die Stirn, wie von einer wüsten Schwere bedrückt, in die stützende Hand gepreßt. Vor ihm auf dem Pulte lagen, von der Lampe grell beschienen, bunte, mit schreienden Farben bemalte Bilderbogen, Offerten, die der Erledigung harrten; gegen das große schwarze Tintenfaß, gegen den eisernen Leuchter und die Briefwage lehnten ausgeschnittene Figuren aus einem Puppenspiel, und die Possierlichkeit dieser Umgebung wollte nicht zu den Falten auf der Stirn des Mannes und zu dem starren Sorgenausdruck seiner Augen passen.

„Papa …“

Er schrak aus seinen Gedanken empor.

„Ah, Du bist es, Lo? Wie kommst Du … was willst Du? …“

Es glitt bei ihrem Anblick ein freundlicherer Schein über sein verstörtes Gesicht.

„Darf ich Dich auf einen Augenblick sprechen? Verzeih’, wenn ich Dich störe, Papa.“

„Komm nur, mein Kind!“ Er streckte seine trockene, hagere Hand nach ihr aus.

Aber Lolo nahm die Hand nicht. Sie trat einen Schritt näher an das Pult heran, in den Leuchtkreis der Lampe hinein.

„Vater,“ sagte sie im ruhigsten Ton, die Arme mit den zusammengelegten Händen hingen ebenso gelassen herab; „Vater, es thut mir leid, wenn ich mich nicht ganz so folgsam erweise, wie Du und Mama es erwartet. Ich fühle mich wie Ihr sehr geehrt durch den Antrag des Grafen Nachewski (keine Miene der Ironie, doch fiel es ihr schwer, diese Miene zu unterdrücken). Ich kann mich jedoch nicht entschließen, diesem Herrn meine Hand zu reichen.“

„O – o!“ Herr Belzig drehte sich vollends auf seinem Schemel herum. Es lag Allerlei in diesem O: Ueberraschung, Verwunderung, Angst vor einer neuen Störung des häuslichen Friedens, aber auch eine Spur von Schadenfreude, daß die Autorität seines Weibes so wider Erwarten auf Widerstand stieß.

„Wenn ich überhaupt dabei mitzureden habe,“ ergänzte Lolo, die Stimme erhebend.

„O!“ ein kürzeres O, das ihr diese Berechtigung sofort und freudigst zugestand.

„Das heißt, lieber Vater, ich mache meine Entschließung von einer Bedingung abhängig. Litta liebt Eff und Eff liebt Litta. Warum sollen sie sich nicht gehören? Und wenn sie sich nicht gehören sollen – so – (sie riß die zusammengelegten Hände mit einem Ruck aus einander und ihre Stimme bebte) so bin ich schlecht, so verzeiht mir, wenn ich nicht Eure gehorsame Tochter bin, so nehme ich auch nicht Euren Grafen (sie rief es gerade heraus, dies ‚Euer‘)! Niemand in der Welt wird mich zwingen, ihn zu heirathen!“

Belzig’s Augen zeigten ein verblüfftes Staunen. „Mein Kind, mein gutes Kind …“ stammelte er, und er begann langsam, die Ellenbogen im rechten Winkel, sich zu erheben. Da war aber auch schon Lolo auf ihn zugestürzt und hatte ihn mit ihren umschlingenden Armen wieder auf den Sitz zurückgezogen.

„Lieber, lieber Papa, sei mir nicht bös! Ich wollte Dir ja keinen Kummer machen. Ich weiß ja, daß Dir die Aufregung schadet. Aber Mama war ausgefahren, und ich konnte nicht länger an mich halten. Es mußte heraus. Es ist mein Ernst, es ist mein heiliger Ernst!“ Sie richtete sich wieder empor, aber diesmal beschränkte sich der Ausdruck des Trotzes nur auf diese Bewegung, in ihren Augen war ein feuchter Schimmer: „Wenn Du wüßtest, wie unglücklich die arme Melitta ist, Papa!“

„Nun ja, nun ja,“ beruhigte er ausweichend, „es wird sich Alles machen! Man muß mit Mama reden – ich werde mit Mama reden –“

[275] Plötzlich ward er sich der Erbärmlichkeit seines zimperlichen Kleinmuthes bewußt. Er reckte sich aus dem Stuhle empor.

„Natürlich, natürlich!“ rief er, sich in die Brust werfend, mit einer überflüssigen Energie, die wohl für eine spätere, bevorstehende Scene bestimmt schien. „Natürlich hat Litta eben so viel Anrecht, glücklich zu werden, wie Du. Was der Einen recht ist, ist der Andern billig.“

Es war die offene Empörung darüber, daß seinem armen Kinde solches Unrecht zugefügt wurde. „Und nun geh’, Lo, hörst Du? Beruhige Deine Schwester. Sie soll ganz ruhig sein! Ich werde – nun geh’, hörst Du?“

Er hatte solche Eile, daß Lo sich entfernte. Fürchtete er etwa, daß er noch vor den Augen seiner Tochter wieder in seinen Kleinmuth zurückfiele? Nicht das, aber als Lo fort war, hielt er es doch für nöthig, das Haus zu verlassen und in kurgemäßem Tempo den Kanal entlang bis zur Brücke am zoologischen Garten zu laufen, um den schädlichen Folgen all der Aufregung auf seine Gesundheit vorzubeugen. Nun, und auch der zu bestehende Strauß mit Frau Belzig erforderte einen gehörigen Vorgenuß von freier Luft und Bewegung.

„Das ist ja – das ist ja –“ Frau Belzig rang vergebens nach einem Wort, um das Benehmen Lolo’s und das Komplott ihrer beiden Töchter stark genug zu bezeichnen, als eine Stunde später der Zusammenstoß erfolgte. Das war ja der offene Aufruhr – Rebellion, nichts Anderes! Sie war außer sich. Sie sprühte und prasselte vor Wuth wie ein frischangezündetes Feuer.

„Ist es denn möglich! Das kann auch nur Dir passiren, Belzig! Warum ist sie nicht zu mir gekommen? Natürlich nicht! Ich werde mit ihr reden. Bedingungen zu stellen! Ich werde mit ihr reden. Nein, ich will sie nicht sehen, ich kann sie nicht sehen! Es macht mich total krank. Eff – ist es denn möglich? Der Name macht mich krank, er bringt mich um!“ –

Und nichts Trübseligeres diesmal, als der zum Diner gedeckte Tisch, an dem der „Herr des Hauses“ einsam in Gegenwart von drei unbesetzten Kouverts saß und mit Messer und Gabel appetitlos auf seinem Teller herumschnipselte. Silber, Porcellan und Krystall schienen ihren Glanz eingebüßt zu haben und der Kronleuchter hing als eine schwere und träge Masse hernieder. Das Feuer schwelte dumpf im Kamin; hier und da gab es einzelne knallartige Detonationen, wie Schüsse in einem hingehaltenen Gefecht.

Rebellion im Hause! Selbst das leblose Geräth rebellirte. Nur allein Friedrich schritt gelassen, nichts sehend, nichts hörend, mit seiner geheimräthlichen Grandezza durch all den Aufruhr.




7.0 Zwei Sitzungen.

„Die Verlobung ihrer Tochter Lolo mit Herrn Winfried Graf Nachewski aus Stopplenberg, sowie ihrer Tochter Melitta mit dem königlichen Hauptmann im Großen Generalstabe, Herrn Adalbert Walther Eff beehren sich ergebenst anzuzeigen

  O. F. Belzig und Frau

  geb. van Schülpchen.“

Diesmal hatte sogar der famose Druckfehler versagt. Es war auch das jetzt gleichgültig. Es war überhaupt Alles gleichgültig! – Frau Belzig wird fortan kein Glied eines kleinen Fingers mehr rühren, um das Haus vor seinem Zurücksinken in das frühere Dunkel zu retten! Sie wird fortan zu Allem Ja! sagen. Ein so verzweifeltes Nicken stummer Einwilligung, das schlimmer war als die alarmirenden Tiraden ihres lauten Widerstandes; – ein so verzweifeltes gerührt mitleidiges Lächeln, vor dem Melitta noch im letzten Augenblick zurückweichen wollte. Aber die tapfere Lo blieb standhaft. „Mama wird sich allmählich beruhigen. Schließlich braucht Mama nicht die Herren zu heirathen, sondern wir!“

Bis zum Abend des folgenden Tages hatte der Kampf gedauert. Schließlich siegte die Partei der Rebellion in einer großen Rührscene, bei der die Thränen der Damen reichlich flossen. Herrn Belzig’s Gesundheit hatte entschieden während dieser Kriegsperiode gelitten, und die Farbe seines Gesichts war trockener und grauer geworden, nun durfte er endlich wieder aufathmen und in Ruhe seiner Kur leben. Gleich am andern Tage bestellte er eine neue Nachsendung seines Brunnenwassers. Mit einer Tapferkeit, die für ihn selbst staunenswerth erschien, hatte er die Partei der Mädchen gehalten. Er legte die Hand einfach auf seinen Arnheim: kein Pfennig soll für die Bezahlung von Schulden heraus, ehe nicht Melitta’s Herzen ein Recht geschehen! Als Perkisch nach und nach die Zahlen spielen ließ, die Nachewski’s Schulden bedeuteten, und die Summe nun endlich feststand, da zuckte in ihm ein Widerstand: die saure Arbeit so manchen Jahres, die in diese Versenkung hinabgleiten sollte? Aber war das Glück seines Kindes nicht eine Hand voll Zehntausender werth? Eines aber wollte er dann wenigstens wissen. „Sag’ einmal, liebst Du ihn denn wirklich, Lo?“ hatte er seine Aelteste gefragt; „wirst Du auch glücklich werden?“ Er legte dabei die eine leibliche Hand um die rundliche Taille seiner Tochter, während die andere in Gedanken den Verschluß des Arnheim gedeckt hielt.

Welch eine überraschende Frage!

„Aber Papa! Gewiß – warum soll ich nicht? Was denkst Du denn?“ stammelte sie, und sie fühlte die Blässe, die gleich einer Kälte vom Herzen in ihr Antlitz emporstieg. Doch ihre Zähnchen blinkten schon wieder lächelnd. „Gewiß lieb’ ich ihn, Pa’!“ rief sie mit scharfem Trotz.

Da zog er in Gedanken die Hand von dem Verschluß des Arnheim. Es war ein so häßliches Feilschen und Markten. Der Handelsmann Perkisch kämpfte unter der Maske der Freundschaft mit einem schier fanatischen Eifer, als gälte es, seinen eigensten Vortheil zu retten. Aus dem Lärm des Geschäftes erfuhren auch die Mädchen von dessen unerquicklichen Details: Zahlen und Zahlen, die umherschwirrten, und die Stichwörter der köstlichen Harlekinade, die der Kobold des guten Namens hier zum Besten gab. Sie sahen und staunten, wie dieser Perlisch, der durch seine hochpoetischen Toaste einen Sonnenschein über die ödesten und steifsten Diners und Soupers zu breiten wußte, so handgreiflich mit den Idealen schacherte.

Auch Frau Belzig lernte hier den redefertigen Dinergast von einer neuen Seite kennen, aber sie achtete kaum auf diese Geldaffairen in ihrer Aufregung über das Jawort, das an Eff verschleudert werden sollte. Eine letzte Hoffnung blieb ihr noch, die Adoption und an diese klammerte sie sich krampfhaft.

Die beiden Glücklichen sollten noch am Abend aus ihrem Harren erlöst werden. Lolo fürchtete, über Nacht könnte das Wetter noch einmal umschlagen. Der Hauptmann empfing die Freudenbotschaft in einer Sitzung seiner Abtheilung, aus der ihn der Bote herausholen ließ. Sein Antlitz flammte von dem inneren Aufjauchzen seines Herzens. Er wollte kommen – er würde sich beeilen, gleich wenn die Sitzung zu Ende, wäre er da!

Aber der Dienst – die Heiligkeit des Dienstes!

Während er die Thür zum Sitzungssaal öffnete, verschwand die dienstwidrige Freudenmiene, er machte seine Verbeugung gegen den vorsitzenden Abtheilungschef und setzte sich mit der sicheren Ruhe, die sein Wesen kennzeichnete, wieder vor den Papierstößen seines Platzes nieder. Und jedenfalls war die Röthe, die während der noch anderthalb Stunden dauernden Sitzung sein Antlitz belebte, kein Zeichen der Ungeduld, sondern nur die Wirkung der geschärften Aufmerksamkeit, welche die Schwüle dieser wichtigen Sitzung erforderte. Am Schlusse erlaubte sich Eff, unter Vorbehalt der vorgeschriebenen dienstlichen Meldung, dem Obersten Mittheilung von seiner Verlobung zu machen.

„O, das hätten Sie aber gleich sagen sollen – gratulire!“ rief der Bärbeißer.

Und während er Jenem die Hand reichte, war es wohl nur eine ganz flüchtige Spur des Zweifels, die sein Dienstgewissen streifte, ob denn diese Verlobung auch nicht die äußere Genauigkeit von Eff’s Referaten beeinträchtigen würde. Aber sofort mit einem zweiten Händedruck leistete er stille Abbitte. Bei Eff’s Dienststrenge war doch dergleichen nicht zu besorgen!

Weniger leicht war es Friedrich geworden, den Grafen aufzutreiben. Dessen Spur leitete von dem ziemlich dunkeln Hôtel in der Jerusalemerstraße, wo er wohnte, über verschiedene Lokale, in denen er zu treffen sein sollte, nach einem Weinkeller des Gendarmenmarktes. Während der Nachfrage am Büffett hörte Friedrich aus einer der Kojen, die mit einer Portière verhangen war, das näselnde Organ des Gesuchten, begleitet vom Klang der Gläser und dem ausgelassenen Lachen und Juchzen weiblicher Stimmen.

„Ah, Sie sind es, Johann – Pardon, ich verwechsele Sie immer. Sie heißet doch ... wie heißen Sie doch noch? Sie nehmen ein Glas Wein? Fritz, he, einen Schoppen! Nun, was bringen Sie denn?“

[278] Als wenn der Mann gar nicht neugierig wäre, sein Schicksal zu erfahren! Das empörte innerlich selbst Friedrich, aber seine Miene blieb steinern.

„Ich warte auf Antwort, Herr Graf!“ meldete er, das Billett überreichend.

Graf Nachewski trat unter die nächste Gaskrone und hielt zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner Linken eingeklemmt das geöffnete Billett hoch empor, höher als nöthig gegen das Licht. Seine zwinkernden Augen entzifferten mit Mühe die Schrift. Friedrich hätte bemerken können, wie die Gestalt des Lesenden ein klein wenig vor- und rückwärts wiegte.

Das durch Wein bereits echauffirte Gesicht schien keiner Steigerung eines Ausdrucks fähig. Doch die ganze Gestalt schnellte plötzlich empor, als wenn eine verhaltene Sprungfeder losgelassen würde; die erhobenen Finger der Rechten gaben ein paar scharfschnippende Kastagnettentöne, und das Billett wurde konvulsivisch in der Linken geknittert.

„Gut, Johann! Gut! Ergebensten Gruß! Ich käme sofort!“

Und während Friedrich sich herabließ, den dargebotenen Wein am Büffett mit stummer Kennermiene zu schlürfen, erhob sich in der verhangenen Koje ein lärmendes Halloh. Eine Reihe von Hochrufen auf den Bräutigam, dazu ausgelassenes Lachen; ein Glas zerschellte klirrend beim Anstoßen. Der Name Belzig wurde wiederholt mit so eigenthümlicher Betonung genannt, und die lallende Stimme eines Betrunkenen ließ den „Goldfisch“ leben.

Friedrich meinte für sich, er sei einen minder sauren Wein gewohnt, und er ließ die Hälfte stehen.

Das „Sofort“ des Grafen aber dehnte sich noch zwei Stunden aus, so lange währte auch diese Sitzung. Bei der nun folgenden intimen Verlobungsfeier ließ Graf Nachewski, vom Wein und von der Freude angeregt, daß es nun ein für alle Mal vorbei sei mit diesem elenden Seiltanzen über Schuldenabgründen, das ganze nicht sehr ausgedehnte Repertoire seiner Liebenswürdigkeit spielen. Vielleicht machte er sich auch weis, daß hier in dem ausgebrannten Krater seines Herzens sich dennoch die Spur einer Flamme bemerkbar mache, die man Glück, Liebe und ähnlich hübsch klingend benennen könne. Die taube Tante Mala war ganz außer sich über Lolo’s Glück. Nun, und Lolo’s Heiterkeit an diesem Abend war doch wohl nicht allein der Ausdruck der Befriedigung, ihre Schwester so überglücklich zu sehen.

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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 18, S. 289–292
[289]
8. Glatteis.

Es war Glatteis, die Luft von einem feinen dunstartigen Staubregen erfüllt, dessen Niederschlag die Glätte noch immer steigerte. Eine wunderschöne Glasur bedeckte Trottoirs und Fahrwege, und die winterschwarzen Stämme und Aeste der Bäume schienen wie von einem funkelnden Lack überzogen. Ueberall Glanz, übertriebener Glanz und Reflex, die Lichter der Gasflammen und der Schein der Schaufenster durch eine ungeheure Spiegelung ins Endlose ausgedehnt. Eine allgemeine Blendung, grell wie die Wirkung des Sonnenlichtes auf einer Wasserfläche.

Alles tastend, schlürfend, ein Tappen mit Hilfe von Stöcken und Schirmen, ein ängstliches Vorwärtsschieben Schritt für Schritt, unbändige Freude der Jugend, erschreckte Ruhe und schadenfrohes Gelächter, und die kräftigsten Kutscherflüche. Ueberfüllte Tramways hielten auf den Geleisen, zu Zügen gereiht, weil die Pferde der vorderen Wagen versagten; Droschken schlichen am Rande des Fahrdammes, und der dampfende, zitternde Gaul wurde vom Kutscher mehr gestützt als geführt. Hier und da hatte eines der Fuhrwerke das Weiterschleichen aufgegeben, und aus dem mit Reise-Effekten bepackten Innern gestikulirte ein verzweifelter Fahrgast; in duftige Kapotten gehüllte Rosagesichtchen von tanzlustigen Damen spähten vergeblich nach einer Rettung aus.

Glatteis – jedenfalls war es schuld daran, daß die Festräume am Lützowufer sich jetzt um die neunte Stunde noch immer nicht füllen wollten. Es war die officielle Verlobung. Aus einem der hinteren Salons schallte das laute accentuirte Ostpreußisch Mühüller’s, der einem halben Dutzend lachender junger Damen die Erlebnisse seines Hierherutschens auf dem Glatteis in drastischen Worten und Stellungen schilderte. Ein paar dürftige Gruppen gleichgültiger Gäste waren auf die übrigen Räume vertheilt. Unermüdlich sah man Eff’s Burschen Baptist in einer neuen Livrée des Hauses von Gruppe zu Gruppe eilen, um Thee anzubieten. Er nahm diesen Dienst jedenfalls zu gewissenhaft; sein volles Gesicht erglühte feucht über den dampfenden Tassen des mit übertriebener Vorsicht balancirten Theebrettes; Friedrich mußte ihm mit seiner herablassenden Gravität immer wieder Einhalt thun. Aber bei jedem [290] Geklapper eines Löffelchens fuhr er von Neuem mit seinen Theetassen los.

Glatteis – auch die Gruppen sprachen vom Glatteis, Alles sprach davon. Kaum, daß die Ankommenden die Rücksicht beobachteten und ihre Glückwünsche darbrachten. Es wurde Frau Belzig wirklich zu viel, dieses Glatteis. Jedem schwebte es beim Eintritt auf den Lippen, und die von der Anstrengung des „Hierherrutschens“ echauffirten Gesichter konnten ihre Freude nicht verbergen, nach so viel halsbrecherischen Fährlichkeiten endlich im Trocknen dieses Salons gelandet zu sein.

Auch Herr Belzig war wie besessen von dem Glatteis. Immer wieder eilte er hinaus, um den Hauseingang und die angrenzenden Trottoirs von neuem mit Sand bestreuen zu lassen. Eben kam er mit dem Ruf zurück. „Es wird noch Alles Hals und Beine brechen!“ Da brach sich die Ungeduld seiner Frau in gereiztem Tone Bahn. „Belzig, ich hätte an Deiner Stelle doch den ganzen Kreuzberg mitsammt dem Tempelhofer Felde ankaufen lassen, um Berlin mit Sand zu überstreuen. Meinetwegen mögen sie doch auf allen Vieren rutschen, wie Mühüller behauptete, daß er es gethan!“

Aber gleich zerschmolz dieser Unmuthsanfall unter der lächelnden Höflichkeit, mit der sie als Herrin des Hauses ihre Gäste zu empfangen gedachte. Ja, sie wollte auch nicht mit dem Zucken einer Miene einen Unterschied machen und die Schulze und Lehmann, die Namen und Namenlosen, Epauletten und Nichtepauletten: sie sollten Alle in die eine gleichmäßige Liebenswürdigkeit eingeschlossen werden.

Und einen vollen Sonnenschein ihres Lächelns, einen scharfen Sonnenschein, wie er an Sturmtagen aus den Wolken bricht, sandte sie nach dem anstoßenden Salon hinüber, wo die beiden Bräute die Glückwünsche entgegennahmen und mit zerstreut glücklichen Mienen über die prachtvollen, mit beiden Händen gehaltenen Riesensträuße hinweg die glänzenden Augen immer wieder nach der Flügelthür wandten, in deren Oeffnung jeden Augenblick ihre Verlobten erscheinen mußten.

„Sehr erfreut – sehr dankbar, daß Sie gekommen bei dem Glatteis!“

Frau Belzig wollte es versuchen, dies lächerliche Glatteis direkt zu bekämpfen, indem sie es den Ankommenden einfach aus dem Munde nahm.

Nun öffnete sich die Flügelthür vor der gewaltigen Breite einer sehr starken und rothen Dame. Ganz athemlos, in großer Erregung wackelte sie auf die Wirthin zu, die beiden Arme zum Gruß vorgestreckt, einen Umhang auf dem Boden nachschleppend. „Meine liebe – gute – Frau Belzig – das ist so entsetzlich! Ich bin halb todt – ich kann wirklich nicht mehr –“ jammerte athemlos die hohe Fistelstimme.

„Sie hat geweint wie ein Kind über das Glatteis, mitten auf der Straße,“ ergänzte nach dem ersten Gruß ihr Gatte, ein Kollege Belzig’s. Sein rothhaariges Gesicht grinste vor köstlicher Heiterkeit, und die beiden unbedeutenden Küchlein von Töchtern waren noch ganz begeistert von dem Abenteuer. Das Pferd der Droschke war also gestürzt, und sie waren genöthigt gewesen, den Weg bis zum Lützowufer per Eisbahn zurückzulegen. Die arme Mama hatte plötzlich erklärt, sie wolle nicht weiter, und sie blieb mitten auf der blendenden Fläche stehen, bebend und jammernd und zuletzt laut weinend. Nach langen Ueberredungen hatte sie endlich wieder Muth gefaßt und sich, unterstützt von Mann und Töchtern, zum Weitertappen entschlossen. Ihre vollen, bei jedem Schritte nach unten zitternden Wangen zeigten noch die Spuren der Thränen.

„Von der Genthinerstraße bis hierher haben wir genau anderthalb Stunden gebraucht,“ lachte Herr Voltz.

„O, bitte um Verzeihung, verehrteste Frau Kollegin (wie häßlich das klingt, meinte die Angeredete für sich), unsere herzlichste Gratulation! Welch’ glückliches Doppelereigniß!“

„Entsetzlich – meine liebe Frau Belzig,“ jammerte Frau Voltz, immer noch ganz von der Erinnerung an das Abenteuer befangen. Die Küchlein gaben ihren schönsten Pensionsknix zum Besten und trippelten nach den beiden Bräuten hin. Man hörte drüben das zwitschernde Geräusch von Küssen.

Frau Voltz faßte sich endlich und mit derselben Ueberschwänglichkeit, mit der sie sich über das Glatteis ausgelassen, begann sie nun, sich mit dem Taschentuch die Thränenspuren von den Backen zu tupfen und ihr Herz in Glückwunsch-Dithyramben auszuströmen.

Doch Frau Belzig horchte nach einer ganz anderen Musik. Vom Vorsaal her drang der laute Ton militärischer Stimmen, dazu das feine Geklingel von Sporen, das Klirren eines Säbels und jenes kurze Daherschleifen von Tritten, wie es eleganten Militärs eigen ist. Die Herren waren jedenfalls sehr animirt vom Glatteis. Sie mußten Baptist, der ein neues Theebrett hereingeschleppt brachte, abgefaßt haben, und eine der Stimmen unterhielt sich in halsbrecherischer Weise mit dem Franzosen. Die anderen lachten.

Und mit dieser Musik huschte die Erinnerung an das Paradies ihrer Mädchenjahre herbei, wo in den gastlichen Räumen ihres Elternhauses das ganze Husarenregiment mit dem Kommandeur an der Spitze verkehrte und wo sie ihre ersten Triumphe feierte.

Die Thür öffnete sich, und sechs Officiere, die sich jedenfalls in der Kneipe „aufgerollt“ hatten, traten ein.

„Meine gnädige Frau“ in allen Tönen und Verbeugungen, und das Scharren und Aneinanderklappen der Füße, und die hübschen, alten Redensarten des üblichen Jargons, die der Angeredeten heute noch so süß klangen wie vor fünfundzwanzig Jahren. Es waren Kameraden von Eff und Mühüller, die diese im Hause eingeführt, einige „Boxer“ von der Central-Turnanstalt und ein paar Kriegsakademiker. Natürlich stürzte man gleich nach der Gratulation auf das Glatteis. Diesmal lachte Frau Belzig von Herzen mit über die köstlichen Abenteuer, die zum Besten gegeben wurden.

Die Heiterkeit pflanzte sich sofort nach den anderen Räumen weiter, und drüben in dem Kreise junger Damen veranlaßte Mühüller eine förmliche Explosion. Frau Belzig fand für sich das Glatteis doch nicht übel – aber es mußten schon die Militärs kommen, um es zu insceniren; die vom Civil setzten sich einfach plump darauf!

Mitten in diese Heiterkeit platzte der berühmte Dichter Wolfgang Kunde herein, mit dem erhabensten Gesicht und der effektvollsten Mähne seines üppigen aschblonden Haares. Er lachte nie, und er schien diese Heiterkeit fast als eine persönliche Beleidigung aufzufassen. Welch ein verfehltes Entrée! Er hatte unterwegs seiner Frau immer schon vorgejammert, daß sie viel zu frühe kämen. Und diese entsetzlichen Officiere, die sich mit ihren Tingeltangelkünsten überall vordrängten! Er stutzte noch in der Thür, während seine Frau, eine feine Brünette in geschmackvoller Toilette, ihm ein gutes Wort zuflüsterte. Sie verehrte ihn abgöttisch und ertrug mit wahrhaft engelhafter Geduld seine berechtigten Dichterlaunen. O, sie würde schon dafür sorgen, daß er auch hier zu seinem Effekt käme!

Frau Belzig empfing den großen Mann mit äußerster Zuvorkommenheit. Sie liebte die Litteratur nicht, am wenigsten die persönliche mit ihrem Neid und ihren Honorargesprächen, aber sie wollte sich nicht außerhalb der Mode stellen und sich diese Berühmtheit für ihren Salon erhalten. Ihr Gatte stellte die Officiere vor. „Herr Kunde – Herr von So und So – Herr Kunde – Herr Lieutenant von X.“ – u. s. w. Höfliche Verbeugungen, weiter Nichts. Keiner der Officiere schien den berühmten Namen zu kennen – wie war das möglich? Wolfgang Kunde machte gar keinen Eindruck und war ganz empört.

„Kunde – Kunde wieso? Wer ist dieser – Kunde?“ fragte später einer. „Ein Dichter,“ hieß es ironisch, „jedenfalls ein gelungener Kunde!“

Herr Kunde war außerordentlich gereizt, und er zog sich an einen Thürpfosten zurück, wo er in erheuchelter Bescheidenheit, aber mit fanatischen Augen Pose stand. Seine Frau aber begann unter den Officieren zu werben und ihnen von der Berühmtheit und den Werken ihres Gemahls in ihrer unermüdlichen geschickten Weise vorzuplaudern. Sie ließ dabei alle Koketterien ihrer pikanten Persönlichkeit spielen. Die Officiere fanden sie reizend, viel zu schade für diesen – Kunden!

Endlich – endlich war Melitta’s Sehnen gestillt! Eff’s hohe Gestalt tauchte hinter einer Gruppe neuer Gäste auf, funkelnd in seiner neuen Uniform, strahlend vor Glück und Freude. Er hatte nichts von dem Kompromiß erfahren, dem er sein Glück zu verdanken hatte, und Frau Belzig wollte ihn auch nichts entgelten lassen. Was kann er dafür? Was kann der Aermste für seinen Namen? Wie liebenswürdig er war, mit welch’ herzlicher Grazie [291] er seiner Schwiegermutter die Hand zu küssen verstand! Was, er sollte nicht zu erweichen sein, er sollte nicht dazu zu bringen sein, das unausstehliche Ding von einem Buchstaben gegen einen wirklichen Namen umzutauschen?

Eff eilte nach der Begrüßung seiner Schwiegermama auf seine Braut zu, doch der beabsichtigte Handkuß kam nicht zur Ausführung, er ward durch ein inniges Willkommen Lippe auf Lippe ersetzt. Die jungen Damen fanden mit jenem eigenartig übertriebenen Lächeln des Neides die Scene überaus reizend.

„Wo ist denn der Herr Schwager? Noch nicht da?“ wandte sich Eff an Lolo.

„Das Glatteis,“ lächelte diese etwas gezwungen, mit einem Zucken ihrer prächtigen Schultern.

„Das Glatteis,“ warf Perkisch mit der unbestimmtesten Betonung, aber mit einem halb unwilligen Blinzeln seiner farblosen Wimpern hin, als er von Frau Belzig wiederholt nach dem Verbleib des Grafen gefragt wurde.

Natürlich nur das! beruhigte sich die Fragende. Uebrigens ist ja Eff auch erst vor einer halben Stunde erschienen.

„Baptiste, servez le thé à monsieur Perkisch,“ rief sie mit dem Fächer winkend dem rastlosen Burschen zu, dessen purpurrother Uebereifer Heiterkeit zu erwecken begann. Dieser Baptist war eine ganz hübsche Errungenschaft, und die paar französischen Redensarten, die man gelegentlich in aller Nonchalance fallen lassen konnte, gaben dem einsprachigen Einerlei immerhin eine kleine Würze.

Teufel! sagte sich Perkisch, den Zucker in der Theeschale umrührend, der Graf wird doch keinen Unsinn machen? Er wird doch nicht die ganze Affaire durch einen seiner Streiche über den Haufen werfen! Man darf ihn nicht aus den Augen lassen – mein Gott, und er wäre doch alt genug, um sich selbst zu beaufsichtigen! Noch nie hat ihm ein Anderer solche Mühe und solchen Schweiß gekostet. Aber es ist das Glatteis – er wird schon heil hereinsegeln!

Bald hatte sich Perkisch an einen der Officiere festgehakt, dem er über die ersten gleichgültigen Gesprächsstoffe hinweg von den Vorzügen einer reichen einzigen Tochter, die er kannte, zu erzählen begann. Der Vater hat eine großartige Leim- und Gelatinfabrik vor dem Frankfurter Thor, er legt der Tochter sofort Hunderttausend als Hochzeitsgeschenk auf den Tisch. Der Officier blinzelte ironisch, strich sich aber mit einer eigenartig lüsternen Unruhe den Schnurrbart.

„Ze … ze … ze …“ Der Oberstlieutenant trippelte mit seinen kurzen, strammen, durchgedrückten Schrittchen auf das Brautpaar hin, die Hände, in deren einer er ein Paar flach zusammengelegte Militärhandschuhe hielt, wagerecht ausgestreckt. „Meine ergebenste … ze … ze … ze … meine herzlichste Gratulation!“

Er hatte Melitta wie der Familie schon bei einem besonderen Besuche gratulirt, Eff aber nicht getroffen. Nun schüttelte er dem Brautpaar gleichzeitig herzhaft die Hände. Dann Melitta’s Hand loslassend, umfing er mit seinen beiden Eff’s Rechte, ganz wie damals, als er sich unter dem vergoldeten Stiefel in der Derfflingerstraße den beiden Officieren empfahl. Sein ganzes Wesen strahlte von einer innigen Fröhlichkeit.

Niemand hatte sich mehr über die Verlobung gefreut, als er. Eff’s Adoption war sein Traum bei Tag und Nacht geworden. Nun schien sie gesichert und der kostbare Name geborgen. Nun hatte auch Olga ihren Hort gefunden, wenn er selbst zur großen Armee abrücken würde.

Da kam der liebliche Schmetterling herangeflattert. Wo Olga erschien, verbreitete es sich wie eine freundliche Sonnenstimmung, und vor ihren großen blauen Kinderaugen zerschmolzen die grämlichsten Gesichter und die ödesten Gespräche. Sie war in ein neues duftiges, zartblaues Kostüm gekleidet – „ihr Kostüm“, von dem sie Monate lang ihrem Papa vorgeplaudert; wie viel späte Abende der anstrengenden mechanischen Arbeit am Kolorirtische hatten dazu gehört, damit der Traum dieses Kostüms endlich in Mousselin und Spitzen zur Wirklichkeit wurde! Sie hatte sich vorgenommen, besonders heiter zu sein, sie, die immer Heitere, und sie begrüßte das Brautpaar mit ihrem herzigsten Geplauder. Freilich, ihre Röthe, von der sie selbst wie von einem schlimmen, unsichtbaren Leiden zu sprechen pflegte, vermochte sie nicht zu unterdrücken – es war ein Gedanke, der sie ihr immer wieder auf die Wangen trieb: ihr Bruder – ihr zukünftiger Bruder! Auch sie hatte in den stillen Stunden der Arbeit sich immer tiefer in diese Adoption hineingelebt. Sie wollte ihn fortan nur mit den Augen einer Schwester betrachten, ja sie gelobte sich insgeheim, ihnen beiden eine treue Schwester zu werden.

Der gerade Eff aber mochte wohl in seinem Glücke nicht ahnen, welch’ ein Gewebe verschiedenartigster Gedanken, Gelüste und Intrigen den alten guten, ehrlichen Namen seiner Väter immer zudringlicher zu umstricken begann.

Eff und Melitta bewegten sich nun durch die Reihen der Gäste, die offenen wie die stummen Huldigungen der Worte und Blicke entgegennehmend. „Welch ein herrliches Paar!“ flüsterte die aufrichtige Bewunderung und tuschelte die Heuchelei des Neides.

Frau Belzig aber wollte Nichts von dieser Herrlichkeit wissen. Es war ja fast wie eine Kour, welche die Beiden entgegennahmen. Die Rolle gebührte doch dem andern Paare! Aber wo blieb er? Wo steckt er? Wir sind zwar bloß Belzig, aber es ist doch seine Braut! Es ist doch sein Verlobungstag – er hätte längst hier sein können! Und eine Ahnung dämmerte in ihr auf, daß sie von dieser Neungezackten noch manche Ueberraschung zu gewärtigen hätten. Unterdeß ließ Herr Belzig nochmals Sand streuen als gelänge es dadurch, den Säumigen herbei zu locken.

Es war das Glatteis. Noch immer wollte sie sich damit beschwichtigen, aber mit jedem Oeffnen der Thür, da er sich immer noch nicht einstellen wollte, nahm die Röthe des wachsenden Unmuths auf ihrem Gesicht um eine Nüance zu. Die Räume hatten sich gefüllt und das Glatteis hatte eigentlich seine lächerliche Rolle ausgespielt. Man mußte es nun künstlich, so zu sagen, immer wieder aufwärmen, um das Nichterscheinen des Grafen zu masciren. Selbst Eff äußerte sein Befremden, daß Jener nicht erscheinen wollte. Der Schwager erfreute sich nicht seiner Sympathie. Die Erregtheit dieser Tage hatte zwar einen leidlich kordialen Verkehr zwischen ihnen hervorgerufen. Er bedauerte jedoch Lolo; denn Mühüller’s Andeutungen betreffs der zweideutigen Rolle Perkisch’ beunruhigten ihn.

Immer noch trafen neue Gäste ein, Persönlichkeiten ohne besondere Bedeutung, es folgten auch einige glänzende Nummern, doch der Haupttreffer blieb aus. Die Generalsfamilie erschien; er graufarbig und steinern, nur die Worte höflich, nicht das Gesicht, sie eine schmächtige gelbliche Person, voll Ballmütterangst ihr stark abblühendes Töchterchen hütend.

Eine andere Glanznummer war eine bekannte Sängerin von berauschender Schönheit und möglichst tief ausgeschnittener Taille. Sie verursachte einen Aufruhr bei den Herren, die sich herbeidrängten, um das klassische Wunderstück ihrer marmornen Schultern zu bewundern. Einige der Besitzerinnen von Töchtern wandten sich mit Empörung ab über den „Skandal“.

Unter den Nachzüglern befand sich auch Adolf Eff nebst seiner Frau. Der Generalstäbler stellte ihn halb unwillig zur Rede über sein Zuspätkommen.

„Meinst Du denn, es wäre ein Leichtes gewesen, einen Frack für mich aufzutreiben bei dem Glatteis?“ antwortete ihm der Erfinder grinsend.

Und seine arme kleine tapfere Frau, der die Noth und Sorge fahl genug aus dem ehemals wohl hübschen Gesichte sah, bestätigte mit ihrer gedrückten Stimme, wie sie seit halb neun Uhr von Geschäft zu Geschäft, förmlich mit Lebensgefahr „bei dem Glatteis“, gerutscht, um einen passenden Frack für Adolfs breite Schultern aufzutreiben. Sein eigener Frack war zum Besten eines Patents in Buenos-Ayres längst versilbert worden. Das ganze Elend des Erfinders in seiner schönsten Blüthe!

„Na, Dein Schwager-Graf ist doch auch noch nicht da!“ fügte Adolf trotzend hinzu.

„Schwager-Graf“ – Walther runzelte die Stirn wegen des unangenehmen Ausdruckes und wandte seinem Bruder den Rücken.

Immer noch keine Spur von dem Grafen! Die Unruhe des Gastgebers begann sich den Gästen mitzutheilen; man munkelte; hämisch neugierige Blicke flogen nach Lolo hinüber, die sich aber tapfer hielt und nur übertrieben lebhaft lachte und plauderte.

Perkisch fing nun auch an, aufgeregt zu werden. Er hatte den Vertrieb der einzigen Gelatinfabrikantentochter einstweilen [292] aufgegeben; er schlich rathlos umher, und man sah ihn mit den Belzigs geheimnißvoll tuscheln: was wohl zu thun wäre? Ob man Boten nach ihm wie nach einem im Walde Verirrten aussendete? „Er ist hoffentlich nicht verunglückt, gestürzt bei der Glätte und hat sich ein Glied zerbrochen!“ beschwichtigte Perkisch. Aber es war nicht das, was er besorgte. Es war das Glatteis eines unverantwortlichen, unbegreiflichen Leichtsinns, auf dem jener ausgeglitten sein mochte. Man hätte ihn keine Minute allein lassen sollen!

Wenn durch diese Rücksichtslosigkeit die Verlobung zurückginge! Es wäre empörend! Und Perkisch berechnete, welchen Verlust das für ihn bedeutete: nicht allein den Verlust an Provision, sondern auch die moralische Einbuße, die seine geheime Specialität bei allen ähnlich Geschäftslustigen erlitte. Viele, die ihn stier berechnenden Blickes umherschleichen sahen meinten, es wäre seine andere Specialität, die Poesie des zu haltenden Toastes, über der er also grübelte.

Aus der Küche kamen alarmirende Nachrichten. Der für den Abend engagirte Chef drängte wie ein großer Künstler, der nun lange genug gewartet und endlich aufzutreten wünschte.

Herrn Belzig stach eine für solchen Moment geradezu verbrecherische Schadenfreude, die Verlegenheit und die Qual seiner Gattin noch zu steigern.

„Da hast Du’s – da hast Du die Bescherung!“ raunte er ihr über die Schulter zu. „Du erinnerst Dich wohl des famosen Falls in Budapest vorgestern in der Zeitung?“

Es war eine Skandalgeschichte – ein Magnat, der kurz vor der Trauung, als man schon in der Kirche versammelt war, Braut und Priester und Alles im Stiche ließ.

Frau Belzig antwortete mit einem wüthenden verachtenden Blicke rückwärts über die Schulter hinweg und rauschte davon, um ein paar Nummern des Koncerts einzuschieben, das programmmäßig erst nach dem Souper einsetzen sollte.

Die hohen Wimmertöne einer renommirten Geige lenkten noch eine kurze Weile die Aufmerksamkeit von dem Bräutigam ab, welcher auf dem Glatteis verunglückt war, – die Parole, die Perkisch hatte verbreiten müssen. Man saß und horchte mit dem erheuchelten Ausdruck der Spannung, aber bald hatte man nur wieder Augen für die Belzigs und ihre skandalöse Verlegenheit. Lolo war dem Weinen nahe, aber mit großer Energie bewahrte sie ihre lächelnde Miene.

In einem der hinteren Salons unterhielt sich der General, unbekümmert um das Koncert, überlaut mit der berauschend schönen Sängerin, die mit breiten, flach aufgebügelten Haarsträhnen bedeckte Glatze tief herabgebogen auf deren Schultern zum Aerger der Lieutenants, die machtlos waren, ihn aus dieser Position zu verdrängen.

Da öffnete sich die Vorsaalthür weit – endlich! Und Alles athmete erleichtert mit Frau Belzig auf.

Ein paar Augenblicke der Spannung, dann stolperte ein semmelblonder Herr, mit einem überaus glänzenden Ding von einem Orden am Halse, herein. Die Meisten, die das Phänomen des gräflichen Bräutigams noch nicht von Angesicht gesehen, hielten den Ankömmling für den sehnlichst Erwarteten, allein schon des Ordens wegen. Allgemeine Erregung.

Frau Belzig war wüthend. Wer war es? Einfach ein Gymnasiallehrer, der einem japanischen Prinzen die Elemente der deutschen Sprache beigebracht und dafür diesen Orden erhalten hatte.

Der Aermste war sehr verlegen und stotterte unbekümmert um das Adagio der Musik seine Entschuldigung über sein spätes Eintreffen.

„Bitte, bitte!“ fuhr ihn Frau Belzig zornsprühend an. Es klang fast wie: „Scheeren Sie sich doch gefälligst wieder hinaus!“

Der Geiger stockte ganz kurz über diese Störung und schwor, weiter fortfahrend, bei solchen Leuten nie wieder zu spielen.

Es gab eine peinliche Stille, nur das ärgerliche Tremulo des beleidigten Instrumentes. Plötzlich platzte Tante Mala, den komplicirten guttapertschenen Hörapparat an die Stelle ihrer Haube haltend, unter der ihr Ohr saß, laut mit der komisch jammernden Frage heraus:

„Warum kommt er denn nicht?“

„Das Glatteis!“ flüsterte ihr Melitta ängstlich beschwichtigend zu.

Aber jene verstand nicht. „Wieso? Was – Wer?“

„Das Glatt … eis – Tante!“

Man hatte Mühe, das Kichern und Lachen zu unterdrücken.

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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 19, S. 305–310
[305]
9. Verstaucht.

Man konnte nicht länger warten. Ein energisches Ultimatum des Küchenchefs, durch Friedrich’s diplomatische Form gedämpft, stellte das Fiasko eines verpfuschten Soupers in sichere Aussicht. Man brach eben auf, und die Herren durchkreuzten nach ihren Damen suchend die Salons; da kam ein Brief an.

Frau Belzig fiel es wie ein Alp vom Herzen. Sie war ganz glücklich. Gottlob, der Graf war wirklich auf dem Glatteis verunglückt! Gottlob, nichts Anderes! Hatte denn ihres Gatten Hinweis auf den Budapester Skandalfall sie so alarmirt?

Allgemein war der Ausdruck des Bedauerns; man umdrängte die Belzigs und die verlassene Braut. Aber das Bedauern ward zu einer Verwunderung über Frau Belzig’s freudestrahlende Miene, die sie nicht zu bemeistern vermochte. Gottlob, so hielt sie noch einmal diese Grafenkrone! – Hatte sie sich doch zuletzt der Angst nicht mehr zu erwehren vermocht, daß das kostbare Ding ihr dennoch entschlüpfen könnte.

„Nur eine leichte Verstauchung!“ sprach sie, ihre räthselhafte Glücksmiene erläuternd. Der Graf hätte immer noch kommen wollen, aber es wäre ihm nicht möglich gewesen, ein Schuhwerk anzulegen. Man beglückwünschte sie, daß es nichts Schlimmmeres war, und dachte mit Schrecken an den eigenen Nachhauseweg.

Auch Lolo fühlte sich wie erleichtert, als wenn auch sie vorhin eine schwere Ahnung bedrückt. Der Budapester Skandal lag wie ein gespenstischer Schatten über dem Fest. Der Hauptmann prüfte das Schreiben mit gerunzelten Brauen, als wäre es irgend eine schwierige taktische Aufgabe. War denn das nicht glaubwürdig?

„Ich weiß nicht,“ murmelte er vor sich hin, als Perkisch ihm das Papier aus der Hand nahm, „ich weiß nicht, eine Verstauchung … ich würde mich doch hierher haben tragen lassen, ehe ich ihnen Allen das Fest verdorben hätte!“

Perkisch war am wenigsten beruhigt. Er traute durchaus nicht, stand in einer Fensternische und studirte den Brief. Mehr ein Wisch, in einem Restaurant mit schlechter Feder hingekritzelt, nicht einmal von des Grafen Hand, ein unleserlicher, aber sehr pompöser Namenszug darunter. „Ein unerhörtes [306] Pech“ – das unfashionable Wort stand dort, in der Hast entschlüpft. Man möchte sich seine, des Grafen, „fabelhafte Verlegenheit“ vorstellen u. s. w.

Es ist nicht wahr! Das Schreiben ist eine Lüge! Und Perkisch’ brennende Augen forschten in dem Gekritzel der Zeilen, als müßten sie den wahren Grund des Fortbleibens herausstöbern. Irgend etwas Anderes, jedenfalls nichts Gutes! Irgend eine Dummheit, die ungeheure Blamage einer moralischen Verstauchung! O seine wundervolle Provision! Aber er würde sich künftig auf eine schlauere Weise sicher stellen! Fast mit einer Gebärde der Drohung zerknitterte er den Brief.

„Herr Perkisch …“ Es war die dicke Frau Voltz, die hinter ihm stand und mit einem scherzhaften Kinderknix in die steife Seide ihrer Robe hineinraschelte. „Ich habe die Ehre, von Ihnen zu Tisch geführt zu werden, Herr Perkisch.“

„Ah, Pardon, gnädige Frau!“

Der Saal war schon leer; hinten am Ende der Zimmerflucht sah man die Rücken der letzten Paare, die im Speisesaal verschwanden. Eilig bugsirte Perkisch die starke Dame durch die Portièren.

Aber man kam noch früh genug. Das Ausbleiben des Grafen hatte eine kleine Umänderung in der Sitzordnung der Gäste nöthig gemacht. Man wollte den Platz des Bräutigams doch nicht wie den für einen etwa zu erwartenden Geist leer lassen. Auf einen rathlosen Wink des Herrn Belzig griff Mühüller zu und löste die entstandene Verwirrung, indem er mit der findigen Schnelligkeit, mit der er wohl eine Truppe zum Dienst abtheilte, die Gäste auf ihre Plätze mehr kommandirte als hinwies. In der Eile gab es verschiedene kleine Mißgriffe – aber was that es? Man saß doch endlich. So war der berühmte Dichter Kunde zwischen die taube Tante Mala und einen von Gesundheit strotzenden Boxer gerathen, der ausschließlich von Jagd und Jägerei zu sprechen pflegte und jedem, der es hören wollte, am liebsten solchen Milchsuppengesichtern gegenüber, sich gern brüstete, daß er seit der Kriegsschule kein Buch mehr angerührt. Es bedurfte der fortwährenden beschwichtigenden Blicke von Seiten seines Engels von Gemahlin, um den empörten Dichter zu beruhigen.

Bald erhob sich der Herr General und hielt mit steifer Würde den ersten Toast; das Herkömmliche, aber mit schneidiger Befehlsstimme vorgebracht. Und das Klingen und Schallen der Gläser schien endlich den Schatten verscheuchen zu wollen. Man wollte lustig sein! Man wollte sich amüsiren! So wurde an dem Filialtisch der jungen Herrschaften dekretirt. Mühüller und Olga, die hier das Präsidium der Fröhlichkeit übernommen, gaben diese Losung aus. Beide fanden sich gern zusammen, seine drastische Komik und ihre aus dem Herzen sprudelnde Heiterkeit ergänzten sich. Ja, wäre Olga nicht die mittellose Tochter eines Pensionärs gewesen und hätte Mühüller nicht bei jeder Gelegenheit geschworen, sich lieber todtzuschießen als eine Kommißheirath zu machen, so hätte man bei ihm fast eine tiefere Neigung für das niedliche Freifräulein vermuthen können.

Man meinte, Hauptmann Eff, der zwischen den beiden Sternen saß, hätte an einer Braut genug und man müßte das „Strohbräutchen“ (es klingt zwar nicht gut, ist aber doch „echt“!) aus der officiellen Langeweile des Haupttisches absondern und hier an der lustigeren Unterhaltung theilnehmen lassen. Nach dem dritten Toast zwang man Lolo, den Platz zu wechseln. Das arme Kind! Es that wohl, sie nun an dem anderen Tische mit den jungen Leuten lachen zu hören und die Wolke, die sie vergeblich von ihrer Stirn zu scheuchen versuchte, im Sonnenschein der Fröhlichkeit verschwinden zu sehen.

Die Toaste folgten sich nun in kürzeren Pausen. „Natürlich wird doch der berühmte – Kunde auch seine Rede vom Stapel lassen,“ meinte einer der Lieutenants. „Wozu ist er Dichter?“

„Er redet nie – schweigt aber sehr wirkungsvoll,“ erwiederte Mühüller und meinte, er hätte die Wendung selbst erdacht.

Die ästhetische Generalstochter warf ihm aus ihren wassergrauen Augen einen spitzen Blick zu.

„Na, wenn Sie das Schweigen nennen –“ Und der halbe Tisch horchte hinüber. Wolfgang Kunde schimpfte in Tante Mala’s Guttapertscha-Apparat hinein mit lauter, fast drohender Stimme über Hülsen und die empörend miserablen deutschen Theaterzustände. Es sah aus, als bliese er mit wüthender Anstrengung irgend ein schwieriges Instrument. Tante Mala war ganz verblüfft vor Staunen. Vergebens flehten die Blicke von Frau Kunde, daß er sich mäßigen möchte.

Perkisch’s knochige Finger spielten mit Brotkügelchen und mit grinsendem Lächeln horchte er auf Frau Voltz’ unaufhörlich tröpfelnde Unterhaltung. Er machte gar keine Anstalten zum Reden und schien die Blicke von Frau Belzig, die ihn gleichsam in allen Tonarten und mit steigendem Unwillen aufmunterten, nicht zu beachten. Sein Effekt war dahin. Er hatte den schwungvollsten und herrlichsten Toast gedichtet, der je über eines Mannes Lippen geflossen. Nun machte ihm dieser – einen so schändlichen Strich durch die Rechnung! Er gedachte ein Meisterstück der Toastkunst aufzustellen, und er wollte sich selbst übertreffen. Nun paßte nichts mehr, und er mußte einen ganz elenden Lückenbüßer einschieben. Ein wahrer Hohn, von Glück und Seligkeit zu sprechen, während seine Siebentausend Provision jeden Augenblick auf dem Glatteis ausrutschen können!

Aber sein Ruf als Tischredner stand auf dem Spiel. Er würde sich doch nicht verblüffen lassen! Er hatte schon Schwierigeres improvisirt. Ein wilder Humor befiel ihn plötzlich, hastig stürzte er den Inhalt eines Römers hinab: meinetwegen – wenn sie denn ihren Toast haben müssen, so will er sie mit Glück und Seligkeit und rosigem Himmelssegen überschütten, so viel sie dessen begehren; bis an den Hals will er sie damit vollstopfen, diese Idealitätsnarren!

Er tippte ans Glas, als erstes Signal, das Gespräch ringsum versickerte, aber der General überhörte das Signal und fuhr fort, sich über den Tisch hinüber in ausgesuchtester Galanterie mit der berauschend schönen Sängerin zu unterhalten. Ein zweites stärkeres Tippen – aber Adolf Eff’s Stimme hob sich erst recht deutlich aus dem allgemeinen Schweigen; der Erfinder war gerade dabei, die kalte Luft seines Aspirators durch ein verwickeltes System von Röhren und Ventilen, das er mit Zickzacklinien in den leeren Raum konstruirte, hindurchströmen zu lassen. Endlich brach auch er ab. Perkisch erhob sich, stand dort mit emporgezogenen eckigen Schultern, die Augen halb geschlossen wie ein affektirter Prediger, die Hände mit den leicht gespreizten Fingern lose wie zum Klavierspiel auf die Tischplatte gesetzt.

Er holte weit aus vom Frühling, von den zärtlich erweckenden Sonnenküssen und der Sehnsucht aufknospender Blüthen. Dann setzte er mit einem kühnen Sprung mitten in die Liebe hinein. Sein Kopf hob sich aus den Schultern, seine Augenschlitze öffneten sich und über das ungewisse, wie in einer bestimmten Charakteristik ausgeprägte Gesicht huschte ein Glanz wie von wirklicher Begeisterung. Es war ein feuriger Dithyrambus der wahren, der echten, der uneigennützigen Liebe. Er ließ einen Perlenregen zuckersüßer Gefühle herniederträufeln, er badete in Himmelsharfenklängen und beleuchtete die Seligkeit der Liebe mit den herrlichsten bengalischen Flammen.

„Das ist ja, um schwindlig zu werden,“ flüsterte einer der Herren am Filialtisch.

„Passen Sie nur auf, es kommt noch besser,“ schien Mühüller’s Wink zu antworten.

Die Damen saßen mit verzücktem Lächeln da; in den effektvollen Pausen, die der Redner sich für die Wirkung seiner Worte gönnte, hörte man fast den Schaum des Champagners prickeln, der von den behutsam umherschleichenden Dienern eingeschenkt wurde.

Und es kam noch besser, packender, ergreifender – Thränen wollte Perkisch sehen, Thränen sollten fließen! Er war so voll Zorn und Aerger über die Siebentausend, die ihm sicher davon rutschen würden, daß er sich Luft machen mußte, ja daß er sich selbst betäuben wollte mit seinen schallenden Worten.

Da zog er das Register der Rührung auf. Wie sinnig, wie innig, wie hold und lieblich wußte er das kreuzweise Neigen und Sehnen der beiden Herzenspaare zu schildern – wie ließ er den Jubel der endlichen Erfüllung dahinbrausen!

„Der Gauner! Der Kuppler!“ entfuhr es Mühüller.

Und dann die Bilder der Zukunft, die er vor den Augen der Gäste in rosiger Theaterbeleuchtung auftauchen ließ! Die meisten der Damen vermochten sich der Rührung nicht zu erwehren; Frau Belzig kämpfte längst mit den Thränen. Auch Melitta’s Augen glänzten feucht, Walther hielt offen vor aller Welt ihre Hand auf dem Tisch umfangen.

Natürlich mußte auch des Unglücks gedacht werden, der Schlußeffekt sollte dann mit dem allgemeinen Toast in einer [307] Huldigung für Lolo gipfeln. Eben, nach einer Pause, während welcher die Finger ein paar großartige Oktaven auf dem Tischtuche griffen, schickte sich der Redner an, seinen Zorn über die ungeheuerliche Tücke des Schicksals auszugießen, die den „erlauchten Bräutigam“ (wie schön das klingt!) aus dem Kreise der Glücklichen bannte und ihn auf dem Schmerzenslager in Ungeduld und Sehnsucht sich winden ließ – da hallten Stimmen vom Ende der Zimmerflucht her. Friedrich huschte, die Champagnerflasche in der Hand, in die Thüröffnung, um nachzusehen, wer hier in solch weihevollem Momente zu stören wagte – gleich darauf aber wich er mit einer plötzlichen sehr bedeutenden Verkleinerung seines linken Auges zur Seite. Dumpfe Tritte näherten sich auf dem Teppich – eine Faust, die einen verzogenen und verpreßten weißen Handschuh umfaßt hielt, schob den herabgebauschten Hang der Portière zur Seite und – da war er!

Wer denn? – Nun, natürlich er – der auf dem Glatteis Verunglückte, der durch die ungeheuerliche Tücke des Schicksals aus dem Kreise der Glücklichen Ausgeschlossene – erstanden von seinem Schmerzenslager! Jedenfalls hatte ihm die Sehnsucht keine Ruhe gelassen …

Mit der harmlosesten Miene seines flaumbedeckten Kugelkopfes stand er da, verwunderter denn je mit seinen runden gewölbten Augen in die Scene hineinguckend. Ein paar Mal blinzelten die Wimpern wie die eines Kindes, das man eben aus dem Schlafe gerissen. Auch die starke Rosaröthe, die das Antlitz bedeckte, konnte von solchem gewaltsam aufgestörtem Schlafe herrühren; der sonst so elegant geschwungene und zugespitzte Schnurrbart war an seinen Enden besenartig zerzaust. Das brünette Habichtsgesicht eines langen Herrn tauchte hinter dem Kugelkopfe auf.

Er –! Allgemeine Erstarrung – sie hatten ihn eben noch in Sehnsucht und Unruhe sich winden sehen, den Aermsten! Da stand er, hergezaubert wie eine Erscheinung, wie heraufbeschworen durch Perkisch’ Redegewalt.

„Famos!“ – Ein sehr ausdrucksvolles, vieldeutiges „Famos“ von dem Filialtische her fuhr in die Stille hinein.

Und der Ausruf löste die Erstarrung. Nun, was ist denn? Er hat sich aufgerafft und den Schmerz verbissen – das, was der Hauptmann von ihm verlangt hatte. Warum saß dieser wie versteinert, das flammenrothe Antlitz mit zornigen Augen auf den Ankömmling gerichtet?

Es ist mehr als die Verstauchung! Er ist, er ist … wir Officiere haben einen Blick für dergleichen – Menschlichkeiten! Die schlaftrunkenen blinzelnden Augen, die Rosaröthe, der struppige Schnurrbart, die ganze widerliche Naivetät der Erscheinung – Teufel, er hätte für diesen Fall doch wegbleiben sollen, er hätte die Verstauchung, wenn überhaupt eine solche stattgefunden, aufrecht erhalten sollen! – Aber keine Moral! Er ist da – die Ehre des Hauses steht in Gefahr – man darf kein Wesen davon machen – man muß die Sache durch Harmlosigkeit zu vertuschen suchen!

Und Walther erhob sich.

„N’Tag, ah, da sind Sie ja, mein lieber Schwager!“ rief er laut. „Sie kommen gerade zum Toast zurecht!“

Perkisch hielt den Kopf in der affektirten Pose des Redners noch immer nach hinten geneigt und seine geöffneten Lippen wiesen die häßlichen, lückenhaften Zähne; die klavierspielenden Finger hielten inne. Jetzt erst wußte er, daß Alles vorbei sei, daß seine Siebentausend wirklich davongerutscht. – Was? Der Mann stolpert ja – aber es ist nicht der verstauchte Fuß – jetzt, wie er die Hand von Frau Belzig fassen will, um sie zu küssen, greift er daneben in die Luft. Verdammt – der Kerl ist ja betrunken! Das war zu viel!

Mit der Betrunkenheit war es doch nicht so schlimm, wie der Hauptmann und Perkisch glaubten. Es kam dazu nur ein hochgradiger Anfall von Verwirrung, die ihn hier in dem lichtdurchflutheten Saale, im Feuer all der Augen und neugierigen Mienen ergriffen.

Frau Belzig klammerte sich ganz verzweifelt an die Grafenkrone. Auch das wird man noch verwinden und vertuschen können! Mit ihrem Spitzenbattisttuche die Spur der Rührungsthränen von vorhin von den hochroth erhitzten Wangen tupfend, erheuchelte sie große Freude: „Welch eine freudige Ueberraschung, daß Sie dennoch gekommen, Herr Graf! Gott sei Dank, daß es doch nicht so schlimm gewesen …“

„Es geht, es geht – danke, danke –“

Er hätte zwei Stunden gebraucht – zwei Stunden hätte er gebraucht – stammelte er. Wozu denn? Es kam nicht heraus.

„Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen meinen Freund – Herrn M… vorstelle.“ Ein ausbrummendes M., weiter verstand man nichts.

Man hatte sich erhoben, die Schadenfrohen jauchzten innerlich vor Freude: welch ein herrlicher Skandal!

Herr Belzig stellte den Freund des Grafen vor. „Herr M…“ und das unverständliche Gebrumm.

„Mein Gott! nicht einmal ein von!“ jammerte Frau Belzig in sich hinein. „Ein simpler M!“

Und Lo? Und Lo?

Auch an dem Tisch der jungen Leute hatte man sich erhoben. Nur sie allein war sitzen geblieben. Sie war blaß wie Marmor und marmorn der Ausdruck ihrer Miene. Nur unter dem Schatten ihrer halbgesenkten Wimpern hervor lohte es mit zornigen Flammen. So, gerade aufrecht sitzend, das Gesicht ins Leere gerichtet, als ginge sie das Alles nichts an, erwartete sie ihn.

Und nun, da er dicht vor ihr stand und im Begriffe war, ihre Hand zu fassen, ward der starre Ausdruck plötzlich wie mit einem Ruck in ein Lächeln, ein äußerliches Pflicht- und Scheinlächeln, das der Kodex der guten Gesellschaft vorschrieb, umgewandelt, fortan den ganzen Abend über verließ es ihr Antlitz nicht mehr, dies Lächeln, es schien ebenfalls aus Marmor gemeißelt.

Sie fühlte ihre Hand zittern zwischen seinen Fingerspitzen. Das Zittern theilte sich ihr nur von seinen Fingern mit, ein so häßliches Zittern, das ganz irgendwo anders herzurühren schien, als von der Erregung dieses Augenblicks, sie fühlte es.

„Lo …“

Nicht ihren Namen! Nicht das! Nicht aus seinem Munde!

Sie zuckte zusammen. Langsam entzog sie ihm ihre Hand. Und ganz wie es der Kodex der Gastlichkeit gebot, begann sie sich mit ihm in kühler Gleichgültigkeit zu unterhalten. Man hörte sogar das nervöse Staccato ihres Lachens, aber sie zwang ihn dabei, den verschwommenen Blick seiner Augen fortwährend gesenkt zu halten – nieder mit dem Blick! nieder vor der unverwandten Beharrlichkeit ihres großen, weiten, richtenden Auges!




10.0 Ein guter Rath.

Er hatte ja auch Alles aufgegeben: den Goldfisch, die Heirath, Alles. Er war ja auch nicht gekommen, um noch einmal die erbärmliche Schwäche dieser Menschen, die den Namensgötzen anbeteten, auf die Probe zu stellen, sie noch einmal mit dem Glitzern seiner Grafenkrone zu hypnotisiren.

Er hatte sich selbst aufgegeben, nach dem was geschehen. Nicht der Rausch, nicht das Zuspätkommen, bagatelle Vergehen gegen die Spießbürgerlichkeit der Lebensart, sondern viel Schlimmeres. Eine dämonische Lust zur Selbstbuße hatte ihn erfaßt, und er hatte der Katzenjammeridee nachgegeben und war erschienen. Vielleicht ein Rest von Anstand, der auch noch unter diesem Wust von Leichtsinn und Verwerflichkeit sich regte und der ihm gebot, hinzugehen und ein Wort der Entschuldigung zu stammeln für das, was geschehen, und das, was noch kommen mußte. Dann wollte er zur Seite schleichen – wohin? Ah, er hätte auf seinem Vorwerke bleiben, er hätte seine gar nicht so üble Wirthschafterin heirathen und sein Leben lang Gänse mästen sollen! Die Berliner Luft hatte ihn überwältigt; er war nicht zu retten, es war das Ende!

Es war eine sehr fragliche Rolle, die er den Rest des Abends über spielte. Aber er fühlte das Alles nur wie durch eine Dämmerung. Viele dieser Leute redeten mit ihm, aber es geschah mit so erzwungener Höflichkeit. Die meisten mieden ihn und gingen um ihn herum, wie man in Castan’s Panoptikum die tätowirte Sehenswürdigkeit eines ausgestellten Wilden, der von seinem Podium unter das Publikum herabgetreten ist, umschleicht. Ein paar Mal gerieth er unter die Officiere, diese hieltet ihn jedenfalls zum Besten mit dem vieldeutigen Jargon ihrer Anzüglichkeiten. War er denn betrunken oder war er [310] es nicht? All’ sein Denken fühlte er wie mit zähen Spinnweben umsponnen.

Der Hauptmann hatte ihn anfangs nicht aus seiner Obhut gelassen. Mit der Aufbietung alles Humors, dessen er fähig war, suchte er zu vertuschen und einzulenken und der Sache ihren harmlosen Charakter zu wahren. Er rettete ihn vor den Officieren die ihn mit verbrecherischem Uebermuth von Neuem zum Trinken zwingen wollten. Er erinnerte ihn alle Augenblicke an seinen verstauchten Fuß, damit diese Heuchelei wenigstens aufrecht erhalten bliebe, und nöthigte ihn zum Sitzen. Aber Nachewski entschlüpfte ihm immer wieder, als fühlte er dessen sorgende Nähe wie eine Qual. Einmal hatte er Eff’s Hand ergriffen und stotterte etwas wie: „Wollen Sie mir verzeihen, Schwager?“

„Aber was denn? Aber ich bitte Sie! Ich weiß wirklich nicht!“ lachte der liebenswürdige Eff, den Verbrecher um fassend und ihn in einen Winkel des Tanzsalons geleitend.

Von all’ den Augen, die er auf sich gerichtet fühlte, die ihn verfolgten und immer wieder aufstöberten, die ihn aus den Nischen und Winkeln, in die er sich verkroch, immer wieder heraus holten – fragende, verwunderte, neugierige Augen, einige mitleidig, andere, die ihn verhöhnten, und solche, die ihn erbarmunglos an die Wand drückten: von all’ diesen Augen waren ihm keine quälender, als die Perkisch’, das sonst so ausdruckslose Etwas von Perkisch’ zwinkernden blassen Augen.

Dieser hatte es bis jetzt vermieden, mit ihm zu sprechen – aber der Graf wußte, er würde sich einstellen – seine Blicke waren schon Pein genug! Sie hefteten sich an ihn und schrieen ihm wüthend zu: „Wo sind meine Siebentausend?“ Sie begehrten Rechenschaft über das – gebrochene Wort. Perkisch hatte ihm vor wenigen Tagen noch das feierliche Versprechen abgenommen, daß er nicht mehr spielen wollte – binnen jetzt und sechs Monaten. Es mochte auf Seiten Perkisch’ durchaus kein edles, menschenfreundliches Motiv gewesen sein, was ihn dazu veranlaßte, solches Versprechen abzunehmen, sondern nur die erbärmliche Angst um die Siebentausend, aber er, der Graf hatte es nun einmal gegeben. Nun war er eine Erklärung darüber schuldig, welche unerhörte Gewaltsamkeit einen Kavalier verleiten konnte, sein Wort zu brechen …

Anfangs war er, leicht hinkend, als Simulant umhergeschlichen. Nun vergaß er auch das. Es war die Wirkung des Champagners, die verbrecherischen Lieutenants hatten ihm so massenhaft zugetrunken. Es war auch nun Alles gleichgültig! Nebenan im Tanzsaal würde er auch wohl nicht vermißt werden – ein Glück, daß die Verstauchung ihn vom Tanzen dispensirte – seine Braut tanzte mit einer staunenswerthen Emsigkeit alle Tänze durch.

Nun hatte er sich vor der spürenden Schwatzhaftigkeit einiger alten Damen, die ihn fast eine halbe Stunde lang umlagert, in die Ecke eines kleinen Boudoirs geflüchtet, das mit feuchtduftenden Treibhauspflanzen ausgeschmückt war. Auch verbreitete die rosa Ampel nicht so viel Licht, wie die brutale Helle der Gaskronen in den übrigen Räumen. Er saß halb versteckt unter dem graciös geschwungenen Blatt einer Fächerpalme; der ausgezackte Schatten des Blattes fiel über seinen flaumbedeckten Schädel und es sah aus, als hielten diesen Schädel die langen dunklen Finger einer Gespensterhand umkrallt. Von nebenan kam das vieltönige Geräusch des Ballsaales, das eigensinnige Pochen des Klaviers und die schrillen, taktscharfen Töne der Geige, das Schleifen und Schwingen der tanzenden Füße, einzelne lauter aus dem allgemeinen Summen aufhüpfende Gesprächsstücke, hier und da ein feines Auflachen. Er sah durch die Spinnweben seiner Gedanken die flimmernden Gestalten im magischen gelben Lichte schweben und im Kreise dahinwirbeln. Wie ein phantastisches Puppenspiel kam ihm das Alles vor.

Plötzlich tauchte Mühüller’s heller Blondkopf neben ihm auf, frisch, glänzend, voll strotzenden Lebens. Er hatte immer eine geheime Scheu vor des Lieutenants Spürsinn und seiner unverhüllten Redeweise, die stets auf ihr Ziel losging, empfunden. Aber dessen Augen, trotz ihrer winzigen stechenden Pupillen, waren nicht, gleich den andern, da, um ihn zu quälen. Seltsam, er fuhlte etwas wie die vertrauenerweckende Nähe eines Arztes, und er brachte es sogar zum Schimmer eines wehmüthigen Lächelns, mit dem er das vertrauliche Nicken Mühüller’s beantwortete.

Mühüller hatte die stumme, höfliche Aechtung, mit der die Gesellschaft diesen Verbrecher behaftete, geärgert. Welche Entsetzlichkeit hat er denn begangen? Er hat sich berauscht, das geschieht auch dem wackersten Biedermann – freilich war es wohl nicht der passende Tag für diesen Rausch. In dem Rausch hat er die Zeit verschlafen – warum haben die Uhren auch solch’ rasende Eile? Er hätte seine Meldung aufrecht erhalten sollen – nichts Bequemeres als dies Glatteis! Nun, er ist doch wohl noch werth, daß man ihm einmal den Puls fühlt und sich nach seinem Befinden erkundigt!

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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 20, S. 321–326

[321]
„Famoses Plätzchen das!“ begann Mühüller zum Grafen Nachewski. „Eigentlich die richtige Seufzerecke und ich wundere mich, daß sie nicht à deux besetzt ist. Wie geht’s Ihnen denn?“ Das Letztere fügte er mit gedämpfter, fast zärtlicher Stimme hinzu.

„Danke! Danke! sehr gut! ausgezeichnet!“ stammelte der Gefragte hastig und ganz verwundert.

„Tanzen natürlich nicht? Wissen Sie, wenn man nicht müßte und die Leute es nicht verlangten – aber von einem Boxer weiß man es nicht anders, als daß er seine königlich preußischen Gliedmaßen zappeln läßt wie ein tollgewordener Hampelmann.“

Und wieder mit der zärtlichen Stimme: „Sie haben Pech gehabt, Herr Graf?“

„Scheußlich! Entsetzlich! – Zweiundvierzigtausend …“

Erschreckt fuhr er zusammen vor seinen eigenen Worten. Die Zahl war ihm entfahren, wider Willen einfach von den Lippen [322] gefallen, wie einem Betrunkenen ja auch wohl ein Stock oder dergleichen aus der Hand gleitet. Er hatte die Zahl auf dem Herwege öfter vor sich hergemurmelt, und ihre Ziffern waren, während er sich mit den Andern unterhielt, wie eine gespenstische Verkörperung vor seinen Augen hin und her gehuscht. Jetzt war sie heraus – nun, aber auch das ist jetzt einerlei! Sie werden doch davon hören. Er wird die Spielschuld ja doch nicht bezahlen können und es wird – ja es muß etwas geschehen, was Allem ein Ende macht!

Mühüller machte mit dem Oberkörper eine suchende Wendung nach Jenem hinüber. Wieso? Was soll die Zahl? Was hat sie mit dem Unfall auf dem Eis zu thun? Aber gleich begann ihm eine Aufklärung zu dämmern. Mit einem angenommenen wichtigen Ton der Besorgniß sagte er:

„Sie dürfen dergleichen nicht vernachlässigen, Herr Graf; eine solche Verstauchung muß man ernst nehmen, sonst können Sie Monate daran leiden. Wir von der Turnerei verstehen uns darauf. Am besten ist Massage. Massage ist vorzüglich. Wir haben einen alten Sergeanten – ein geborener Doktor, er streicht Ihnen das Ding spielend weg. Er hat einen Daumen so breit wie ein Eßlöffel, aber er schafft Wunder damit. Darf ich Ihnen den Mann zuschicken – wo wohnen Sie doch noch?“

„Danke, danke, es wird schon von selbst vergehen.“

„Sonst recht gern!“

Plötzlich warf Mühüller in übertrieben gleichgültiger Weise die Bemerkung hin:

„Verzeihen Sie, Herr Graf, Sie nannten vorhin eine Zahl, etwas wie vierzigtausend; ich kann mich aber auch verhört haben …“

Nachewski grinste mit einem verschämten Lächeln, dabei erröthend wie ein junges Mädchen, dem man ein Liebesgeständniß ablocken will; seine runden Kinderaugen waren ängstlich gespannt.

Mühüller war neugierig, und er ließ seine Leute nicht leicht umverrichteter Dinge los. Er setzte also das Messer an und schnitt herzhaft zu.

„Gejeut? Hm?“

Und er drückte verschmitzt ein Auge zu und machte mit der hin- und herschlagenden Hand das bekannte Zeiehen für Hazardspiel.

Nachewski zuckte mit der einen Schulter.

„Und vierzigtausend? Wieso vierzigtausend?“

Nachewskt’s Augen flackerten auf; das Renommirgelüste eines Knaben flog ihn an, der einen besonders großartig gerathenen dummen Streich vollführt hat. Er nickte kurz.

Mühüller’s zugespitzten Lippen entfuhr ein lang aushaltender, gedämpfter Pfiff; er zog das rechte Bein mit beiden Armen hoch in den Schoß empor; dann das Bein immer noch festhaltend, die Lippen immer noch gespitzt, wiegte er sich mit dem Oberkörper nach vorn.

Nachewski saß wie zusammen gesunken, mit schlaff herabhängendem Kopf. Einen Augenblick nur – dann schnellte er empor – der verschämte Kinderausdruck war einer finsteren, unheilbedeutenden Verzerrung gewichen.

„Vierzigtausend,“ lachte er heiser, „hübsche Summe, wie? – Nicht die erste – derart. Vierzigtau…“ (sein Kopf wollte von Neuem herabsinken, er schien sich aber innerlich einen Stoß zu geben). „Heut’ – heut’ gerade – verteufelter Schneid, wie? – wie? – wie? (Er wiederholte das mit sich steigerndem Nachdruck.) Gerade heut’ die Vierzigtau… zu verpuffen! (Bei den ‚tausend‘ überfiel ihn jedesmal ein stoßartiges Schluchzen.) Erwarten ihn hier zu seiner Verlob… sitzt in einer Höhle und – und – Vierzigtau… Famose Ueberrasch… für den Herrn Schwieger… wie? – wie? – Wäre im Stande – auch die Vierzigtau… Vierzigtau… zu bezahlen – ein guter Kerl – vor drei Tagen hat er – erst – eben so viel – thut mir leid – thut mir wirklich leid –“

Und nach ein paar heftigeren Schluchzern, die ihm weh zu thun schienen: „Ach, genug der Scherze! – Es ist gut! Gut, daß der Teufel so fix war! (Das brachte er für seinen Zustand merkwürdig sicher heraus.) Hätte doch eines Tages kommen müssen! Es ist das Blut, wissen Sie – das Blut – es ist das Blut! Unser Verhängniß. Es ist das Blut, das Blut! Mein Großvater hat fast sein ganzes Vermögen in drei Tagen – heidi! Schoß sich eine Kugel vor den Kopf. Und ich glaube – ich glaube – ich thäte – ich könnte –“

„Herr Belzig ist ein sehr reicher Mann und sie haben Alle ein gutes Herz, diese Belzigs,“ fiel Mühüller gedehnt ein.

„Unmöglich! – Es ist gut so! es ist aus –“ stöhnte Nachewski.

„Sie müßten Jemandem, einem Ehrenmanne, der es gut mit Ihnen meint, das Versprechen geben, nicht mehr zu spielen. Ihr Wort meinetwegen – dann ließe sich ja noch ein Arrangement treffen.“

Eine Redensart, aber der brave Mühüller dachte wirklich einen Augenblick daran, was man wohl, thun müßte, was wohl die Menschenpflicht geböte, diesen Versinkenden mit seinen „Vierzigtau…“ doch noch zu retten.

Nachewski wiegte stumm und müde den Kopf, und seine Augen verschwanden fast gänzlich unter den düsteren Faltenwulsten seiner Brauen.

„Mehr als einmal – kann man – doch ein – solches – Wort – nicht geben –“ murmelte er dumpf mit gebrochener Stimme in sich hinein. „Ein Wort – ein Wort – es giebt deren, die keinen Sechser werth sind …“

Wieder entfuhr Mühüller’s Lippen ein pfeifender Ton, aber tiefer und kürzer diesmal.

Wieder fuhr Nachewski erschreckt empor. Was hatten seine Lippen soeben verrathen? – Doch nicht etwa das mit dem Ehrenwort?

„Ist es das?!“ sagten die sehr hochgezogenen, wagerechten Falten auf Mühüller’s Stirn. „Dann freilich …“ rief er und stockte.

Nachewski starrte ihn wie hilfeflehend an.

„Dann freilich!“ hub Mühüller von Neuem an, nachdrücklich, mit einem eisigen Ausdruck, der einem Dritten wohl einen Schauder erregt hätte. „Dann freilich thun Sie am besten …“

Nochmals hielt er inne. Es rauschte eben ein Paar durch das Boudoir, auf die Töne des beginnenden Walzers hin, der im Ballsaal angestimmt wurde. Eine blühende Frauengestalt, ganz in glänzendes Weiß gekleidet, und ein hübscher Herr mit einem glückseligen Lächeln. Sie unterhielten sich fröhlich und lebhaft. Nun verschwanden ihre Stimmen in dem allgemeinen Gesumme des Tanzsaales. Eine Engelserscheinung, die lichtvoll durch die gewitterschwüle Dunkelheit dieses Gespräches geschritten war.

Doch diese Erscheinung vermochte nicht, das, was Mühüller auszusprechen hatte, auf seinen Lippen zurückzudrängen. Er zögerte nur, und während dem schoß eine Erinnerung unheimlicher Art aus seinem Lieutenantsleben an ihm vorüber. Vor Jahren war von einem Kameraden des Regiments irgend eine Unehrenhaftigkeit begangen worden, die ihm die Epauletten verwirken mußte. Es stand ein Skandal für das Regiment bevor. Da beschlossen einzelne der Officiere in später Abendstunde, den Verbrecher zu veranlassen, sich selbst zu richten und so den häßlichen Makel von dem Officierkorps abzuwenden. Mühüller wurde dazu bestimmt, die sehr peinliche Ausführung dieses Beschlusses zu übernehmen Und er ging am Frühmorgen hin, trat in die dämmernde Schlafstube des Verbrechers und legte, nachdem er ihm den Beschluß der Officiere mit einer energischen Anrufung an das Restgefühl von Kameradschaft mitgetheilt, den geladenen Revolver mit einer feierlichen Verbeugung auf das Tischchen.

Und hier war es die große Kameradschaft aller Ehrenmänner, von der sich Mühüller beauftragt glaubte. Ganz trocken, in dienstmäßiger Nüchternheit, ohne mit den hellen Wimpern zu zucken, aber auch ohne Jenen anzusehen, sagte er:

„Dann freilich kann ich Ihnen nur dringend rathen, das zu thun, was Ihr Herr Großvater gethan. Pardon, daß ich auf diesen Herrn Bezug nehme …“

Und als Begleitung zu diesen Worten die schwungvollen Takte eines der bestrickendsten und poetischsten Strauß’schen Walzer, der da drinnen die junge Welt in Entzücken versetzte.

Als Nachewski nach einer guten Weile die Augen von den gepreßten Figuren der bronzeglänzenden Ledertapete gegenüber losriß, war Mühüller verschwunden. Er meinte gesehen zu haben, wie dieser eben an der Thüröffnung des Saales, eine Dame im Arm, mit lächelndem Gesicht vorübergeschwebt. Aber das, was Mühüller ihm vorhin gesagt, klang doch für einen [323] Scherz verteufelt ernsthaft. Und der Mann hat Recht – man kann nichts Besseres thun, als seinem Rathe folgen!

Darauf sah man Graf Nachewski sich noch mit verschiedenen Gästen unterhalten, ein paar Mal noch mühte er sich um Lolo, die von einer wahren Tanzwuth besessen schien. Er hatte sich einen Stoß gegeben, und er wollte seinen Abgang wenigstens äußerlich als Gentleman nehmen.

Mühüller hatte ihn nicht aus den Augen verloren: er fand ihn, als er einen Blick in das von blauen Rauchwolken erfüllte Herrenzimmer that, vor der einen Wand stehend, die Cigarre in der Hand und die dort aufgehängten Waffen sehr aufmerksam betrachtend. Er stutzte nur ganz kurz – es war ja nicht denkbar – das! – was denn? Nun, es hingen dort auch ein paar kostbare Prachtexemplare von Pistolen. Eine Dummheit – die alten eingerosteten Dinger sind höchstens gut dazu, einem Andern mit der Kolbe den Schädel einzuschlagen! Aber wie er ihn, der gekommen war, den Frieden dieses Hauses zu zerreißen und Schmach und Thränen über ein edles liebes Wesen zu verhängen, dort stehen sah, mit der Gluth seiner Cigarre die Waffen beleuchtend, da erfaßte ihn ein wilder Grimm, und mit aller Grausamkeit ausgerüstet, deren dieses enfant terrible fähig war, trat er hinter den Verbrecher und raunte ihm zu:

„Sind nicht geladen, die Dinger da – würden auch einen zu höllischen Lärm machen – und – die Damen können das Knallen nicht vertragen ...“

Bald darauf ward Graf Nachewski nicht mehr im Hause gesehen. Er mußte sich unbemerkt davon geschlichen haben.




11.0 Das Götzenopfer.

Eff ging in dieser Nacht nicht zu Bett. Es war ein gewisser Schuß, der das nicht duldete, ein Schuß, der vielleicht schon gefallen war hinter einem Busch des Thiergartens oder sonst irgendwo – die Schmach des Hauses Belzig, die vielleicht schon von sensationsgierigen Reportern aus irgend einem Winkel hervorgezerrt war, die vielleicht schon die hexenhaft schnellen Hände der Setzer durchglitten und in wenigen Stunden an dem vielarmigen Pranger der Tagesblätter aller Welt offenkundig zu lesen stände.

Das Fest war in einer gedrückten Stimmung versickert. Als Eff und Mühüller in nicht zu später Frühstunde nach Hause gingen, unterbrach Letzterer das Schweigen.

„Lieber Eff, möchte übrigens nicht versäumen, Sie zu avertiren. Thäte mir leid, wenn Sie und die dort überrascht würden.“

Er wies mit der Hand über die Schulter nach dem Belzig’schen Hause hin, vor dessen erleuchteten Fenstern sich scharfabgeschnittene fächerförmige Lichtstreifen in dem dichten Nebeldunst zeigten. Und Mühüller hatte dem Kameraden Alles ohne Umschweife offenbart.

Der Hauptmann blieb stehen.

„Sind Sie denn des Teufels?“ und er starrte seinen Begleiter ganz entsetzt an.

„Er braucht sich ja nicht todtzuschießen, wenn er nicht will,“ warf Mühüller trocken hin. „Mein Rath ist ja nicht maßgebend.“

Eff machte eine rasche Bewegung, er wollte sofort umkehren, sie dort im Hause benachrichtigen. Sein Platz war jetzt dort. Aber nach ein paar Schritten stutzte er wieder – besser doch, daß ein Versuch gemacht würde, dem Selbstmörder in den Arm zu fallen und ihm die Pistole zu entreißen. Vielleicht war es noch Zeit und der Schuß noch nicht gefallen. Vielleicht ließ sich irgend ein anderer Ausweg finden, der einem solchen Skandal vorbeugte.

Bald darauf befand er sich auf dem Wege nach dem kleinen Hôtel in der Jerusalemerstraße, wo Nachewski wohnte. Der aus dem Schlaf aufgetaumelte Hausknecht stand wankend, mit zufallenden Lidern vor dem Schlüsselbrett. „Nr. 38 nicht da!“ brummte er nach einer Weile.

Eff beschloß, draußen auf der Straße zu warten. Und er begann auf dem Trottoir der anderen Seite auf und ab zu patrouilliren, das Hôtel scharf im Auge behaltend.

Es war Thauwetter eingetreten; eine unbarmherzige eisige Nässe, die Alles einhüllte und Alles durchdrang.

Eff fröstelte und er rannte schneller auf und ab. Allerlei Gedanken stürmten mit ihm, aber das, was nicht zum Zweck dieses Patrouillirens gehörte, warf er immer wieder von sich. Schmach und Schande und Schreck und Schmerz drohen ihnen dort, mit deren Geschick das seinige durch unauflösliche Bande der Liebe und Treue verknüpft ist. Man muß sie retten vor dem Aergsten, vor dem Entsetzlichen! Sie sollen den Schuß nicht zu hören bekommen!

Einmal rief er laut vor sich hin: „Nein, er darf nicht fallen!“ – ein Ausbruch der Ungeduld über die Ohnmacht seines Beginnens. Denn das, was Jener vollführen will, kann er überall thun, und er braucht deßhalb nicht des Morgens zwei Uhr die drei Treppen zu seiner Zimmernummer hinaufzusteigen.

Aber es muß doch etwas geschehen! Die Grenze, die er sich für seinen Patrouillengang gesteckt, wurde immer mehr eingeengt durch die wachsende Dichtigkeit des Nebels. Nun rannte er nur noch die Länge von fünf, sechs Häusern ab, damit er das Thor des Hôtels nicht aus dem Auge verlor. Er horchte immer gespannter. Thüren und Thore wurden geöffnet und mit dumpfem Dröhnen zugeschlagen, er hörte den Nachtwächter in der Ferne pfeifen und dann wieder in der Nähe mit dem Schlüsselbunde klirren. Lauthallende Gespräche kamen näher und verschwanden wieder in der grauen Nacht.

Wie unsinnig dieser Patrouillendienst! Es ist zu spät – und die unselige That bereits vollbracht! So muß man die Folgen wenigstens abzuschwächen suchen, so muß es erreicht werden, daß dieser Schuß nicht in allen Tagesblättern wiederhallt! Und Eff beschloß, nach dem Molkenmarkt zu eilen und an der Centralstelle, wo die Meldungen der Unglücksfälle und Missethaten einmünden, ein gutes Wort anzubringen.

Das Ansuchen in dem betreffenden Bureau wurde selbst ihm, der doch an die richtige Fassung solcher Dinge gewöhnt war, nicht ganz leicht, und der Wachtmeister, der sich bei dem Klirren der Sporen von dem grellbeschienenen Pulte, an dem er schrieb, aufrichtete und vor der imposanten Erscheinung des Hauptmanns zu einer militärischen Haltung zusammenzuckte, sah ihn unter seinen buschigen Augenbrauen hervor groß an. Und sie sind hier doch gegen jede Art von Ueberraschung abgehärtet.

„Ich wollte also gebeten haben,“ wiederholte Eff etwas bestimmter, „daß, wenn es angängig, eine gewisse Meldung über den plötzlichen Tod eines gewissen Herrn, falls sie eingeht, so lange wie möglich geheim gehalten werde. Ich habe Ursache anzunehmen, daß der Betreffende – und es lag nicht in der Macht seiner Freunde, ihn daran zu hindern …“

Der Beamte nickte – er verstand schon.

„Herr Hauptmann müßten freilich die Güte haben, uns den Namen anzugeben, damit wir uns orientiren können.“

Es klang ganz geschäftsmäßig, als handele es sich um eine veränderte Wohnungsadresse.

Eff stutzte kurz und ein schwerer Athemzug hob die breite Wölbung seines Brustkastens. Dann trat er näher an das Pult heran und flüsterte den Namen.

„Graf Na – c – h, nicht wahr? –chewski,“ wiederholte der Wachtmeister, indem er den Namen auf einen abgerissenen Fetzen Papier warf.

Da erhob sich Lärm im Flur. Irgend ein betrunkener Uebelthäter, der sich dem gewaltsamen Transport mit heiseren Flüchen und Drohungen widersetzte. Nun erschütterte die Thür unter dem heftigen Anprall eines Körpers.

Der Beamte ging um nachzusehen, kam aber gleich mit einem verständnißvoll lächelnden Nicken seines rauhbärtigen Gesichtes, die Feder in Brusthöhe erhoben, zurück.

Eff starrte den Namen auf dem Papierfetzen an, der mit so erschreckend deutlichen Zügen dort stand. Auf einem Leichenstein konnte der Name nicht deutlicher prangen. Und es war ja noch nicht einmal gewiß …

Der Wachtmeister unterbrach ihn in seinen Gedanken.

„Herr Hauptmann müßten auch noch die Güte haben, das Signalement näher anzugeben. Mit dem bloßen Namen ist es eine unsichere Sache, wir möchten doch eine Verwechselung vermeiden.“

Eff sah das sofort ein, dennoch zögerte er wieder. Ein Schauder überlief ihn: eine Art Steckbrief, der Jenem über die verhängnißvolle Grenze, Tod genannt, ausgestellt werden sollte – und man weiß doch nicht einmal, ob der muthmaßliche Flüchtling [324] wirklich schon die Grenze überschritten, ob er überhaupt die ernstliche Absicht hatte, dies zu thun.

Aber die Vorsicht gebot also, und der Beamte setzte, ganz nach der bureaumäßigen Schablone, Statur, Gesicht, besondere Kennzeichen u. s. w., das ganze Signalement auf den Leichenstein des Papierfetzens.

Eff fand die Luft in dem Raume plötzlich zum Ersticken schwül und eilte hinaus.

Um die neunte Morgenstunde fand er sich bei den Belzigs ein, um diese auf Alles vorzubereiten.

Das Haus war noch weit in seiner Toilette zurück. Eine trübe Katzenjammerstimmung erfüllte seine Räume. Die Bedienung war unter Friedrich’s Oberkommando mit Putzen und Räumen beschäftigt, große Stöße von Geschirren und Körbe voll Gläsern wurden geschleppt; mitten auf dem verkratzten Parquet des Vorsaales lag ein Haufen von allerlei Herrlichkeiten zusammengekehrt: vergessene und zerzauste Blumensträuße, abgerissene Ranken künstlicher Blumen, Fetzen von Spitzen und Rüschen, Bänderchen und Flitter, zerfaserte und aufgerollte Menükarten, ein Ordensstern vom Kotillon – fährt nicht so das Schicksal mit seinem großen Besen in die Illusionen und Ideale der Menschlein hinein, die Bruchstücke und Fetzen im Vorsaal auf einen Haufen zusammenkehrend? Die Fenster standen offen und die eisig feuchte Luft wehte herein, ein unangenehmer Duft von verwelkten Blumen und Staub und abgestandenen Getränkresten zog umher.

Friedrich geleitete den Hauptmann in ein eiligst aufgeräumtes Boudoir, die Kälte des Raumes entschuldigend, aber die Luftheizung hätte am Morgen ihren Dienst versagt.

Endlich erschien Frau Belzig. Sie war gegen die Kälte in einen Pelz gehüllt, wie zum Ausgehen bereit, und sie sah darin unförmlich aufgedunsen aus, das Antlitz trug das rücksichtslose Negligé einer in Kummer und Thränen verbrachten Nacht, und die zerzauste Unordnung der sonst so peinlich korrekten Koiffüre war nur nothdürftig durch ein in der Hast aufgestülptes Häubchen verdeckt.

Sie kam mit ausgebreiteten Armen auf den Hauptmann losgewankt, blieb aber dicht vor ihm stehen, ohne die Umarmung auszuführen.

„Welch’ eine Geschichte – welch’ eine Nacht!“ rief sie jammernd; der sonore Alt ihrer Stimme schien in der Nacht vom Roste gelitten zu haben. „Mein lieber Herr Lieutenant, welch’ eine Geschichte!“

Sie dachte weder an den Hauptmann, noch an den Schwiegersohn.

Er erschrak – war es denn geschehen? Hatten sie schon Nachricht?

„Ich bin ganz krank, ich bin ganz elend –“ und sie ließ die erhobenen Arme schwer und schlaff herabfallen. „Wir haben kein Auge zugethan. Es ist zuviel! Es ist mehr, als man ertragen kann!“

Sie ließ sich in einen Fauteuil sinken, und zwischen den Wimpern funkelten große Thränen.

„Daß auch uns dergleichen passiren mußte! Welch’ ein Skandal! Welch’ eine fürchterliche Blamage!“

Sie schluchzte in die Höhlung ihrer Hände hinein und sprach dann, sich fassend, das Taschentuch gegen die Augen tupfend:

„Verzeihen Sie, daß man Sie so empfängt! Mein Mann ist im Thiergarten, das Laufen ist seine einzige Rettung – aber woher wissen Sie denn? … Es ist aus! Es ist Alles vorbei – diese Blamage, o diese Blamage!“ jammerte sie von Neuem in sich hinein, ohne Eff’s Antwort abzuwarten.

Dann, in einem heftigen Bedürfniß nach Trost, streckte sie ihm die Hand hin. Er bückte sich und erhob sie zu seinen Lippen. Die Hand war weich und schlaff und ohne Halt.

„Theuerste Mama …“ stammelte er.

Das Wort rüttelte sie auf.

„Theuerste Mama …“ ah, sie besaß ja noch einen Schwiegersohn! Ihre in Thränen schwimmenden Augen flehten ihn an: nicht wahr, er würde Alles wieder gut machen? Ihre Hand schien plötzlich wieder Knochen bekommen zu haben, und sie hielt Eff’s Rechte damit krampfhaft, wie hilfesuchend, umklammert.

„Wie gut Sie sind! Kommen Sie! Bleiben Sie! Setzen Sie sich! Gehen Sie nicht fort! Sie müssen uns beistehen! Sie sind unsere einzige Zukunft jetzt. Ich bin schlecht gegen Sie gewesen – wollen Sie mir verzeihen …?“

Daß er nicht wüßte! Er wollte sich jetzt gar nicht erinnern, nicht eines Momentes, wo sie schlecht gegen ihn gewesen sein sollte.

„Ich habe schon Schritte gethan, um dem ersten Skandal vorzubeugen,“ sagte er, um sie zu beruhigen. Uebrigens war die Aufregung seiner Schwiegermama nicht derart, als wenn das, was geschehen sein sollte, schon geschehen war und sie hier im Hause etwa schon Kunde hätten. Es schien nur der Mißklang des gestrigen Abends, der in ihrem Jammer austönte.

„Aber woher wissen Sie denn schon? Sie ahnten es wohl und da sind Sie schon! Natürlich, es läuft Nichts schneller herum, als ein Unglück.“ Und Frau Belzig begann zu erzählen: „Die Gäste waren schon fort, wir berathschlagten mit Perkisch, was zu thun sei. Mein Mann sagte: nein! man müßte diesem – diesem – ah, ich bringe den Namen nicht mehr über die Lippen! – man müßte ihm die Thür weisen, wenn er sich nochmals zeigte. Perkisch suchte ihn noch zu vertheidigen. Ich war ganz außer mir. Man muß doch retten, was zu retten ist, und wenn man eine Blamage vermeiden kann … Da war aber plötzlich Lo herangetreten, zieht den Ring vom Finger, sagt kein Wort und legt ihn einfach dort auf den Deckel des Flügels. Sagt kein Wort und sieht uns nur groß an – wahrhaftig, die Sache kommt ihr fast komisch vor. ‚Aber Lo! Lo, was thust Du?‘ ruf’ ich vor Schreck. Doch nur eine lustige Miene und ein stummer Blick auf den Ring. Dann ging sie hinaus. Erst hätte ich sie züchtigen können; nun geb’ ich ihr Recht – sie ist brav und stolz, wir können von ihr lernen. Aber dies impertinente Gesicht von Friedrich, als er uns eine Stunde darauf, da wir uns ins Schlafzimmer begeben wollten, den Ring auf dem Silberteller präsentirt – er wäre wohl vergessen worden auf dem Klavier und würde leicht beim Aufräumen verloren gehen. Ich hatte Lust, den Ring zu nehmen und … und …“

Sie schlug den Pelzmantel aus einander und warf ihn dann mit einer wüthend ausholenden Gebärde um den Leib.

„Die Auseinandersetzung mit Perkisch gab mir natürlich den Rest. Sie ahnen nicht, Sie glauben nicht, welcher Behauptungen dieser Herr fähig ist. Es ist besser, daß Sie nie erfahren, welche Art Freundschaft diesen Herrn mit dem – nun mit ihm! (heftig ausstoßend) verbunden. Ich war harmlos wie ein Kind gewesen. Wahrhaftig, das hatte ich mir nicht träumen lassen! Und nun die Unverschämtheit, zu behaupten, daß ich, ich selbst … ah, genug davon! Ich darf nicht daran denken, ich komme noch von Sinnen. Natürlich wird Perkisch unsere Schwelle nicht mehr betreten. Natürlich ist er lachend abgezogen – natürlich haben wir ihm ein Pflaster von ein paar Tausend auflegen müssen; er wäre im Stande, das tollste Märchen über diese Grafenaffaire in Umlauf zu setzen.“

Da öffnete sich die Thür und Herr Belzig trat ein, athemlos vom Laufen, er schien ebenfalls seit der Nacht zusammengefallen zu sein, sein fahles Antlitz leuchtete auf, als er Eff’s ansichtig wurde.

„Ah! Sie hier!“

Gottlob, ein Halt in dem zusammenstürzenden Jammer dieser Stunden! sagte sein langer und kräftiger Händedruck.

„Lieber Otto – Du bist sehr lange geblieben. Du solltest doch nicht zuviel laufen,“ klang Frau Belzig’s weinerliche Stimme.

Es war ein Anfall von zärtlicher Weichheit, der sie selbst zu überraschen schien. Aber sie streckte die Hand, die sie ihm hinreichen wollte, wirklich aus. All’ ihre Festigkeit hatte sie verlassen, und sie tastete überall nach Hilfe und Trost umher.

„Hast Du Dich ein wenig beruhigt, liebe Bella?“ fragte Belzig dankbar, mit dem zärtlichsten Ton, dessen er fähig war. „Schlafen die Mädchen noch?“

„Wir wollen sie schlafen lassen, die armen Dinger. Schlafen ist das Beste. Ich wollte, ich könnte Alles, Alles verschlafen. Aber es muß überlegt werden. Lieber Walther, nicht wahr, Sie helfen uns? Sie verlassen uns nicht?“

„Lieber Walther“ – es war das erste Mal, daß Frau Belzig den Bräutigam ihrer Tochter beim Vornamen genannt. Sie hatte bisher eine Schranke zwischen sich und ihm gefühlt, die ihn von ihrem Herzen trennte, aber jetzt war diese gefallen. Mit solchem unerhörten Fanatismus betrieb sie den Götzendienst, daß sie jetzt in dieser Stunde, da die Grafenkrone eben hinter dem Horizont ihres Ehrgeizes hinabgeschossen war, schon ein anderes Krönchen, eines von dauerhafterem Glanz und soliderer Arbeit aufschimmern sah. Und Eff, der brave Eff würde nicht zögern, ihr das Krönchen darzureichen.

[326] Man überlegte, was zu thun war, wie diese Entlobung zu insceniren sei. Und man kam überein, daß ein Luftwechsel für Lo jetzt am leichtesten über die erste Verlegenheit hinüberhelfe. Eff bot ein mehrwöchiges Asyl bei seiner guten Mama an. Er wollte die Schwägerin selbst bis nach Erfurt geleiten, so dringend auch sein Dienst ihn an Berlin fesselte. Mühüller solle inzwischen der Familie als Beistand bleiben.

Zuvor hielt er jedoch eine Andeutung dessen, was kommen könnte, für geboten.

„Ich hoffe,“ sagte er, ein wenig kleinlaut, mit erkünstelt ruhigem Ton, als gälte es nur eine eigene schwarzseherische Vermuthung zu beschwichtigen, „ich hoffe, wir werden keine Ueberraschungen zu erwarten haben. Aber man muß auf das Schlimmste gefaßt sein.“

„Wieso?“ fuhr Frau Belzig aus ihrem Pelz empor. „Was soll denn noch …? Was könnte nun noch geschehen?“

Sie zuckte mit einer entrüsteten Geste die massiven Schultern. War denn das nicht schon des Welterschütternden genug?

„Nach einer Andeutung, die – er fallen gelassen haben soll, ist ihm Alles gleichgültig – auch das Leben – gerade das! Und ich fürchte, ich fürchte – wir könnten jeden Augenblick durch etwas sehr Unangenehmes überrascht werden …“

„Nun – nun! Was denn?!“ brauste Herr Belzig auf. „Es geht ihm ja doch ungeheuer gut. Man hat ihm seine Schulden bezahlt (er lächelte bittersüß, mit einem raschen Seitenblick auf seine Gattin). Er steht ja groß da! Ich dächte, er hätte keine Veranlassung, sich gerade jetzt todtzuschießen – das meinen Sie doch?“

„Todtzuschießen – was? Hahaha!“ rief Frau Belzig ganz empört, daß Jemand ihm den Muth zu solchem Entschluß zutrauen könnte. „Er hat nicht die Kourage! Der!“

Der ganze Haß platzte mit der Silbe heraus. „Er hat einfach nicht die Kourage – hahaha!“

Es war wieder der frühere sonore, rostfreie Alt. Und Eff zog es vor, einstweilen die Gründe zu verschweigen, die einen Kavalier, oder Jemanden, der es gewesen, veranlassen könnten, sich todtzuschießen.

Am Abend, als der Hauptmann mit Lo schon nach Erfurt abgefahren war, trat Frau Belzig, von einer Ausfahrt kommend, in Belzig’s Allerheiligstes. Sie fand den Unzerreißbaren auf dem hohen Drehschemel sitzend und die Beine mit einer Künstlichkeit, die einem Gummimenschen in den Reichshallen Ehre gemacht hätte, um das Bein des Schemels verschlungen. Er hatte beide Ellenbogen aufgestützt auf ein Kontobuch und nur das Gesicht hob sich bei ihrem Eintritt empor, während die Ellenbogen in ihrer Stellung verharrten. Ein so eigenthümliches Grinsen belebte die zahlreichen elastischen Falten seiner Züge.

„Nun, Belzig?“

Er nickte ihr zu, sie möchte einmal näher treten. Zögernd folgte sie. Er klopfte mit den Knöcheln der geschlossenen Faust auf die Seite des Kontobuches.

„Hier!“

„Was denn?“

„Ich habe nur einmal einen kleinen Ueberschlag gemacht – was uns denn eigentlich Dein Graf gekostet. Hier –“

Er griff eine der Probefiguren eines neuen Puppenspiels, die stets auf seinem Pulte Parade standen, und strich mit dem Ding die Zeilen entlang – „hier die Schulden, Perkisch und Alles.“

Dann die Ziffernreihen mit der Figur herabklopfend, als wären es die Stufen einer Treppe, blieb er auf der Endsumme halten. Diese war besonders kräftig geschrieben: man sah den Federzügen die Wuth an, mit der sie hingemalt worden waren.

„Summa Summarum acht – und – fünfzig – tausend hat uns der Scherz mit dieser Grafenkrone gekostet!“

Mit dem grimmigsten Lächeln, mit einem ganz widersinnigen Ausdruck schadenfrohen Triumphes buchstabirte er ihr die Summe, die sie für den Namensgötzen bereits als Opfer gebracht, ins Antlitz.

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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 21, S. 337–343
[337]
12. Zwölfhundertfünfundneunzig.

Eff und Melitta waren die vier Stock hoch zu der Wohnung des Oberstlieutenants hinangestiegen. Sie machten Verlobungsbesuche; doch in aller Stille geschah es und nur die nächsten Freunde wurden damit bedacht. Eine dumpfe Stimmung brütete über dem Belzig’schen Hause, und auch das junge Glück der beiden Verlobten mußte vorsichtig den Athem anhalten, daß es nicht zu laut wurde. Aber es entschädigte sich auf den Gängen und Ausfahrten.

Was war denn geschehen? Lolo war noch rechtzeitig aus einer unheildrohenden Verbindung erlöst worden, und ihre Briefe aus Erfurt, wo sie von Eff’s Verwandten gefeiert und verhätschelt wurde, waren voll naiver, kindlicher Freude über die Erlösung. Nein, sie hätte „ihn“ nie lieben können – und wenn Mamas Kummer nicht wäre, und wenn nicht solche Entlobung einen so häßlichen Schatten würfe, so könnte sie aufjubeln – sie hätte sich nie so frei gefühlt – sie würde überhaupt wohl nie einen Mann lieben! setzte sie wie ein altkluger Backfisch hinzu.

Uebrigens war der Schatten dieser Entlobung schon im Erblassen. Das Unselige, das Mühüller angekündigt, war nicht eingetroffen. Die beiden Mädchen hatten überhaupt davon nichts erfahren. Frau Belzig beharrte auf ihrem Hohn, der Jenem einfach nicht die Kourage zutraute, sich totzuschießen. „Und wenn! – Es ist das Beste, was er thun kann!“ Jedenfalls war der dreitägige Verlobte Lolo’s gänzlich verschwunden. Die Belzigs begannen aufzuathmen – gottlob! der Skandal war noch nicht das Aeußerste; man war noch einmal mit einem freilich sehr tüchtigen blauen Auge davon gekommen. Was bedeutete das aber der unzerreißbaren Firma, die unter einem Goldregen stand! Auch Eff war zuletzt geneigt, Mühüller’s und seiner Schwiegermutter Meinung betreffs der Kourage des Grafen beizustimmen. Und wenn er daran dachte, wie er in jener Nacht gesorgt und gelaufen, um den Schuß aufzuhalten während Jener vielleicht ganz friedlich in irgend einer Ecke eines Kafés seinen Rausch ausschlummerte!

O, es war also kein Grund, auch außerhalb des Hauses den Athem anzuhalten. Langsam, ganz langsam waren die Beiden die Treppe hinangestiegen; mit jedem der höheren Flurfenster wurde die Aussicht über die weite Flucht der Gärten, die sich mit blendendem Glanz in ihrem von der Mittagssonne beschienenen Schneeschmuck ausbreiteten, immer verlockender. Und sie standen in dem freudigen Scheine, Eines ans Andere gelehnt, selige Minuten lang; dann stiegen sie höher; es gab an den Thüren so viel Schilder und Visitenkarten, die Melitta’s Muthwille studiren mußte, und sie hatte solche Freude an dem lauten Hall ihres silbernen Lachens in dem kahlen Treppenhause.

Endlich waren sie oben. Auf dem ungleichen und blasigen Anstrich des einen Thürflügels prangte eine ungeheuerliche Porcellanplatte mit dem pompösen Namen „Freiherr Trutz von Gamlingen zu Trachenberg“. Die Geschichte des Schildes bildete eine Art Ergänzung zu dem, was das [338] Belzig’sche Firmenschild aus des Freiherrn Leben zu beachten hatte. Die Schrift hatte einen altfränkischen Zug, ein feiner Haarriß ging mitten durch das Porcellan. Der Uebermuth des jungen Husarenlieutenants, für den nichts extravagant genug war, hatte das Schild des Scherzes wegen in diesem auffallenden Format einer Frühstücksschüssel bestellt. Manche Tollheit der ersten Brausejahre hatte es wie ein Kampfschild decken müssen; dann hatte es die stille Seligkeit des jungen Familienglückes gehütet, und die Knaben hatten, wenn sie aus der Schule kamen, laut buchstabirend ihre Lesefertigkeit an den Verschlingungen des Namens geübt. Es hatte Vieles erlebt, Freudiges und Trauriges; es hatte die zarten, duftigen, wie von einer Wolke von Tüll und Spitzen eingehüllten Packete der Täuflinge von robusten Ammen zur Taufe tragen sehen und dreimal das Aechzen der Treppe unter den schweren feierlichen Lasten von Särgen vernommen, zweier kleiner und eines großen – ah, sein braves Weib! seine beiden süßen Lieblinge! Es war von fröhlichen Augen angelacht worden und seine Buchstaben hatten geschwankt unter thränenumflorten Blicken. Es war viel hin- und hergewandert und hatte an mancher Thür Wache gehalten, aber die Thüren waren immer schmaler und niedriger geworden, und es hatte sich allmählich an den Anblick schlechtverputzter, schmutziger Treppenwände und an die Nachbarschaft gänzlich schildloser Thüren gewöhnt. Es war gestiegen von Stock zu Stock, jedenfalls war es viel zu arrogant für das vierte Stockwerk eines Hinterhauses, man hätte es längst herabnehmen und durch ein bescheideneres ersetzen sollen. Nun mußte es schon aushalten – bald, wer weiß wie bald, ist von dem hochtönenden Namen Nichts mehr übrig als ein Stück Porcellan, das bei dem ersten Zufall in Scherben bricht …

Auf das Klingeln war nicht gleich geöffnet worden. Nun warteten sie, nach dem Inneren hinhorchend und das Schild anblickend. Ja, es war nicht leicht, die Augen davon zu wenden: so bannte es die Blicke. Melitta hatte es doch schon oft gesehen, aber noch nie hatte sie es in solcher Bedeutung betrachtet:

Wenn man es nähme! – einfach danach griffe! Es ist ja zu haben!

Viel später erinnerte sie sich, wie diese Begehrlichkeit sie wider Willen plötzlich anflog, hier vor dem Schilde. Aber sofort schämte sie sich solcher fast sündhaft häßlichen Regung, sie wandte ihre Augen von dem Namen weg auf ihren Bräutigam, und das Rosa ihres Antlitzes wie das Lächeln ihrer Lippen nahm dabei um eine Nüance zu.

Auch er erinnerte sich viel später, wie Mühüller’s Ausruf: „Ein verteufelt guter Name!“ ihm plötzlich vor den Ohren gesummt, und wie im Bann dieses Schildes die Frage vor ihm stand, ob es denn wirklich ein Zeichen niedriger Denkart sei, wenn man die Hand nach dem Namen ausstrecke …

Da traf ihn der Blick seiner Braut. Ihre Augen glitzerten von der seltsamen Erregung. Und er erschrak wie in einer Ahnung, als ob allerlei Umstände, Gründe, Entschuldigungen, ja das Glück seines Bräutchens und ihr gemeinsames Glück es doch eines Tages fertig brächten, daß die Ungeheuerlichkeit begangen und sein Buchstabe von Namen gegen den pompösen Paradenamen vertauscht würde. Nein, nein, nein … es soll und darf dennoch nicht geschehen!

Endlich ließen sich kurze, trippelnde Schritte hinter der Thür hören.

„N’Tag, Olga!“

Das kleine Freifräulein stand dort in krêmefarbener, ihr Figürchen umhüllender Küchenschürze, die nicht ganz die Spuren ihrer Bestimmung verleugnen konnte. Die Aermel waren bis zum Ellenbogen hochgeschürzt und die Aermchen zeigten eine hübsche Rundung – natürlich werden solche Aermchen vom Romanlesen so rund!

Ei, wie sie zurückfuhr! Die beiden hohen Gestalten dicht vor ihr, glänzend und schimmernd in der sonnigen Helle des kahlen Flurs!

Und nun ein flinkes Hin und Her der Begrüßung, das die Besucher bis ins Zimmer umflatterte; dann waren die Schürze und die aufgestreiften Aermel mit einer Entschuldigung davongehuscht, dem Papa die Fortsetzung der Honneurs überlassend.

Ein so freudig bewegtes Staccato des „Ze … ze … ze …“ Wie es ginge? wie es denn ginge? Welche Freude, daß sie gekommen!

Aber gleich erinnerte sich der Oberstlieutenant an das Unglück der Entlobung, das bei diesem Wiedersehen doch eine Beileidsmiene gebot. Und nach einer kurzen Pause der Verwunderung, daß die Gesichter des Besuches nichts von einem Beileid wissen zu wollen schienen, wagte er die schüchterne gedämpfte Frage:

„Wie geht es Fräulein Lo in Erfurt?“

„Gut! Sehr gut! Ausgezeichnet!“ fuhr Melitta heraus, das Köpfchen emporwerfend. Es klang wie ein Haß gegen Jenen, der den Frieden ihres Elternhauses so brutal zu zerstören versucht, wie ein Trotz, der sich dagegen verwahrte, daß man sich irgend etwas von dieser unerquicklichen Episode zu Herzen genommen hätte.

Doch von dem Thema sprang man sofort zu Gleichgültigerem über. Eff sprach sein Behagen über die heitere Freundlichkeit der Wohnung aus, die er zum ersten Male sah. Die Sonne, nur wenig von den dünnen, an mehreren Stellen geflickten und gestopften Mullgardinen gedämpft, fluthete voll durch das niedere Zimmer, die flachen Schichten des bläulichen Cigarrenqualms mit breiten Lichtbahnen durchbrechend, freilich brachte sie in verrätherischer Weise die Fadenscheinigkeit der Einrichtung zur Geltung, den verschossenen Plüsch der Polster, die verschlissenen Teppiche, die blinden altfränkischen Möbel. Aber überall peinliche Ordnung, weiße Schutzdeckchen und belebende Stickereien, in dem einen Fenster ein Blumentisch mit glänzenden staublosen Blättern; nebenan ein Kanarienvogel mit grellschmetternden Tönen.

„Hoch, sehr hoch,“ erwiederte der Oberstlieutenant auf Eff’s Bemerkung, „die alten Beine fangen doch an, gegen die vier Stock zu revoltiren – ze … ze … ze … Der Widerspruch wird aber nichts helfen – die Wohnungen werden immer theurer.“

Dabei warf er einen seiner hilflosen Blicke nach Olga’s Arbeitstisch am Fenster, wo die Tuschnäpfe wie die Miniaturtellerchen einer Puppenküche aufgestapelt standen. Soll das gute Kind denn noch mehr Stunden ihrer Nächte an diesem Tische opfern? Nein, nein, die alten Beine werden und müssen eben ihren Dienst aushalten!

Jetzt hörte man aus der nahen Küche das Klappern von Deckeln und das Zischen des Dampfes aus einem plötzlich geöffneten Topfe, wenige Minuten darauf erschien Olga, der Schmetterling, der sich aus der einpuppenden Hülle der Küchenschürze befreit hatte.

Mit heiterer Unbefangenheit begrüßte sie das Paar nochmals. „Die Begrüßung vorhin hat doch nicht mir gegolten“ – scherzte sie. „Vorhin war es doch unsere Oberköchin, die Ihnen aufgemacht.“

Wenn Eff und Melitta gewußt hätten, wie viele Rollen sie am Tage zu wechseln hatte und mit welch freudigem Muthe sie die sämmtlichen bis zum letzten Aktschluß tief in der Nacht durchspielte!

Bald aber ward auch sie gewahr, daß ihre Heiterkeit nicht in die Situation paßte. – Lo – die arme Lo! Eine Entlobung – welch entsetzliches Wort! – Etwas wie der Glaube an das Ideal, der plötzlich mit einem Ruck aus dem blutenden Herzen gerissen wird!

O, die Sache brauchte gar nicht so tragisch genommen werden, versicherte Melitta abermals. Lo befände sich überaus wohl. Hier könne man ja offen darüber sprechen. Und die beiden Damen fingen an, näher an einander rückend, ihre Meinungen über das unliebsame Ereigniß auszutauschen.

Eff war aufgestanden, um einige jener bekannten Kupferstiche aus des großen Friedrich’s Leben, vor Allem das seltene lebensgroße Portrait desselben näher in Augenschein zu nehmen. „Ich interessire mich sehr für Kupferstiche; ich fürchte, ich werde noch ein Sammler werden.“

Eine erste Andeutung, die Eff sich selbst machte, daß seine Verhältnisse ihm wohl später den Luxus solcher Liebhaberei gestatten würden.

„Die vollständigste Sammlung, die von diesen Stichen existiren dürfte,“ antwortete der Oberstlieutenant, mit dem kurzen strammen Trippeln seiner Beinchen an Jenen herantretend. „Ein Erbstück der Familie.“

Die Wände waren mit diesen von gelblichem Kirschbraun umrahmten Bildern überdeckt, so daß kaum ein paar Stellen der verschossenen Tapete sichtbar blieben. Die eine Wand aber nahm [339] das riesenmäßige Prunkstück des Stammbaumes ein. Es schien all die andern Bilder mit seiner schwerfälligen Wucht zu erdrücken; es beherrschte gleichsam die ganze Wohnung, und die künstlerische Kostbarkeit des geschnitzten Eichenrahmens stand in auffallendem Gegensatz zu der Einfachheit der übrigen Möbel.

Der elegante, stets vorschriftsmäßig frisirte Kopf des Hauptmanns fuhr an der Wand hin und her und auf und ab, um auch den höher oder tiefer hängenden Bildern einen Blick zu schenken. eine Artigkeit, die er dem Besitzer der Sammlung schuldig zu sein glaubte. „Hochinteressant – sehr werthvoll!“ wiederholte er.

„Ist mir schon viel dafür geboten worden,“ bestätigte der Oberstlieutenant – „wie gesagt, ein Erbstück, und man giebt es nicht gern aus der Hand – freilich …“ Es steht dem Erbstück ja doch über kurz und lang das Schicksal einer Auktion bevor – schien das „freilich“ zu sagen.

Er stutzte und blinzelte lebhaft mit den grauen Augenwimpern. „Hier das Zietenbild – die Sonne blendet etwas sehr – hierher bitte, von dieser Seite!“

„Ah, der Stammbaum!“ sagte Eff.

Es war die große hohe Spiegelfläche des Prunkstückes, die das Gewimmel der Bilder abschnitt. Er trat ein wenig zurück, um das auffallende Kunstwerk in seiner ganzen Ausdehnung mit einem Gesammtblick zu prüfen. Er hatte schon von Melitta über diesen Stammbaum gehört, nun wollte er nicht, ohne ein Wort zu sagen, daran vorübergehen, so sehr er in seiner Peinlichkeit fürchtete, wehmüthige Gedanken in dem letzten Gamlingen zu erwecken. Und wieder näher herantretend: „Ein Meisterstück von einem geschnitzten Rahmen!“

„Ze … ze … ze … hat ein Heidengeld gekostet. Extra in Nürnberg gearbeitet. Eine Leistung von drei Jahren.“

„Glaub’ ich, glaub’ schon! Herrlich! Ganz wunderschön – wie diese Wappen geschnitzt sind! Uebrigens auch die Zeichnung ist eine ausgezeichnete Arbeit. Wir wissen dergleichen zu schätzen wir Kartenfexe.“

Und sich bückend und allmählich wieder aufrichtend, fuhr Eff von der Wurzel des Baumes bis zu den weiten Verzweigungen der Krone in die Höhe und wieder hinab. Zu Füßen des Baumes breitete sich ein heraldisch stilisirtes Gebirge, auf dessen höchstem Gipfel eine Burg thronte. Das Thurmfähnlein trug die Jahreszahl 1295.

Um nicht zu schreiben eintausenddreihundert – hätte Jemand, der die effektvolle Mache bei solchen Stammbäumen kennt, sich sagen müssen. Aber Eff staunte aufrichtig über die ehrwürdige Zahl. „Zwölfhundertfünfundneunzig!“ rief er. „Famos!“ Unwillkürlich fuhren seine Hacken leicht zusammen, und er machte eine Art Verbeugung, um seine Huldigung dem Nachkommen eines so alten Geschlechts darzubringen.

„Ich werde mit Walther zusammen Lo selbst abholen,“ erzählte Melitta. „Ich freue mich kindisch, meine gute Schwiegermama kennen zu lernen. Weißt Du, Olga, daß sie dort in Erfurt, als Walther mit Lo ankam, letztere für sein Bräutchen hielten?“

„Sehr gut!“ lachte Olga laut, es geschah etwas gezwungen; sie lauschte zwischen den Worten ihrer Freundin nach den Herren dort am Stammbaum hinüber.

Auch Melitta hatte die Betonung der Jahreszahl aus ihres Bräutigams Munde vernommen. Sie sah die beiden Herren vor dem Stammbanm verweilen, und wieder kamen die Gedanken, die sie vorhin vor dem Schilde überfallen, herbeigehuscht.

Adoption – es war das Thema, das plötzlich die Luft beherrschte. Die vier Menschen dachten daran, ohne daß das Wort ausgesprochen wurde. Jedes in seiner Art. Vor Eff stapelten sich plötzlich alle die Andeutungen und Redensarten, welche diese Adoption betrafen, wie die Glieder einer wohlgeordneten Disposition mit a und b und c auf. War es wirklich die Absicht des alten Herrn, wie Mühüller behauptet hatte, ihn zu adoptiren? Und wenn man ihm die Adoption formell anböte, würde er sie ausschlagen? Unsinn! Ein Kavalier, bei dem das Kavalierthum nicht nur in den Sporen sitzt, wird dergleichen nicht thun!

„Wir haben ein sehr schönes Quartier in der – in der – nun in der Friedrich-Wilhelmstraße in Aussicht, aber wir wissen noch nicht …“ fuhr Melitta zerstreut in dem Geplauder über ihre Zukunftspläne fort.

„Eine prächtige Lage!“ antwortete Olga eben so zerstreut.

Die Augen der Damen flogen immer wieder nach den beiden Herren hinüber, als wenn dort etwas Wichtiges vor sich ginge.

Eff verfolgte eben das Anwachsen des Stammes und das Ausbreiten der mit namentragenden Wappenschilden bedeckten Aeste. Der Baum hatte ein ungleiches Wachsthum; hier und da war ein Zweig verdorrt, an anderen Stellen war das Laub mit den Namenschilden wie mit großen weißen Blüthen übersäet. Die Reihe für die Nachkommen des Oberstlieutenants war offen geblieben, doch nur zwei der Schilde trugen Namen, als der Stammbaum gefertigt wurde, war ja begründete Hoffnung, daß auch die übrigen Schilde ihre Bezeichnung fänden. Nun war es versäumt worden, diese nachzutragen.

„Fünf Vorderstuben und vier Küchen,“ sagte Melitta, immer noch mit der Beschreibung ihrer zukünftigen Wohnung beschäftigt. Sie hatte sich jedenfalls versprochen und die Hinterstuben gemeint – es es klang lächerlich; aber sie hatte es nicht einmal gemerkt: so sehr war ihre Aufmerksamkeit von dem Stammbaum in Anspruch genommen.

Olga nickte ganz ernst und verständnißvoll. Auch sie hatte die Verwechselung ganz überhört. Horch – war dort drüben nicht das Wort gefallen? Jenes, das in der Luft lag und das die Gedanken der Anwesenden wie gebannt hielt? Melitta zuckte wie mit einem leichten Schauer zusammen.

Aber nur der Stoßseufzer war es, welcher dem alten Herrn in der letzten Zeit öfter über die Lippen ging.

Nein, er hatte nicht den Muth – jetzt nicht! Es war wohl nicht die günstige Gelegenheit; man mußte es wohl auf diskretere Weise anfangen; man mußte wohl den Damen die Angelegenheit überlassen, er ist zu unbeholfen und versteht sich nicht auf diplomatische Künste – und diese leidige Grafenaffaire, die überhaupt wohl Alles verdorben hat!

Aber er vermochte nicht ganz an sich zu halten. Und den großen treuherzig offenen Augen des Hauptmanns ausweichend, mit bebenden Fingern an dem Husarenbärtchen zupfend, stieß er stotternd hervor: „Ze … ze … ze … ich hätte mich längst nach einer Adoption umsehen müssen.“

Bald darauf empfahl sich das Brautpaar. Olga begleitete es bis zur Flurthür; Melitta grüßte noch einmal freundlich empor. Nur ein ganz flüchtiger Seitenblick traf dabei das Schild. Dennoch übergoß eine Röthe ihr Antlitz. Ist denn eine Zauberei im Spiel? Sie fühlte eine seltsame Befangenheit, und es war gut, daß ihr Geplauder so laut zwischen den kahlen Wänden wiederhallte, als sie herabstiegen.

Wie verwundert neugierig die Hinterhausfenster auf die beiden schönen und glänzenden Menschen herniedersahen, die durch die feuchte Kühle des Hofes mit Rauschen und Klirren daherschwebten, einer feenhaften Erscheinung gleich, um da draußen in der unbeschreiblich freudigen Helle des Wintertages zu verschwinden.




13.0 Sonnenflitter.

Vor Melitta’s Augen tanzte ein winziges blinkendes Etwas – es war wohl nur die Wirkung der sonnigen Blendung? Nun glaubte sie ganz deutlich ein niedliches allerliebstes Krönlein flimmern und flittern zu sehen, gar lustig und neckisch vor ihren Blicken. Es war ja fast gespenstisch. Immer schärfer zeichnete sich das lustige Ding – nun meinte sie die sieben Perlen auf den Zackenstengeln zu unterscheiden.

Auch für Eff war das Gespenstische da, jetzt am hellen Mittag. Horch – klang nicht aus dem Getöse der Straßen, durch die das elegante Koupé sie leichtfedernd dahertrug, aus dem Rasseln und Klingeln der Pferdebahnwagen und dem Geräusch der Tritte auf dem Trottoir, immer wieder jene Zahl: zwölfhundertfünfundneunzig? Eine Dummheit – aber man kann den Klang nicht loswerden! Bis vor einer halben Stunde hatte er über den Gedanken dieser Adoption gelächelt, und er hatte gemeint, eine Versuchung, wenn sie jemals an ihn herantreten würde, mit einem mitleidigen Nein! einfach abweisen zu können. Jetzt war er zum ersten Mal in den unmittelbaren Bannkreis jenes Namens getreten. Was ist denn das für ein Dämon, der einen ernsten Mann dazu bringen kann, in der großen Narrethei des Lebens mitzutanzen?

„Was ist Dir, Litta?“ fuhr er plötzlich empor.

[342] Sie hatte mit der Hand vor ihren Augen her durch die Luft gestrichen, wie um ein lästiges Insekt abzuwehren.

„Nichts,“ sagte sie, mit schnell blinzelnden Lidern, „es ist die Sonne, mir schwirrte etwas vor den Augen.“

„Ist Dir nicht wohl, mein Herz?“ fuhr er abermals empor, fast erschreckt. Die Sorge war diesmal eine kleine Uebertreibung, er wollte eine Ablenkung haben von diesen Dummheiten, die ihm schier das Blut stocken ließen!

Sie begann in letzter Zeit über die peinliche, fast pedantische Aengstlichkeit zu lächeln, mit der er ihr Befinden überwachte. Ein unerwartetes Stillsein, eine plötzliche Regung ihres Körpers, irgend ein zufälliges Zucken eines Fältchens in ihrem Antlitz, und sofort war die Frage da: „Was ist Dir? Fehlt Dir etwas, Litta?“ Zuweilen geschah sie mit einer Betroffenheit, die in sein sonst so vornehm gemessenes Wesen nicht hineinpassen wollte, dann wieder von einem sanften Streicheln seiner Hand über die feinen natürlichen Wellen ihres seidenen Braunhaares begleitet. Sie fühlte sich so köstlich geborgen unter dieser stets wachenden Hut seiner Liebe.

„Nichts, aber durchaus nichts, Walther!“ Die Schelmengrübchen in ihren Wangen lachten ihn an und die leicht emporgezogenen Brauen zuckten neckisch unter dem hauchfeinen Schleier.

„Wie besorgt Du bist!“ Sie reichte ihm die schlanke Hand, er faßte begierig danach, und die Hand ruhte dann wie in einer Doppelschale zwischen seinen beiden großen Händen.

„Es tanzte mir vor den Augen. Weißt Du, Walthi, als Kinder riefen wir es absichtlich hervor, schauten in die Sonne, bis uns die Augen übergingen, damit wir so recht lange das Spiel der schönen bunten Kugeln genössen, die vor unseren Augen tanzten.“

Und diesmal führte die Sonnenlaune statt der bunten Kugeln einen Tanz von Freiherrnkrönlein vor ihr auf. Es wirbelten ihrer immer mehr durch einander, sie wollten nicht weichen und erblassen gleich jenen Kugeln. Fort damit! Sie senkte die Wimpern, um der Vision Herr zu werden, und lehnte das Köpfchen gegen die dunkelblaue Seide des Polsters.

„Litta, was hast Du denn?“

„Ich bin glücklich – ich bin so glücklich –“ hauchte es nach einer kurzen Pause aus ihren geöffneten Lippen hervor. Langsam, mit einer sehnsüchtigen Schwere hob sie die Wimpern empor, und es traf ihn ihr langer, voller, liebestrahlender Blick. Bei seinem Ausruf hatte ein so lebendiges Gefühl dieses Glückes sie überwältigt. Und verflogen war all die elende Weltlichkeit, die soeben noch mit Freiherrnkrönlein vor ihren Augen geflimmert.

Ja, sie waren glücklich! Sie durften es sein. Beide jung und prächtig, mit blühendem Leben ausgestattet, eine Erquickung für jedes Auge, wohin sie kamen, und die Herzen im Sturm erobernd. Eine ehrenvolle, vielleicht glänzende Laufbahn, die seiner soliden Tüchtigkeit offen stand, und die Seligkeit ihres zukünftigen Nestes, das aus etwas mehr als ein paar zusammengelesenen Federchen und Strohhalmen zu bestehen schien. Sonne – freudiger Sonnenschein, wohin sie blickten! Was wollte das häßliche Insekt dieses Krönleins? Es wäre doch wohl nicht im Stande, vorüberfliegend den Ausblick in diesen Sonnenschein zu trüben, oder gar anwachsend zu einem Schatten zu werden, der ihnen das Leben verdunkelte?

Man hatte noch einen Besuch in einer Moabiter Villa abzumachen und der Wagen durchkreuzte den Thiergarten. Die feenhafte Herrlichkeit des bereiften Waldes umfing sie, alle Aeste und Zweige mit einem feinen flockigen Federwerk behangen, selbst die winterliche Schwärze der Stämme mit flimmerndem weißen Hauch bedeckt. Alles so leicht und duftig, daß ein leiser Wind die Scenerie sofort wie einen Traum verweht hätte. Aber vollkommene Windstille. Droben zwischen den zartgewölbten schneeigen Wimpeln der Bäume stand in heiterster Ruhe das makellose Himmelsblau; in den Alleen schienen die Bäume und Sträucher, von der Sonne getroffen, wie aus massivem Edelmetall getrieben. Fernhin gegen das Ende der Reitwege verdämmerte die überwältigende Helle in einem zarten Rosaduft, hier und da belebt von dem Glitzern einer vorüberfahrenden Equipage. Auf dem schräg nach dem Brandenburger Thor führenden Promenadenweg eilte es in dunklen Scharen nach dem Eis der Rousseau-Insel, und durch das dumpfe Rollen der Gummiräder hörten die Beiden im Wagen das fröhliche Klirren der Schlittschuhe in den Händen der Eilenden.

Sie saßen noch immer Hand in Hand; Beide des Glückes übervoll; hier und da machte sich dasselbe Luft in einem Ausruf über solche Herrlichkeit da draußen. Ihre Augen lachten vor Freude, während sie sich gemeinsam bald zur Linken, bald zur Rechten hinneigten, um nichts von der köstlichen Dekoration zu versäumen. Ah die Jugend, die Schönheit und der hübsche Eintagstanz der farbenglänzenden Schmetterlinge – Illusionen genannt! Ueber Nacht wird ein Lüftchen sich erheben, und all die Pracht dieser Feerie wird verweht und zerstoben werden, und nur die schwarzen häßlich kahlen Aeste werden zurückbleiben, die in den grauen Winterhimmel hineinstarren …

Auf dem Königsplatz war die Blendung so gewaltig, daß sie kaum hinauszublicken wagten. Da nahte auf dem harten Fahrdamme das scharfe Getön einer eleganten Equipage. Zwei feurige Braune, blitzendes Geschirr, auffallende hellblaue Livrée – sausten am Wagenschlag vorüber.

„Aha,“ rief Eff, „Kehren, unser Kehren.“

Und er nickte verständnißvoll. Es war nicht seine eigene ursprüngliche Meinung, aber bei den Kameraden stand dieser Kehren unter den unerbittlichsten wüthendsten Strebern verzeichnet. Alles – Alles, nur vorwärts! war dessen Parole. Er ließ seinen Namen spielen und funkeln; er hatte eine reiche Frau geheirathet, um zu glänzen, und eine schöne Frau, um zu blenden; er gab die herrlichsten Diners; seine Equipage und seine Livrée waren von raffinirter Eleganz. Er ritt, jagte, tanzte, spielte, aß und trank, arbeitete, war höflich, war grob, lächelte und lachte, war unerschütterlich ernst, jede Bewegung und jeden Gedanken nur auf das eine Ziel hin gerichtet.

„Wer war es? Kennst Du sie, Walther?“

„Kehren, Baron Kehren von uns.“

Sie hatte schon den Namen gehört. „Eine schöne Frau, nicht?“

Er nickte – „sehr reich,“ fügte er hinzu.

„Wo ist sie her? Eine Berlinerin?“

„Eine Sturz, eine von den großen Eisen-Sturz aus Westfalen. Werden übrigens demnächst auch dort unseren Besuch machen müssen.“

Sofort war der Kobold wieder da. Reich und schön … aber das Gemälde käme ohne den glänzenden Rahmen dennoch nicht zur Geltung!

Es befiel sie etwas wie das Gelüst einer jungen Katze, sich auf ein buntes Spielzeug, das davonrollen will, zu stürzen, um es mit scharfen Pfötchen fest, recht fest zu krallen. Ihre Hand zuckte ein wenig in seinen Händen und die Flügel des geraden Näschens zitterten nervös.

„Weißt Du, Walther …“ begann sie. Sie stockte, ihre Stimme kam ihr selbst wie verändert vor.

„Was denn? was ist Dir, Herz?“

Sie hatte sich abgewandt, nach dem Fenster hin. „Ei, wie die Viktoria da oben glänzt,“ sagte sie rasch und ausweichend.

Eine Blutwelle flog über ihr Gesicht. Es giebt Gedanken, die sehr häßlich klingen, wenn sie in dürren Worten ausgesprochen werden …

Und zum zwanzigsten Male ließ sie ihren Enthusiasmus jubeln. „Welch’ ein Tag! Nein, welch’ ein herrlicher Tag!“

Doch das Kätzchengelüst ließ sie nicht los. Nach einer kurzen Pause begann sie von Neuem, den erregten Athem zur Ruhe zwingend, auf weitem Umwege diesmal. „Ein reizendes Wesen, diese Olga, ein Prachtmädchen, nicht?“

Darüber war man längst einig, darüber gab es nur eine Stimme. Fast hätte er gefragt, wie sie dazu käme – von der ehernen Riesengestalt der Viktoria da droben auf den winzigen Schmetterling jenes Prachtmädchens?

„Sehr nett – ich mag sie ungeheuer gern,“ antwortete er.

„Sie thut mir oft leid – sie hat so wenig von ihrer Jugend gehabt – ich fürchte, sie wird sitzen bleiben.“

Er lachte: es war wohl die Schwäche der meisten Verlobten und Jungvermählten, daß sie überall Glück und Ehe stiften wollen, die auch bei ihr zum Durchbruch kam.

„Welche Sorge! Warum soll sie sitzen bleiben, mein Herz?“

„Wenn sie nicht Einer ihres Namens wegen nimmt …“

Es war heraus – sie athmete hoch auf. Zum ersten Male, daß der Name zwischen ihm und ihr erwähnt wurde.

[343] „Aber, Närrchen, mein süßes Närrchen – was soll der Betreffende mit ihrem Namen anfangen? Nun, ich dächte doch, sie ist tüchtig, sie ist liebenswürdig, sie ist hübsch – bedarf es da noch eines Namens?“

„Was soll sie anfangen, wenn der alte Herr nicht mehr lebt?“

Er hob bedauernd die Schultern.

„Weißt Du, es ist eigentlich schade, daß der hübsche Name so spurlos verschwinden soll.“

Sie kam der Sache näher, mit Anstrengung zwang sie sich, ruhig zu scheinen und Alles so nebenher als eine Bagatelle zu behandeln. „Du weißt doch, daß der Name mit ihm ausstirbt?“ fragte sie zum Ueberfluß, obgleich sie genau wußte, daß ihm das nicht unbekannt war.

„Schade, gewiß sehr schade“, – erwiederte er zerstreut. „Was ist an einem Namen gelegen!“ fuhr er in einer ganz kleinen selbsttäuschenden Anwandlung des Trotzes fort. „Name ist Schall und Rauch – wie heißt es doch gleich?“

Sie erinnerte sich nicht. Es war weder Ebers, noch Dahn, noch Julius Wolff.

„Es müßte Jemand kommen, der den Namen rettete – schade, gewiß sehr schade!“

Sie blies in den Pelzbesatz ihres Aermels und beobachtete genau das Auseinanderstieben der zarten Härchen. „Es thäte Jemand wirklich ein gutes Werk.“

Er horchte verdutzt, noch mit dem Schein eines Lächelns um die Lippen, aber innerlich voller Bestürzung: also so stand es? Sie begehrt das Namensding; der Besitz desselben würde sie glücklich machen – und ein seltsames schier unerklärliches Gefühl überkam ihn, als würde er plötzlich von einer Beklemmung erlöst, die ihn seit dem Besuch befallen.

Nun, immer noch zwischen den Worten in die Härchen des Pelzes blasend, sagte sie langsam, mit emporgezogenen Brauen, ziemlich schelmisch: „Ich wüßte Jemand, den der Name ganz vortrefflich kleidete.“

Sie sah ihn immer noch nicht an. Auf einmal ruckte sie den Kopf empor, und mit ihren klarsten, offensten Augen ihn anstrahlend, fuhr sie gerade heraus:

„Wenn man Dir nun den Namen anböte, sag’, würdest Du – würdest Du ihn nicht ausschlagen?“

„Aber durchaus nicht! Ich würde mit zehn Fingern danach greifen – ich wäre der glücklichste Mensch dieser Erde!“

Sie verstand nicht sofort, auch nicht aus dem herzlichen Lachen, mit dem er seine Worte begleitete, ob es Scherz oder Ernst wäre. Verwirrt vor Ueberraschung starrte sie ihn an.

„Nun natürlich! Sofort!“ spottete er. „Komm her, Du bist einzig! Du bist mein liebes köstliches Närrchen!“ und er umschlang sie stürmisch.

„Mein Hut – Walther, mein Hut!“ Nur ein ganz kurzer Ausbruch des Aergers, daß sie sich hatte gehen lassen. Sofort faßte sie sich und heuchelte einen Scherz.

„Also man möchte gern eine schöne imposante Baronin abgeben, he?“ neckte er, zärtlich von oben herab ihr Gesichtchen suchend, das sich an seiner Schulter geborgen.

„Warum nicht, warum sollte ich nicht eine Baronin … es würde mich wundervoll kleiden –“ sagte sie, in schmollender Koketterie mit dem Kopfe nickend. Dann riß sie sich los, richtete sich auf und blitzte ihn mit ihren Augen herausfordernd an. Sie sah zum Entzücken aus in dieser Erregung.

Ein paar Herzschläge lang maßen sich ihre Augen, eins im anderen spürend; dann brachen sie gleichzeitig in ein Lachen aus. Sie fanden Beide die Idee köstlich. Nein, ein Baron, eine Baronin! Die Vorübergehenden blickten verwundert dem Wagen nach, welch ein fröhliches Vögleinpaar mit so herzlichem Lachen dahergeflogen komme.

Später aber, als sie vom Besuche zurückkehrten, schmiegte Melitta das Köpfchen abermals gegen seine Brust:

„Hast Du mich lieb? Hast Du mich auch noch ganz lieb?“ flüsterte sie zärtlich bittend. Und es zitterte eine Angst durch die Bitte, als wenn der Schatten des Namens erkältend über ihre Liebe dahin gefahren wäre.

„Unaussprechlich!“ hauchte er ihr zu, dicht von Lippe zu Lippe.

„Du lieber, lieber, lieber Mann!“ – flüsterte sie, jedes Wort inniger betonend.

Und wenn jene Frage ihn jetzt überfallen hätte, wäre er wohl im Stande gewesen, „nein!“ zu sagen?

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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 22, S. 353–359
[353]
14. Umgarnungen.

Von da ab fühlte Eff, daß er dem Namen verfallen war, daß der lächerliche Götze über den Frieden seiner Zukunft und über ihr gemeinsames Glück zu entscheiden hätte.

Des Namens selbst geschah keine Erwähnung. Frau Belzig hielt an sich; sie wollte die Adoption langsam heranreifen lassen, bis es Zeit wäre, sie zu pflücken. Die häßliche Grafenaffaire hatte sie gewarnt – nicht ein zweites Mal solch’ ein Fiasko!

Aber der Name war da. Er hing in der Luft, er lauerte überall. Eff war alarmirt; aus den unscheinbarsten Worten und Dingen glaubte er das Klingeln der Schellenkappe herauszuhören.

Frau Belzig’s Liebenswürdigkeit ihrem Schwiegersohn gegenüber schien keine Grenzen mehr zu kennen. Sie überschüttete ihn fast zum Ersticken damit. Lauter hübsche kleine und große Aufmerksamkeiten und glänzende Ueberraschungen. So fand er den mit Fahrplänen tapezierten „Wartesaal“ seiner Junggesellenwohnung eines Tages mit Teppichen, Vasen und Blumen salonmäßig ausgeputzt; ein kostbares englisches Vollblut war plötzlich in seinen Stall hineingezaubert zur großäugigen Verwunderung seines alten braven soliden Ostpreußen – „Aber mein lieber Walther, es ist doch nicht der Rede werth!“ beruhigte ihn Frau Belzig; „meinem Mann und mir macht es Spaß; Sie werden uns die Freude doch nicht verderben!“ – Aber seltsam, ärgerlich, wieder gespenstisch: – jedesmal, wenn er das Vollblut bestieg, kam ihm der Gedanke an den Namen hergeflogen. Der Klang desselben tönte ihm aus dem Hufschlag entgegen: man will ihn mit all’ den Liebenswürdigkeiten verpflichten; wehrlos will man ihn damit machen! Aber zum Teufel, wo ist er denn, dieser Name? Her damit! Daß er sich doch endlich zeigt und daß man doch Stellung gegen ihn nehmen kann! So oder so!

Natürlich hatte Frau Belzig nichts unversucht gelassen, um auch Adolf Eff in den Wirkungsbereich ihrer Attentate zu ziehen. Aber der Erfinder entzog sich diesen Versuchungen mit einer diplomatischen Zurückhaltung. Wollte er sich für einen Hauptkoup aufsparen, den er mit seinen völlig ausgereiften Projekten eines schönen Tages auf den Arnheim des „Unzerreißbaren“ auszuführen gedachte? Insgeheim verwünschte er den „gräflichen Windhund“ (er gebrauchte viel schlimmere Ausdrücke), der diesen Arnheim so hatte bluten lassen. Jetzt war wohl nicht der Augenblick, diese Kasse, die soeben erst ihre Fünfzigtausend an das Hirngespinst eines Namens verschleudert, um das andere Hirngespinst einer Erfindung in Anspruch zu nehmen. Vielleicht war auch ein wenig die verschüchterte Zimperlichkeit seiner Frau schuld an der Zurückhaltung. Die kleine [354] Frau, die sonst so tapfer der Noth in die Augen sah, war ein paar Mal tief unglücklich von den Belzig’s zurückgekehrt, sie gelobte, nicht mehr hinzugehen; sie könne die Luft dort nicht ertragen, nicht den Gegensatz der glücklichen Behäbigkeit und der eigenen elenden Zigeunerwirthschaft. Sie wollte zu Hause sitzen und weinen. Nicht, daß sie die paar Tausend ihres Vermögens bejammerte, die sie aus der zehnfachen Theilung des kleinen väterlichen Gutes mit in die Ehe gebracht und die mit den Projekten aufgeflogen waren; nicht, daß sie sich über die bittersten Stunden des Elends beklagte, wo sie buchstäblich hungerten – nicht das! Aber sie begann nun ernstlich an dem Genie ihres Mannes zu zweifeln, das sie bisher mit solcher Unerschütterlichkeit angebetet; sie hatte nun, so sehr sie sich dagegen wehrte, mit dem wachsenden Bewußtsein zu kämpfen, daß sie ihr junges Leben an einen Phantasten verloren. Sie saß den Tag über in der dumpfen Hofstube bei irgend einer nutzlosen Handarbeit, während ihr Gatte mit seiner Papierrolle immer nach neuen Aussichten umherlief oder am Zeichentische neue Pläne für die unersättlichen Patentämter fabricirte.

Walther hatte sich erboten, was in seinen einstweilen nur geringen Kräften stände, zur Besserung ihrer Lage beizutragen. Sie sollten das Loch ihrer Wohnung mit einem helleren und komfortableren Unterschlupf vertauschen. Sie wären ihm und seiner Verwandtschaft mit den Belzig’s dies schuldig! Später – und er deutete auf seine Heirath hin – würde sich schon Alles machen.

Bei Adolf pflegte sich dann eine Art grimmigen Humors Luft zu machen; er kehrte offen seinen Bettlerstolz heraus und rühmte sich seines Elends – der Petroleumlampe, die bei ihnen am hellen Tage brennen mußte, des erbärmlichen Kredits, der nun plötzlich gänzlich versagt hatte.

Die Sorge um den Bruder und seine Familie begann Walther mehr und mehr zu verstören. Man mußte es ihm bei den Belzigs anmerken; ein paar Andeutungen entschlüpften ihm – vielleicht hätte es nur ein Wort gekostet und es wäre Rath geschafft worden. Aber es widerstrebte ihm, das Wort auszusprechen. Er vertröstete sich auf seine Heirath, dann wollte er Jenem schon zu helfen wissen.

Nur vor Melitta vermochte er nicht Alles zu verheimlichen. „Aber warum hast Du es Papa nicht schon längst gesagt?“ rief das gute Kind. „Ihm muß doch geholfen werden!“

„Ich will nicht! Nein, das nicht! Du versprichst mir, Litta, daß Du kein Wort sagen wirst!“

Natürlich, dem Versprechen zum Trotz, waren beide Belzigs zwei Stunden später unterrichtet. Frau Belzig bestand darauf, daß sofort geholfen würde. Sie hatte solche Angst vor einer neuen Katastrophe – und man wüßte nicht, wie solch ein Projektmacher sie Alle kompromittiren könnte.

Nach einigen Tagen hatte der seufzende, aber doch schon seiner Brunnenkur wegen gehorsame Belzig einen Ausweg gefunden. Er nahm Eff in eine Fensternische.

„Ich höre, Ihr Herr Bruder sucht nach einer Gelegenheit, sich zu etabliren. Man rühmt mir ihn als eine außerordentlich tüchtige Kraft (Herr Belzig schluckte ein wenig an dem Satz, aber er brachte die liebenswürdige Lüge doch heraus). Ich hätte ’was für ihn – lassen Sie mich ausreden! Es steht in Moabit eine Fabrik zum Verkauf. Ein Protégé von mir sucht einen Kompagnon. Wie wäre es, wenn Ihr Bruder einspränge? Ich habe eine Kleinigkeit zu placiren, und ich würde mich natürlich nur in aller Stille betheiligen. Sie wie Ihr Bruder thäten mir einen großen Gefallen. Die Fabrik geht, wir werden sie schon hoch bringen! – Christbaumartikel, Lametta, Kerzenhalter, Sterne, selbst Christkindchen – ein erfinderischer Kopf wie Ihr Bruder ist da gerade am Platz.“

Walther jubelte fast auf vor Freude. Sofort griff er danach. Welch gute Menschen! Er sah nur die Güte und hatte keinen Arg, daß hinter dieser irgend ein Motiv steckte, das auf Weiteres, ja auf einem Umwege nach dem Namen hinzielte. Er eilte nach der Jägerstraße.

Als er die Treppe hinaufstieg, schallte ihm schon die helle Kinderstimme seines kleinen Neffen entgegen, der droben im Korridor des dritten Stockes auf einem Spazierstock hin und her galoppirte. Ein prächtiges Bürschchen mit den fröhlichsten Augen, das mit seinen strotzenden Bäckchen gar nichts von einem eingesickerten Kredit im Milchkeller zu wissen schien. Es freute sich unbändig über die Tüte, die ihm sein Onkel mitgebracht, und galoppirte mit Jubelgeschrei in die Stube.

Frau Eff saß beim röthlichen Schein einer Lampe und stickte. Die kleine Stube empfing vom Tage wirklich nicht mehr Licht als ein Keller. Die Hälfte des einzigen Fensters war einer durch eine Tapetenwand abgetrennten Nebenstube zugetheilt, und die andere Hälfte blieb durch die schmutziggraue Wand eines Vorbaues verdeckt.

„Wie geht’s, meine liebe Schwägerin?“

Wie die kleine Frau aufsprang! Es war ihr jedesmal, als brächte der Schwager mit seiner freundlichen Miene etwas von der Tageshelle in das Verließ. Sie entschuldigte wie üblich die Unordnung des Raumes und strich sich über das mattblonde Haar.

„Wie geht’s?“

Sie hob die dünnen Schultern in dem viel zu weiten Morgenrock.

„Nun, man könnte anfangen aufzuathmen,“ seufzte sie – aber sie zuckte von Neuem mit den Schultern. „Er hat eine Stelle als Zeichner in einem technischen Bureau angenommen, für heute und morgen – länger hält er es doch nicht aus. Die Projekte, die unseligen Projekte! Bitte, nehmen Sie Platz.“

Er fuhr, ohne sich zu setzen, mit der freudigen Ueberraschung heraus.

Die kleine Frau war ganz bestürzt vor Freude. Die hellen Thränen stürzten ihr aus den Augen, und sie hielt Eff’s Hand mit ihren beiden krampfhaft umklammert, als könnte ihr das unerwartete Glück mit dieser Hand entschlüpfen. „Wie ist es möglich! Nicht möglich …“ stammelte sie.

Da nahten Adolf’s hastige Schritte im Flur. Er warf beim Eintreten die Papierrolle auf den Tisch, daß sie hohl erklang. „Du hier?“ sagte er ohne weiteren Gruß zu Walther.

Und zu seiner Frau gewandt, deren Thränen er gewahrte: „Was hast Du nur wieder? Es ist doch nicht zu ändern!“

Er warf den Hut neben die Rolle. „Ich habe natürlich die Sache wieder aufgegeben. Eine Holzhackerarbeit, und man kommt sich ganz dumm dabei vor!“

Sie überhörte es. „Denk’ Dir, Adolf – welch eine Ueberraschung! Man bietet Dir eine Fabrik an! Welch ein Glück! Der liebe Gott läßt uns doch nicht im Stich!“

„Man muß sich selber nicht im Stich lassen,“ brummte er mit spöttischen Falten um die vom zerzausten Schnurrbart überhangenen Lippen.

„Aber, Adolf verstehst Du denn nicht?“ jammerte sie. „So höre doch!“

Er that noch ein paar Schritte und blieb dann stehen, auf Walther’s Mittheilung hinhörend, doch ohne den Sprecher anzusehen.

„Eine Fabrik – eine Fabrik – i wo!“

Es kam ihm gar nicht zu märchenhaft vor, und er that ein paar ganz nüchterne, geschäftsmäßige Fragen über diese vom Himmel gefallene Fabrik, die ihm Walther nur zur Hälfte beantworten konnte.

„Die Hauptsache ist aber doch, daß Du Dich freust, Adolf!“ rief dieser ungeduldig. „Die Hauptsache ist doch, daß Ihr aus Eurem Elend herauskommt!“

„Lametta – Kerzenhalter – Christkindchen –“ murmelte Adolf, wieder das Zimmer mit großen Schritten messend. „Hm!“

Die Beiden sahen ihn mit wachsendem Staunen an.

Plötzlich hielt der Erfinder vor ihnen, und mit einem geradezu unheimlichen Grinsen seiner gelblichen Zähne platzte er heraus:

„Und mein Aspirator? Mein Aspirator? Was wird aus dem? Wie?“

Er reckte sich in die Höhe und kam sich ungeheuer groß vor in diesem Augenblick. Er schien sich an ihrer Starrheit zu weiden.

Dann lief er wieder die vier Schritte vom Sofa bis zur Thür und zurück.

„Ein Dreier das Schäfchen!“ äffte er höhnisch. „Das fehlte noch! – Ein Dreier das Schäfchen!“

„Mensch!“ donnerte ihn Walther an. „Du bist dem Verhungern nahe, man offerirt Dir eine Fabrik und Du hängst Dich an Deinen Blasebalg …“

[355] „Ich habe Dir schon wiederholt gesagt, Walther, daß ich derlei Redensarten …“

„Du hast Dich nun zu entscheiden,“ unterbrach ihn Walther mit schärfster Stimme; „willst Du, oder willst Du nicht – willst Du nicht, so …“

Frau Eff saß mit offenem Munde wie versteinert. Sie stierte voll Entsetzen den Hin- und Herwandelnden an.

Walther vollendete für sich: „So wird man Dich in eine Anstalt einsperren!“

„Warum soll ich nicht? – Warum soll ich nicht?“ antwortete Adolf zögernd. Das Grinsen auf seinem Antlitz verschwand. Er meinte es ja nicht so schlimm – sie hätten ihn doch kennen müssen, den Bramarbas, der in diesem Erfinder steckte.

„Nicht übel,“ lenkte er ein, aber doch immer noch die Schultern mitleidig zuckend. „Ich könnte ja nebenher meinen Aspirator … übrigens lassen sich allerlei hübsche kleine Dinge in der Branche konstruiren.“

Die Manie des Erfinders hatte sich schon sofort auf die neue Beute gestürzt, und es schossen in seinem Gehirn bereits allerlei krause Plänchen umher: ein sich selbst drehender Christbaum, ein selbstsingendes Christkindchen, ein sich selbst anzündender Baum und Anderes.

Das Staunen der Beiden verlor sich allmählich in einem Lachen über das spaßhafte Kaleidoskop seiner Erfindungen, das er vor ihnen glitzern ließ; er wollte schon den Weihnachtsbaum des nächstjährigen Festes zu einem staunenswerthen Wunderding umgestalten!

Natürlich war er nicht so schlimm, wie er sich gab. Und die Freude über Belzig’s Offerte kam auch bei ihm zum aufrichtigen Durchbruch. Aber zuletzt verdarb er doch wieder die frohe Stimmung.

„Apropos,“ sagte er, seine sehnige, nervös ausgearbeitete Hand auf des Hauptmanns Schulter legend, „wir werden uns doch den Belzigs gegenüber revanchiren müssen, nicht? Wir müssen ihnen einmal wieder einen Gefallen thun! Ich höre durch Perkisch (Walther runzelte die Stirn bei dem Namen), daß man ihnen einen ungeheuren Gefallen thun könnte –“

„Und was!?“ rief Walther verwundert.

„Du thust wie ein Waisenknabe. Merkst Du denn nicht? Die Sache ist doch sehr einfach! Du könntest sie nicht glücklicher machen, als wenn Du Dich adoptiren ließest. Du weißt, von wem.“

Walther warf die Hand mit einem Ruck von seiner Schulter.

„Ich bitte mir aus, Adolf, daß Du solche Scherze lässest!“ brauste er auf.

„Nun, nun, was wäre dabei? Unser Name ist doch so sehr hübsch nicht … mir ist er längst gut genug – auch wird ihn mein Eff-Aspirator herausreißen – aber Du …“

„Laß das!“ drohte Walther.

Adolf aber ließ nicht nach:

„Ich meine, Du könntest wohl einen hübscheren Namen gebrauchen. Wir wären Dir nicht böse; Tante höchstens, für die es keinen schöneren Klang auf der Welt giebt, als unsern Namen. Geschmackssache! Ich meine, Du könntest nichts Gescheiteres thun, als umsatteln. Uebrigens machst Du sie Alle dort glücklich damit. Du kennst die Weiber noch nicht. Glaubst Du, daß man Dir Ruhe lassen wird, so lange der Name zu haben ist?“

„Ein- für allemal, laß den Unsinn!“

Und Walther gab sich ungeheure Mühe, recht aufgebracht zu scheinen. Er log sich selbst vor, daß er es sei, als er die Treppe hinunterstieg. Doch aus dem Klirren seiner Sporen klang schon wieder die ehrwürdige Jahreszahl 1295.




15.0 Alarm.

Olga von Gamlingen hatte am Morgen im Komptoir die Nichtablieferung einer fälligen Kolorirung entschuldigen lassen: ihr Vater sei seit gestern erkrankt.

Herr Belzig war beim Dejeuner mit einem Kopf voll Geschäftssorgen erschienen, und so kam es, daß er die Nachricht von der Erkrankung erst beim zweiten Gange in die Unterhaltung hineinwarf.

„Krank?, O!“ rief Frau Belzig kurz auffahrend. Das war wohl nur erst der Ausdruck eines rein äußerlichen, zerstreuten Bedauerns, den uns die stereotype Wohlerzogenheit auf die Lippen drängt.

Melitta fiel gleichfalls mit einem „O!“ ein. Eff, der mit zu Tisch war, horchte theilnehmend auf.

„Woher weißt Du? – Es ist doch nicht schlimm?“ fragte Frau Belzig gleich hinterher. Dies konnte eher schon einen Klang aus dem Herzen, ein Stück wirklicher Theilnahme bedeuten.

„Die Kleine ließ es heute Morgen im Komptoir vermelden; seit gestern hat er sich gelegt.“

Frau Belzig lehnte Gabel und Messer mit einem leichten Nachdruck gegen den Rand des Tellers.

„Wie Du bist, Belzig! Heute Morgen? – Und seit gestern ist er krank! – Warum hast Du uns das nicht eher mittheilen können?“

Sie ließ die Hände auffällig vom Tische herab in den Schoß sinken, um ihr Erstaunen über seine Nachlässigkeit zu bekräftigen. Dies war der volle Alarm: wenn der Freiherr stirbt, so haben wir, die wir auf seinen Namen lauern, die wir bereits darauf Beschlag gelegt zu haben glauben, einfach das Nachsehen!

„Ich werde hingehen und mich erkundigen,“ beschwichtigte Melitta mit einer gewissen Hast. „Ich wollte Walther ein Stück bis nach dem Königsplatz begleiten; ich werde statt dessen hingehen. Es wird wohl nicht so schlimm sein!“

Frau Belzig schien das nicht gehört zu haben. „Friedrich!“ rief sie aufgeregt.

Friedrich, der hinter ihr gestanden, glitt mit einem tonlosen „Gnädige Frau!“ an ihre Seite.

„Lassen Sie gleich nach Tische anspannen! – Ich werde selbst nachsehen; man darf das arme Ding, die Olga, doch nicht im Stiche lassen!“

Gleich aber faßte sie sich, daß die Andern nichts von ihrer geheimen Sorge merkten: „Olga ist zwar sonst ein resolutes Ding …“

„Ich dachte, Du hättest heute Deine Bazarsitzung,“ warf Herr Belzig ohne jede Absicht ein.

„Ah so!“ Sie hatte das vergessen. „Nun, es ist ja nur ein Moment! Ich mache nur den Umweg!“

„Ich begleite Dich, Mama!“

„Wie Du willst, mein Kind. Wenn Sie ihr Urlaub geben, Walther! Nun, ich dächte aber, ein Spaziergang thäte Dir besser. Ich werde allein fahren.“

Noch ein heuchlerisches Lächeln der Zärtlichkeit schenkte sie dem Paar; dann richtete sie mit einem sichtlichen Zwange das Gespräch auf ein anderes, gleichgültiges Thema.

Doch die Nachricht von der Erkrankung des Freiherrn schlich wie ein Schatten durch das Gespräch. Herr Belzig war ein wenig verdutzt geworden: welch’ ein Wesen seine Frau aus der einfachen Erkrankung zu machen im Stande wäre; nun, er pflegte über solche Dinge nicht tiefer nachzudenken, und sein zerstreutes Kopfschütteln, welches das Unbegreifliche eben unbegreiflich ließ, glitt über den Fall hinweg.

Aber Frau Belzig’s Tochter? – Melitta fiel es schwer, die Unbefangenheit aufrecht zu halten. Sie hatte sich so erschreckt über sich selbst – nicht einmal über die Krankheit! Wie ein Blitz hatte es ihre Seele gestreift. Da ist ein Leben in Gefahr, das Leben eines Freundes, des besten sympathischsten Menschen, und man bekommt eine Gier, ihn am Mantel festzuhalten, daß er nicht entwischt – nicht des Menschen wegen, nein, des Mantels wegen! Es schauderte sie: Heiliger Gott! wie ist das häßlich! Bin ich denn solch ein Ungeheuer?

Und Frau Belzig’s Schwiegersohn? Mit einer betäubenden Deutlichkeit waren gewisse Gedanken vor ihm aufgezuckt: – wenn das eintrifft, wenn der Freiherr stirbt – dann ist ja jene Sache am einfachsten erledigt; dann hört der Alp auf; dann giebt es keine Versuchung mehr; dann brauche ich nicht Ja! und nicht Nein! zu sagen; dann geschieht meinem Namen kein Unrecht; dann habe ich später nichts zu bereuen; dann mache ich mich nicht lächerlich; dann ist auf einmal der Schatten, der sich zwischen mich und sie stellt, verweht – ja, es ist die einfachste Erledigung …

Frau Belzig war nach ein paar Stunden zurückgekehrt. Sie hatte die Komitésitzung aufgegeben. Das wollte viel sagen; denn sie hätte dort einen Nachmittag über in der Gesellschaft von einigen Excellenzen, einigen wirklichen und unwirklichen Geheimräthinnen und ein paar Damen aus der höheren aristokratischen Luftschicht, die sogar an den Hof heranreichte, über das Wohl [356] von einem Dutzend frischbekehrter Heidenseelen zu berathen gehabt. Aber der Krankheitsfall drängte alles Andere bei Seite.

Es ginge schlecht, sehr schlecht! Es wäre Alles zu befürchten! Sie vergaß im ersten Augenblick ihre Aufregung zu verbergen. Als wenn es sich um eins der Ihren gehandelt, so mächtig war sie erregt.

Es wäre irgend etwas hier in der Brust nicht in Ordnung; aber man müßte erst den Medicinalrath hören. Sie hatte fast zwei Stunden damit verbracht, den Freiherrn mit seinem „ze … ze … ze …“, das jetzt so matt klang, zu bereden, daß ihr Medicinalrath herbeigezogen würde. Der Kranke wollte nichts davon wissen, seinen biederen alten Oberstabsarzt, einen a. D. wie er, der sich so aufopfernd die Mühe gab, die vier Treppen hinanzukriechen, mit seiner wankenden Hand nach dem Puls zu fühlen und ein Recept nach dem anderen hinzukritzeln durch einen dieser hochtrabenden modernen Besserwisser mit ihren erschreckenden Honoraren ins zweite Glied zu rücken. Dann war sie selbst nach der Behrenstraße zu ihrem Medicinalrath geeilt und hatte in dem fürstlich ausgestatteten Wartezimmer fast eine halbe Stunde gewartet, um persönlich den kostbaren Mann um die große Gnade eines sofortigen Besuches bei dem Kranken anzuflehen.

Darauf zu den Diakonissinnen! Hier hatte sie Glück gehabt: Schwester Jemina war eben von einem Sterbebett zurückgekehrt, wo sie vier Tage und Nächte ununterbrochen gewacht. Schwester Jemina, eine Komtesse R., war in allen aristokratischen Krankenstuben besonders beliebt, eine zarte Gestalt mit wachsgelbem Teint und verblaßten Augen, von puppenhafter Sauberkeit; sie schlief nie und sprach nichts; den Gegenständen, die sie berührte, schien sie vollkommene Klang- und Geräuschlosigkeit anzuzaubern.

Der Medicinalrath hatte Nachricht über den Zustand des Kranken versprochen, doch die Nachricht kam nicht. Frau Belzig hielt es nicht mehr aus: diese Angst um den Namen, den ihr der Tod mit höhnischem Grinsen zu entreißen drohte, und die qualvolle Heuchelei, die Angst zu verbergen! Heimlich, noch spät am Abend, da sie Gesellschaft hatten, sandte sie Friedrich nach der Derfflingerstraße. Der Kranke schliefe, berichtete der zurückkehrende Diener, die Schwester Diakonissin wäre da – der Assistent des Herrn Medicinalraths hätte vor einer Stunde seinen Besuch gemacht – das Fräulein arbeitete.

„Vor einer Stunde erst? Nicht möglich! – und nicht der Herr Medicinalrath selbst?“

Frau Belzig war sehr aufgebracht über die Unzuverlässigkeit des Medicinalraths. Aber es ist nichts dagegen zu machen, man darf es mit dem hohen Herrn nicht verderben, und man muß sich geduldig in sein Belieben fügen. Uebrigens, wenn es wirklich noth thut, ist er als Retter ja doch zur Stelle!

Und ihre Gedanken verließen nicht mehr den vierten Stock in der Derfflingerstraße, während sie lachte und plauderte und mit anscheinender Begeisterung dem Spiel eines bekannten Pianisten lauschte, der zu Gast war.

*               *
*

Vor dem „Goldenen Stiefel“ in der Derfflingerstraße hielt ein eleganter Doktorwagen – der Medicinalrath! Gott sei Dank!

Frau Belzig war in dem nassen Schneeschlamme, jetzt um die elfte Morgenstunde, zu Fuß hingeeilt, daheim brauchten sie nichts von dem Gang zu wissen.

Auf der Treppe begegnete ihr der Assistent.

„Wie geht’s denn dort oben, Herr Doktor?“ ries sie hochathmend dem herabeilenden Arzt entgegen.

„Ah Sie, gnädige Frau!“ warf er in seiner breiten ostpreußischen Aussprache hin. Er hatte sie offenbar noch nicht erkannt, nur dieses sonoren Alts erinnerte er sich, auch blieb es bei dem halbausgeführten Versuch, den tief im Nacken des rauhen schwarzen Kopfes sitzenden künstlermäßigen Rundhut zu lüften.

„Sie sind verwandt mit Herrn Gamlingen?“

Er gehörte dem scharfen Fortschritt an und suchte etwas darin, das „von“ und das „Baron“ und dergleichen mittelalterlichen Firlefanz einfach von dem Namen des Patienten zu streichen; später, wenn er etablirt wäre, würde er auch die Titel herausschneiden!

Ohne die Antwort abzuwarten, ließ er zwei wunderschöne, volltönende lateinische Namen durch den Treppenflur erschallen, hob die breiten flachen Schultern und senkte das Stachelgesicht fast wagerecht auf die eine Schulter. „Man muß abwarten – Herr Gamlingen ist kein Jüngling mehr!“

So stand es! Das war deutlich genug! Der Kranke war also nicht zu retten! – Also der Name fort – verloren, vernichtet! Es war zu spät!

Sie fühlte eine plötzliche Schwäche in den Knieen, als sie weiter hinaufstieg, und sie mußte auf dem Absatz des dritten Stockes anhalten. Eine gewaltige Blutwelle fluthete ihr zum Kopf, sie fühlte das Erniedrigende ihres Beginnens.

Wie ein flüchtiger Traum stand die Geschichte eines Processes vor ihr, die sie vor vielen Jahren gelesen. Eine Erbschleicherei, wie ein Weib das Sterbelager eines alten Mannes viele Tage und Nächte belagert, um ein paar elender Banknoten willen … Ist sie nicht selbst eine solche Verbrecherin? Zwar nur ein Name, ein Hauch – ein Nichts – aber dies Nichts wiegt für sie den Inhalt eines Geldschrankes auf! – Ist sie nicht gekommen, um diesen Namen zu – erschleichen? Das ist das richtige Wort! Eine ungeheure Scham befiel sie. Sie legte eben die Hand auf die abgegriffene Geländerlehne, um weiter zu steigen; doch die Hand zuckte zurück: ich darf nicht hinauf! ich will nicht so dort erscheinen!

Und eine Furcht ergriff sie vor den großen blauen Kinderaugen Olga’s und vor den stillen verblaßten Dulderaugen Schwester Jemina’s, als wenn diese sofort erkennen würden, weßwegen sie käme.

Sie wollte umwenden und wieder hinabsteigen, man würde ihr Kommen und Gehen nicht bemerkt haben – da tönte das Klirren von Sporen die Treppe herauf. Ihr Schwiegersohn! – Welch eine Ueberraschung!

Nun, sehr einfach. er wollte, ehe er sich in den Dienst begab, den kleinen Umweg nicht scheuen, um sich nach dem Befinden des Oberstlieutenants zu erkundigen und seiner Schwiegermama am Mittag zu berichten. Eine Liebenswürdigkeit, die bei ihm fast selbstverständlich war und gar nichts Auffallendes hatte.

Aber wie sie seine hohe Gestalt ruckweise auf den Stufen vor sich aufsteigen sah, durchfuhr sie ein schneller Gedanke: kommt – kommt er auch deßwegen?!

Doch nur ein Blick in sein offenes Antlitz, nur der Klang seiner sympathischen Stimme, und gleich scheuchte sie den Gedanken fort.

„Haben Sie Nachricht? – Kommen Sie oder gehen Sie, liebe Schwiegermama?“

„Ich wollte eben hinauf, mich zu erkundigen,“ stammelte sie, noch ganz überrascht. „Der Arzt, den ich eben traf scheint durchaus nicht zufrieden.“

Der Hauptmann war stehen geblieben und sah sie bestürzt an. Es war wirklich nur der ehrlichste, aufrichtigste Ausdruck inniger Theilnahme, nichts weiter!

Aber gerade dieser Ausdruck war es, der von Neuem den Dämon in ihr erweckte. wenn es dennoch nicht zu spät wäre! Wenn der Zufall dieses Zusammentreffens ein Fingerzeig wäre, daß dennoch Alles versucht werden müßte, den Namen zu retten! Was ließ sich vielleicht nicht durch Mitleid und Theilnahme und die Gunst der Stunde erreichen …

Und sie stiegen gemeinsam die Treppe hinan.




16.0 Herr von Stachvogel.

Wie war doch Alles geschehen?

Er hatte nicht mit eintreten und nur an der Thür nachfragen wollen, wie es stehe, aber seine Schwiegermutter bat ihn, „einen Moment“ zu warten, sie käme selbst gleich wieder mit.

Der Kranke lag in der großen Stube. Man hatte ihn auf Geheiß des Doktors aus dem dumpfen Alkoven nach dem luftigen Raum herübergebettet. Während Frau Belzig dort eintrat, um selbst nach dem Kranken zu sehen, war Eff in der Nebenstube am Fenster stehen geblieben und schaute in das Schneegestöber hinaus.

Er hörte von der nahen Küche her Olga’s trippelnden Schritt und die vorsichtige Hantirung mit den Geschirren. Aus der halbgeöffneten Thür des Krankenzimmers kamen unregelmäßig an- und abschwellende Athemzüge, dazu ein unterbrochenes Flüstern.

Frau Belzig’s kräftige Stimme hatte Mühe, sich mit dem Zwang des Flüstertones abzufinden. Walther unterschied einzelne Worte, es war von Olga die Rede. Gewiß eine Andeutung, daß der Kranke sich des Kindes wegen keine Sorgen machen solle. Wieder wurde es still – dann war es Walther, als käme sein eigener Name von dort hergehuscht.

[358] Sein Name! Was bedeutet sein Name dort? Er hatte zuerst nicht den geringsten Verdacht, daß es das wäre und daß es sich darum handelte!

Plötzlich stand Frau Belzig neben ihm; ihre Augen funkelten aus dem aufgeregten Gesicht.

„Lieber Walther,“ – und sie stockte.

„Nun?“

Sie zuckte zusammen. Wollte er ihr Muth machen mit diesem „Nun,“ ihr die schwierige Aufgabe erleichtern? Er kam ihr entgegen – sie brauchte ja nicht so vorsichtig zu sein!

Und all die geplanten Umwege, auf denen sie an ihr Ziel heranschleichen wollte, kurz abschneidend, ergriff sie seine Hand mit ihren beiden und drückte sie krampfhaft: „Jetzt ist es – jetzt ist es Zeit …“

Als wenn sie voraussetzte, daß Alles vorher mit klaren Worten verabredet worden wäre und daß er nun die Art und Weise der Ausführung eines gemeinsamen Planes durchaus selbstverständlich fände.

Er kehrte langsam das Gesicht von dem Schneegestöber ab nach ihr hin. Wieder ein Stöhnen von drinnen. „Kommen Sie …“ flehte sie mit angstvollen Augen.

Und kein Nein! und kein Widerstand! Er folgte.

Der Freiherr lag an der Längswand des Zimmers gebettet, unter den friedericianischen Bildern und unter dem Prachtstück des Stammbaumes. Eine gewisse poetische Laune hatte es gefügt, daß sich der letzte Gamlingen zu Füßen des stolzen Geschlechterbaumes zur letzten Ruhe streckte.

Das Antlitz des Kranken war fieberisch geröthet; aus den halbgeöffneten Lippen stieß der mühsam arbeitende Athem der leidenden Brust hervor.

Walther hörte, als er neben dem Bette stand und dann durch einen Wink von Frau Belzig veranlaßt wurde, sich auf dem einen Stuhl niederzulassen, während sie auf dem anderen Platz nahm: „Lieber, guter Freund –“ hörte er sie auf den Kranken einreden, „es ist gut! Sie können ganz ruhig sein; es wird Alles geordnet werden! Da ist er – er willigt mit Freuden ein –“

Nichts davon! Wer willigt ein? Wer läßt es geschehen, daß man ihm den alten ehrlichen Namen seiner Väter wegnimmt und einen andern dafür giebt, den er nicht begehrt? Aber kann man denn aufspringen und Nein sagen – jetzt in Gegenwart des Schwerkranken?

Doch Frau Belzig hatte keine Zeit zu verlieren! „Gern willigt er ein!“ rief sie mit schrillem Ton. „Er wird Ihnen ein treuer und braver Sohn sein – nicht wahr?“

Das „nicht wahr?!“ schien auf sie Beide hingewandt. Als wollte sie Beide damit aufwecken, jenen aus seinen Fieberträumen, diesen aus seiner unerklärlichen Betäubung.

Es war immer noch Zeit aufzuspringen und Nein! zu sagen oder irgendwie durch eine Geste, durch ein hinhaltendes Wort auszuweichen. Da sah Walther, wie die matte Hand des Kranken mit dem abgegriffenen Wappenring sich über die Bettdecke in Bewegung setzte und näher und näher tastete, mit ruckweiser Anstrengung, eine andere Hand suchend: die Hand dessen, der damit zu geloben bereit wäre, daß er den Namen des untergehenden Geschlechtes stolz und hoch wie eine Standarte im Kampfe des Lebens tragen würde. Die Lippen des Freiherrn bebten leise, und Walther fühlte sich plötzlich wehrlos diesem Beben, dieser tastenden Hand gegenüber. Noch eine letzte Spur des Widerstandes – in einem Wirbelwind stürmten allerlei Gedanken an ihm vorüber: was man dazu sagen würde, wenn es geschähe? – die ausweichend höflichen, versteckt ironischen Gesichter der Kameraden, sein gutes ängstliches Mütterchen – ob er nicht vor sich selber an Achtung einbüßen würde? Dann aber ein neuer Wirbelwind, der jenem ersten folgte: die kindliche Freude Melitta’s an dem hübschen Spielzeug. Wie glücklich sie der Besitz desselben machen, wie der Name sie kleiden würde! Wie er sie liebt, ach wie er sie liebt! und wie er Alles zu thun bereit sein könnte, ihr diese Liebe zu bezeugen! Und dann die unwiderstehlichen Zauberworte: Karrière und Avancement – es bedurfte nur noch des einen großen, angstvoll flehenden Blickes seiner Schwiegermutter nach der auf der Bettdecke umhertastenden Hand, um die letzte Spur des Zögerns entzwei zu schneiden. Da schob er seine Hand der andern entgegen.

Es war geschehen! Er fühlte die fieberheiße pochende Hand seines Adoptivvaters schwer auf der seinen ruhen.

Am Nachmittag fand die Verhandlung über die Adoption statt, die von Frau Belzig beschleunigt worden war: sie traute dem Tod, dem großen Eskamoteur, und seinen überraschenden Kunstgriffen nicht.

Ein seltsames Testament – und der Anwalt konnte im ersten Augenblick, da er den Gegenstand der Verhandlung erfuhr, eine kurze Verwunderung nicht unterdrücken. Nun, ein guter Name trägt Zinsen wie ein anderes Kapital, und man nimmt auch derlei Schätze nicht gern mit ins Grab. Der Officier dort hat Recht; mit seinem erschreckend einfachen Namen wird er nichts anfangen können – ans Werk also!

Die starke prustende Gestalt des Anwalts, unter der das zimperliche Salonstühlchen beim Niedersitzen ächzte, nahm dicht an dem zum Bette gerückten Tische Platz. Er begann in trockener Geschäftsmäßigkeit die Sache zu erledigen. Alle Vorbedingungen waren bereits auf ihre Richtigkeit geprüft; das Nichtvorhandensein leiblicher Nachkommen war festgestellt. Olga hatte eine Stunde gebraucht, um die Abschrift jenes Schiffrapportes in den Papieren des Vaters ausfindig zu machen, wonach Heinrich von Gamlingen, der Aelteste, auf der Ueberfahrt verstorben und seegemäß bestattet worden war. Hatte der Verstorbene denn keine leiblichen Nachkommen, die seinen Namen beerbten? Die Rubrik „Familienstand“ wies einen flüchtigen Federstrich auf, der „Vakat“ bedeutete, wie auch ein ähnliches Vakatzeichen die Frage nach dem Beruf mit einer gewissen Nichtachtung für die wohl nicht glänzende Erscheinung des Verstorbenen beantwortete.

Eine Tortur, den Kranken dort liegen zu sehen mit seinem fieberrothen Gesicht, das vom schnell hauchenden Athem leicht bewegt wurde. Die eine Hand vollführte kleine, regelmäßig ausholende eigensinnige Streichbewegungen über die Decke hin, als wollte sie irgend etwas Lästiges, das in seiner Phantasie da war und nicht weichen wollte, beseitigen. Hatte er denn ein Bewußtsein des wichtigen Aktes? Vorhin hatte er noch Zeichen seiner Theilnahme gegeben. Aber er wollte vielleicht schlafen – er bedurfte der Ruhe; man sollte ihm doch die letzte Wohlthat dieses Schlafes gönnen!

Walther hatte vor Beginn der Verhandlung Einspruch erhoben: man möchte es doch aufschieben!

„Aufschieben? Ich bitte Sie –!“ fuhr Frau Belzig entrüstet auf. „Bis wann … bis wann wollen Sie denn …“

Sie erschrak selbst über die Brutalität dieser Worte. Und in den weichen Ton zurückfallend, verbesserte sie sich: „Wir werden ihn doch jetzt nicht im Stiche lassen? – Sie haben es ihm doch zugesagt! Er ist so glücklich.“

Das Protokoll wurde mit vollster Gemächlichkeit aufgenommen. Walther saß und sah die Feder über das Papier dahinschleichen. Ist denn die Pein nicht bald zu Ende? – und er horchte auf den breitgedehnten Athem des Schreibenden, der mit seinem Keuchen das Zimmer beherrschte und hinter dem der dünne Hauch des Kranken fast verschwand. Olga stand am Fenster, das Gesicht gegen den aufgelehnten Arm gebeugt. Frau Belzig saß auf der anderen Seite des Notars. Auch ihre Augen schienen das Kritzeln der Feder beschleunigen zu wollen. Mit fieberischer Ungeduld wechselten ihre Blicke zwischen der Feder und dem Antlitz des Kranken.

Hier und da schwebte Schwester Jemina’s Schattengestalt durch die Stille. Das war die andere Tortur. Als wenn Walther sich vor ihren großen, grabesstummen Augen fürchtete, die kein Weinen und kein Lachen, keine Verwunderung und keine Leidenschaft zu kennen schienen. Sie ist eine geborene Komtesse, aber sie hat sich freiwillig ihres glänzenden Namens entkleidet, um sich als Handlangerin in den schweren Dienst des Samariterthums zu stellen. Und wir Erbärmlichen, die wir gekommen sind, einem Sterbenden mit gierigen Händen solch schillernden Fetzen, den jene fortgeworfen hat, zu entwinden!

Endlich war das Protokoll zu Ende. Mechanisch, mit gedämpfter Stimme las es der Notar; bei dem Objekt selbst hob sich seine Stimme klarer, und er buchstabirte mit aufhorchender Vorsicht die einzelnen Silben, als handelte es sich um die kostbaren Ziffern eines Vermögens. Dann versank er wieder in den gedämpften Ton. Plötzlich öffnete der Kranke die Augen, seine Lippen wisperten etwas. Dann kam deutlich ein Name hervor.

„Herr von Stachvogel …“ sagte er, wandte das Köpfchen langsam nach der Stube und schien mit den zwinkernden Augen Jemand zu suchen.

[359] Alles horchte auf. Was soll das?

Nur Walther verstand es. Stachvogel, der jetzige Inhaber der n-ten Division, war doch eine kurze Zeit lang der Adjutant des Oberstlieutenants gewesen, ein Adjutant, auf den man sich in allem Schriftlichen verlassen konnte, wie der alte Herr erzählte. Also handelt es sich nach dem Fieberwahn des Sterbenden um einen schwierigen Bericht, welchen ihm Stachvogel soeben vorgetragen.

„Papa, lieber Papa!“ flehte Olga.

„Lieber, guter Freund, was ist Ihnen? – Hören Sie denn nicht?“ jammerte Frau Belzig.

„O, er weiß sehr wohl, um was es sich handelt!“ nickte er.

Da wird ihm auf einer Unterlage ein Stück Papier zugeschoben – Jemand drückt ihm eine Feder in die Hand, und ein anderer Jemand stützt ihm den Kopf. Eine kurze Weile starrt er die Schrift auf dem Papier an. Wieder nickt er: Aha, er soll das unterschreiben! Die Feder entfällt ihm – abermals wird sie ihm schreibrecht in die Finger gedrückt. Da fliegt ein Lächeln über sein Antlitz – ein bedauerndes, zweifelndes Lächeln: das da soll er unterschreiben? Nein, das kann und darf er nicht! – Und langsam, langsam wiegt er ein paarmal verneinend den Kopf hin und her. Dann mit einer Anstrengung wendet er sich nach der Stube hin an den Jemand, den er vorhin gesucht und der wohl jetzt da sein muß.

„Ze … ze … ze … aber die Brigade …“ stammelt er, während auf seinem Antlitz das Lächeln einem Ausdruck bedenklicher Wichtigkeit weicht, „aber was wird die Brigade sagen? … Herr von Stachvogel, was wird die Brigade …“

Herrgott! was will er? Was hat er mit der Brigade, jetzt in dieser Stunde?

Es ist der fällige Bericht an die Brigade. Stachvogel, sein Adjutant, hat wieder einmal einen zu schneidigen Bericht losgelassen, der bei der vorgesetzten Brigade Anstoß erregen wird. Stachvogel ist zu scharf und er, sein Vorgesetzter, der den Bericht mit seiner Unterschrift decken soll, muß die Schneid’ ausbaden. Er zögert noch zu unterschreiben, wie er es „damals“ öfter gethan. Aber Stachvogel läßt nicht nach, mit stummer Beharrlichkeit, die Spur einer feinen Ironie um die Lippen unterdrückend, wartet er immer noch.

Der Oberstlientenant kann nicht anders, er kann den Druck dieser Beharrlichkeit nicht vertragen. Es hilft kein Sträuben – er muß schließlich doch unterschreiben! Stachvogel will es so – wohlan!

Walther war aufgestanden, mit einer abwehrenden Bewegung trat er an das Bett: er ist nicht bei Sinnen – er phantasirt! man darf ihn das wichtige Dokument nicht unterschreiben lassen – jetzt nicht! – Es wäre ein Verbrechen! – hat er mit seinem winkenden „Nein“ nicht deutlich genug gesagt, daß er nicht unterschreiben will?

Der Rechtsanwalt nimmt aus einer runden Lackdose, die offen neben dem Tintenfasse steht, eine sehr geräuschvolle Prise; und das leichte Heben seiner Schultern, mit dem er Walther’s erregten Blick abwehrt, scheint zu sagen: was geht es mich an! Unterschreibt er, so ist es gut – unterschreibt er nicht, so ist es auch gut! Die Form ist die Hauptsache. Bah, es handelt sich ja doch nur um einen Namen – welch ein Wesen Ihr davon macht!

Plötzlich hat der Kranke die Feder fester gefaßt und ein fein kreischender Ton gleitet über das Papier. Sein Name! Da ist er! Er hat unterschrieben! Ganz fest und sicher sieht der Namenszug aus: „Sehen Sie, Herr von Stachvogel, ich hab’ doch Kourage und nehme es dennoch mit der Brigade auf!“

Dann schmiegt sich das Köpfchen wie Schutz suchend in das Kissen und wendet sich langsam mit emporgezogenen Schultern nach der Wand hin – eine duckende Bewegung, als gälte es des Wischers gewärtig zu sein, den die Brigade auf den allzu schneidigen Bericht austheilen wird.

„Nun?!“

Frau Belzig’s Ruf weckte Walther aus dem betäubenden Starren. Da ist das Protokoll, er soll seinen Namen unter den anderen setzen. Warum zögert er?

Nein, es geht nicht! Er darf nicht … sein Gewissen sträubt sich dagegen! Der andere Name ist nicht mit klarem Bewußtsein dort hingesetzt worden. Die Unterschrift gilt nicht! Wir begehen einen Raub an diesem Namen …

Wie ist es dennoch geschehen?

In der Thür zeigte sich das Dunkel einer Gestalt. Walther wähnte zuerst, es sei Schwester Jemina, vor deren grabesstummen Augen er solche Scheu empfand. Dennoch wandte er den Blick dahin – Melitta, seine Braut! Ein kurzes Ah! der Ueberraschung, ja der Erlösung entfuhr ihm. Wieder war die Sonnenhelle da, die sich über die Bahn seiner Karrière breitete, wieder fand er sich geblendet von dieser Helle. „Ihretwegen!“ rief es in ihm. Da nahm er die Feder und mit einem herausfordernden Trotz warf er seinen Namen hin.

Herr von Stachvogel erschien nicht mehr an dem Lager des Sterbenden, und die Brigade ließ ihm drei Tage lang Ruhe. Er litt geduldig und sagte nichts, nicht einmal sein altes, trauliches „Ze … ze … ze …“ kam über seine Lippen. Am Morgen des vierten Tages stellte sich der Wahn nochmals ein. Olga fragte ihn, da er gerade aus einem langen Schlummer erwachte, wie es ginge? Zuerst wollte er ohne Antwort das Köpfchen nach der Wand hindrehen, aber das Frühroth hatte die Spiegelscheibe des Stammbaumes mit einem gewaltigen Purpur übergossen, und er schreckte zurück vor diesen Flammen.

„Die Brigade – was wird die Brigade …“ flüsterte er. Und ein seltsames, kindlich hilfloses Lächeln umspielte seine Lippen, welches die Frage immer und immer zu wiederholen schien und das auch nicht von der Wachsblässe seiner erstarrten Züge wich, als er nun längst allen irdischen Wischern und aller Brigadefurcht enthoben war und mit dem Bericht seines Lebens vor einem höheren Kommando stand.

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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 23, S. 369–372
[369]
17.0 „Monsieur le baron.“

Eff sprang von seiner Arbeit auf. Draußen im Korridor unterhandelte Baptist anscheinend mit einer Ordonnanz: das Tuscheln und Flüstern störte den Hauptmann.

„Baptist!“ rief er ärgerlich durch die Thür.

Der Lothringer stürzte in seinem Eifer herzu, das ganze Gesicht leuchtend wie immer, einen Brief und das Briefquittungsbuch in der Hand.

„’err ’Aup …!“

Er sparte eben so an dem Hauptmannstitel, wie er an dem Lieutenant gespart.

„Es ist ein Brief angekommen, der nicht richtig adressirt ist, ’err ’Aup …!“

„Gieb her!“

Der Brief war „An den königlichen Hauptmann im großen Generalstabe Herrn Freiherrn Trutz von Gamlingen zu Trachenberg“ adressirt. Eff riß ihn auf, seine Finger zitterten vor Erregung. Es war der Auszug aus der Gesuchsliste, ganz lakonisch, als handelte es sich um irgend ein Flitterding eines ausländischen Ordens: „Eff, Hauptmann etc., wird durch Allerhöchste Kabinettsordre die Erlaubniß ertheilt, den Namen seines Adoptivvaters, des Oberstlieutenants z. D. Freiherrn etc., zu führen.“

Kein Wunder, daß die Beiden da draußen im Zweifel gewesen, ob der Brief richtig adressirt war, obgleich der Expedient vorsichtig den alten Namen Eff in Blei auf der Ecke des Kouverts notirt hatte. Der Hauptmann öffnete das Quittungsbuch, um seinen Namen einzutragen Seinen Namen? Er stutzte vor der betreffenden Rubrik, dann reckte er sich in einem Trotz heraus, setzte die Feder an und warf mit seiner sonst so deutlichen Schrift etwas hin, das alles Mögliche, vielleicht auch „von Gamlingen“ bedeuten konnte. Er ward roth dabei; ein paar Augenblicke starrte er die Schrift an, und als er gleich darauf die runden, stets verwunderten Glotzaugen seines Burschen von rückwärts auf sich gerichtet fühlte, überfiel ihn eine ganz dumme, lächerliche Scham.

Baptist entfernte sich mit dem Buch. Nach einigen Schritten, die der neue Freiherr im Zimmer auf- und niederstürmte, rief er jenen nochmals. Und ohne ihn anzusehen, den Kopf in ein Papier versenkt, warf er in einem seltsam strengen Ton, den er sonst nicht ohne besonderen Grund hervorkehrte, die Anweisung hin:

„Ich werde von nun an von Gamlingen heißen – Trutz von Gamlingen.“

Der Bursche blieb regungslos.

„Nun?!“ fuhr der Hauptmann auf.

Baptist staunte mit seinen dümmsten und weitesten Augen, und ein ungläubiges Lächeln zog seinen Mund in die Länge, daß die gesunden und kräftigen Zahnreihen sichtbar wurden.

[370] „Na, es kann Dir ja doch egal sein, ob so oder so!“ fuhr ihn sein Herr ärgerlich an. –

Es waren die ersten Hiebe der Spießruthen, die er mit dem neuen Namen zu durchlaufen haben würde. Später würden die Hiebe weniger hörbar sausen, aber um so empfindlicher brennen! Er würde still halten müssen – es geschah ihm recht!

Zuerst die Meldnug bei den Vorgesetzten, die er gleich zur Meldezeit abzumachen hatte. Eine wahre Examenangst befiel ihn, vor seine Vorgesetzten hinzutreten und das Ereigniß mit dürren Worten meldemäßig herzuschnarren. Ja, die Form der Meldung – mühsam drechselte er unterwegs an dem Wortlaut herum.

Im Treppenflur und auf den Korridoren des Dienstpalastes am Königsplatz begegneten ihm mehrere Kameraden. Einige Fremdere grüßten mit dem üblichen förmlichen Gruß. Ein paar seiner näheren Bekannten riefen oder nickten ihm einen „Guten Morgen!“ zu. Wie er meinte, kälter und flüchtiger als sonst; sie hatten Eile mit ihren Papieren und Akten, vielleicht wußten sie auch noch nichts davon.

Doch – sie mußten es schon wissen! Die Nachricht war dem officiellen Parolebuch längst vorausgeflattert. Einer, ein Württemberger, der zum preußischen Generalstab abkommandirt war, vertrat ihm den Weg und gratulirte ihm in seiner schwäbischen Biederkeit gerade heraus, ihm dabei die Hand fast zerdrückend.

„Man kann es diesen Preußen nie recht machen,“ dachte der Biedermann bei sich, als er sah, daß die Gratulation dem neuen Freiherrn offenbar unangenehm war; „bald thut man zu viel, bald zu wenig. Warum hat er den Namen denn changirt, wenn er ihm unangenehm ist?“

„Hat ihm schon – Herr Baron!“ kam ihm sein Bureaukamerad, ein urlustiges Haus mit einer ins Kupferne schillernden Nase, trällernd entgegen. „Na, wir werden den neuen Baron doch begießen müssen, he?“

„Ich melde ganz ergebenst, daß mir laut Allerhöchster Kabinettsordre die Erlaubniß ertheilt wurde, den Namen meines Adoptivvaters …“

Gott, welch ein Monstrum von einer Meldung! dachte Eff, während er an dem Satze weiterhaspelte.

Der Oberst, sein Abtheilungschef zog die Lippen mehrmals während der Meldung ein, streng schmeckend, als gefiele ihm das Gericht nicht.

„Ah!“ rief er laut, nur die eine hervorgestoßene Silbe als Quittung, daß die Meldung richtig abgeliefert war. Und kein Wort weiter. Gamlingen wußte sofort, daß er in dem Urtheile dieses Bärbeißers mit der Namenspielerei bedenklich gesunken war.

„Seine Excellenz den Feldmarschall werden Sie gerade jetzt treffen,“ rief er dem sich vorschriftsmäßig zum zweiten Male an der Thür verbeugenden Hauptmann nach.

Der Feldmarschall! Es ward ihm schwül zu Muthe, obgleich er wußte, daß dieser die Meldung mit vollkommenem Schweigen hinnehmen und wohl auf ihren Wortlaut kaum achten werde. Aber es kam ihm fast wie ein Verbrechen vor, in das von weltwichtiger Gedankenarbeit geweihte Arbeitszimmer des großen Strategen mit der ungeheuren Trivialität dieser Meldung hineinzuplatzen.

Moltke erhob sich langsam vom Schreibtische, nickte kaum merklich auf die Verbeugung des Hauptmanns und stand dann aufrecht, den rechten Arm mit den Knöcheln der Hand auf die Kante des Tisches gestützt, das rechte Bein vorgesetzt, den Kopf leicht nach vorn gebeugt, daß die Haartour sich von dem hageren Nacken in einer starken Biegung abhob.

„Ich melde ganz gehorsamst …“ begann die wankende Stimme des Hauptmanns. Der Feldmarschall horchte anscheinend sehr aufmerksam, die dünnen Lippen zusammengepreßt, mit dem Ausdruck unerschütterlichen Ernstes. Das edle Profil des feinen Kopfes zeichnete sich dunkel und scharf gegen die Helle des gegenüberliegenden Fensters. Er trug einen geöffneten Ueberrock und der Hals war mit einer locker sitzenden Binde bekleidet, auf der das etwas verschlafene Silberband des Ordens pour le mérite, doch ohne den Orden selbst, befestigt war.

Als wäre die Meldung von großer Wichtigkeit, so schien er zu horchen. Keine Regung in den unzähligen kleinen Fältchen des bartlosen Gesichtes. Jetzt, nachdem Gamlingen geendet, nach einer kurzen Pause, während welcher der Feldmarschall immer noch zu lauschen schien, wandte sich das Profil um ein Viertel nach ihm herüber.

„Wie geht’s Ihnen?“ kam es über die schmalen Lippen.

„Sehr wohl, Euer Excellenz!“

Es klang so frisch und freudig. War es Gamlingen’s Ueberraschung darüber, daß, nach dieser Anrede zu schließen, der hohe Herr von der Meldung nur den Klang der Worte, nicht den Sinn vernommen? Man kennt ja dessen Zerstreutheit den kleinen Dingen des Alltags gegenüber.

Als ein abermaliges kurzes Nicken des Adlerprofils ihn entlassen hatte und die Thür sich hinter ihm schloß, dehnte sich seine breite Brust wie in einer befreienden Erlösung.

Bah, man muß es leichter nehmen mit diesem Namen; man macht sich zu viel Skrupel um die Gesichter der Anderen! Noblesse oblige! Man hat den Namen nun einmal, man hat ihn sich durch die Umstände aufzwingen lassen! Es war ihm nicht zu entgehen – wohlan, so soll er auch herhalten!

Mit einer Art mitleidigen Lächelns gedachte er seines verstorbenen Adoptivvaters, wie dieser das Paradepferd nicht zu reiten verstanden hatte, wie ihm der ehrwürdige Name zuletzt zu einer Last, fast zu einem komischen Anhängsel geworden war, dort in dem vierten Stock des Hinterhauses.

Der Name ist in meiner Hand, ich werde ihn wieder hoch zu bringen suchen! Ich bin es diesem fünfhundertjährigen Geschlechte schuldig!

In gehobener, erzwungen übermüthiger Stimmung fand er sich bei Belzig’s ein.

„Sieh’ mich einmal recht an,“ rief er mit lachendem Gesicht, sich der ersten Begrüßung mit Melitta, die ihm entgegengeeilt war, entwindend. Er trat zwei Schritt zurück und stand hoch aufgerichtet, sie mit den Strahlen seiner Augen und den blinkenden Zähnen herausfordernd:

,Nun?!“

Er sah überaus prächtig aus in dem Glanz des Meldeanzuges. Aber das war ihr doch nichts Neues; sie stürzte auf ihn los und umschlang seinen Nacken mit ihren Armen. Sie brauchte nicht erst zu fragen: „Ist es da?“ Sie wußte es! – In seiner erregten Miene hatte sie es sofort gelesen. Eine so stürmische Freude überwältigte sie.

Allein der Freude wegen, die ihr das Spielzeug bereitete, hätte es sich verlohnt, den Namen nicht nur zu erdulden, sondern sich darum zu bemühen. Diese Freude erleichterte und erlöste ihn von dem unheimlichen Druck. All’ die Spießruthenschläge werden ja tausendfach aufgewogen durch dieses Glück!

Frau Belzig rauschte herzu. „Ist es?“ fragte sie kurz, Melitta’s Erregung gewahrend, mit einem eigenartig lüsternen Ausdruck ihrer Miene.

Auf Gamlingen’s Nicken fuhr sie mit einem sonoren „Gottlob!“ heraus. Eine geheime Angst hatte sich in den letzten Wochen, da die Adoption mühsam durch die Instanzen kroch und noch immer nicht vorwärts rücken wollte, ihrer bemächtigt. Es konnte irgend ein Hinderniß eintreten – vielleicht scheiterte das Gesuch an Allerhöchster Stelle. Und dann die leidige Spitzfindigkeit der Juristen! Der Oberstlieutenant war doch inzwischen gestorben und begraben – darf die Adoption auch noch über das Grab hinausgreifen?

Aber, Gottlob, nun war Alles gut! Die heiße, die ungeheuerliche Sehnsucht ihres Lebens war gestillt. Von nun an ist es genug des Götzendienstes!

Doch da kam Olga an. Die laute Freude mußte wohl an sich halten vor der Trauerkleidung, die der zarten Blondine übrigens reizvoll stand, und vor der still verhärmten Miene, die auf lange hin die alte Schmetterlingsfröhlichkeit nicht mehr aufkommen lassen würde.

Olga hatte in dem Belzig’schen Hause vorläufige Unterkunft gefunden. Sie plante allerlei Engagements, die sie in England, irgendwo in der weiten Welt, annehmen würde. Belzig’s wollten natürlich nichts davon wissen. „Sind wir, oder werden wir denn nicht verwandt, Olga?“ drängte Frau Belzig. „Du bleibst einfach, wir lassen Dich nicht fort!“

Der Hauptmann trat respektvoll auf die Nahende zu, nahm zu deren Ueberraschung ihre Hand und führte sie an seine Lippen.

„Meine Schwester, meine theure Schwester, darf ich Sie von heute ab so nennen?“

[371] Sie stutzte, ergriff dann aber ihres neuen Bruders Hand und drückte sie innig. Wieder wie damals umflorten Thränen ihre Augen. Und die beiden Damen waren sofort bereit, mit ihrem Thränentribut beizuspringen und die Rührung mitzumachen.

Aber die Spießruthengasse mußte noch weiter durchlaufen werden.

Drei Tage darauf langten zwei Briefe aus Erfurt bei Gamlingen an. Die zaghaften, oft der Bindungsstriche ermangelnden Buchstaben seiner Mutter und die resolute, steile Männerschrift der „Autorität“. Beide Adressen waren an den alten Namen Eff adressirt. Bei der guten Mama war es wohl nur die Zimperlichkeit, die sich nicht sofort in die Situation schickte, die „Autorität“ aber schien damit von vornherein Protest einzulegen; der Inhalt der Briefe bestätigte Beides.

Gamlingen sowohl wie die Belzig’s hatten übrigens für gut befunden, die Adoption bis zur Allerhöchsten Genehmigung geheim zu halten, damit ein etwaiges Scheitern des Gesuches nicht die Lächerlichkeit herausfordere, und die Erfurter waren völlig damit überrascht worden.

Die kleine alte Dame schien außer Fassung gerathen. „Ich bin so erschreckt,“ schrieb sie, „ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wie ist das nur gekommen? Wie hast Du das nur thun können? Die beiden Mädchen (sie meinte Lolo und ihre Tochter damit) haben mich ausgelacht, ich habe so geweint. Mein lieber, guter Sohn!“

Die letztere Anrede stand isolirt da. Als wäre Mama hier und umfinge ihn mit ihren Armen, bittend und weinend, daß er ihr doch das nicht anthun sollte!

„Ich muß mich erst darein finden, lieber Walther! Es hat mich so erschreckt. Mir ist, als habe ich mein Kind verloren und als hättest Du Dich von mir abgewandt. Dein guter Vater – siehst Du, er hat seinem König vierzig Jahre lang treu und gewissenhaft gedient, kein Makel klebt an unserem Namen, wir sind stets allgemein beliebt und geachtet gewesen. Was soll ich nur denken?

Nun, ich will nicht klagen. Ich werde mich mit der Zeit daran gewöhnen. Bitte, theile uns Deine neue Adresse mit. Mir ist wirklich, als seist Du es nicht mehr. Ich weiß, daß das, was Du thust und thun wirst, das Rechte ist. Dieser neue Name – ich habe Angst davor, siehst Du, mir ist, als wenn er Dir keinen Segen bringen wird. Bitte, komme recht bald und bring’ Deine Braut mit, nach der ich solche Sehnsucht habe. Wenn sie so lieb ist wie Lolo, die unser Aller Herz längst erobert, so kann man Dir nicht Glück genug wünschen.“

Mit einem Lächeln, das mitleidig begonnen hatte, dann aber in einer wehmüthigen Verlegenheit endete, legte er den Brief hin.

Der andere Brief war die „Autorität“ in ihrer schönsten Polterlaune. Gamlingen sah während des Lesens das aufgeregte Zwinkern der grauen Wimpern und das unruhige Hin und Her der rundlichen quecksilbernen Figur.

„Lieber Walther, ich habe Deine Nachricht erhalten, wonach Du durch Kabinettsordre die Erlaubniß erhalten hast, Deinen Namen umzuändern. Ich kann nicht behaupten, daß Du uns grosse Freude mit dieser Ueberraschung bereitet hast. Ich hoffe, daß Du von der Erlaubniß keinen Gebrauch machen wirst. Der Name Eff ist Deinem Vater gut genug gewesen, und Deinem Großvater und dessen Vater, so wird er Dir auch gut genug sein. Wir sind eine anständige Familie, das muß ich mir sehr ausbitten! Du hast keine Veranlassung, Dich unseres Namens zu schämen.

Ich hätte Dir, offen gestanden, Solches nicht zugetraut; meine Gunst hast Du Dir gründlich verscherzt. Ich liebe so etwas nicht! Unser Name ist kein Mantel, den man mir nichts Dir nichts an die Wand hängt. Ist der andere etwa schöner? Ich habe ihn nicht einmal lesen können. Du denkst doch nicht, daß Dir solch ein adliger Name heut zu Tage irgend nützen wird? Die Zeiten sind vorüber. Es giebt keinen Respekt und keine Religion mehr. Ich hätte Dich nicht für so dumm gehalten, Du hast Dich gründlich blamirt.“

So ging es noch vier Seiten weiter. Er las den Brief gar nicht einmal zu Ende. Der helle Unmuth bewältigte ihn.

Es ist nicht wahr! Ich habe mich noch nie wegen meines alten Namens geschämt, so wenig hübsch er klang. Das sind eben die kleinlichen Erfurter Ansichten! Mama hatte Recht, ich weiß, was ich thue, und was ich thue, kann ich verantworten, trotzte er. Sie verstehen das nicht, dort hinten. Ich will sobald wie möglich mit Litta nach Erfurt fahren und ihnen Rede stehen.

Bei dem Gedanken an diesen Erfurter Besuch überlief es ihn mit einem neuen Anfall von Examenangst. Seine alten Lehrer, seine früheren Mitschüler, seine Jugendgespielen, die unentwirrbare Verhedderung von Bekanntschaft und Verwandtschaft, die den Namen Eff umwuchert, der allgewaltige, allvermögende Klatsch der guten, lieben ehrwürdigen Stadt Erfurt – wie werden sie den Namen begucken und betasten, wie werden sie ihn zerrupfen und zerfasern und um und um kehren!




18.0 Bluttaufe.

In den Bureaus des Generalstabs tauchte das Gerücht auf, Mühüller von den Boxern sei in einen Ehrenhandel verwickelt, eine scharfe Mensur sei unvermeidlich.

Und weßwegen? Natürlich ein Nichts, ein Stecknadelkopf, der Schatten eines Schmetterlings – irgend eine mißverstandene Miene, irgend ein schiefer Lachton, ein ausgeglittener Seitenblick, höchstens ein oder zwei wirklich ausgesprochene Worte! Nun, stellt man sich denn zumeist wegen Dinge von größerer Wichtigkeit vor die Pistole?

Gamlingen war bestürzt und aufgebracht: das kommt von seiner überflüssigen Schneid! Das kommt davon, wenn man die Dinge beim rechten Namen nennt! Er wollte Mühüller aufsuchen – vielleicht ließe sich durch eine Vermittlung noch Alles einrenken.

Mühüller kam ihm zuvor. Er holte Eff am Nachmittag aus dem Dienstgebäude ab.

„Aber was für Streiche, Mühüller! Was soll das heißen!“ rief ihm Gamlingen ärgerlich entgegen, als er in den Korridor trat, wo jener wartete.

„Keinen Vorwurf! Keine Moralpredigt! Das muß ich mir ausbitten! Ich bin gekommen, Sie um Entschuldigung zu bitten. Schenken Sie mir eine Cigarre.“

„Wieso – Entschuldigung?“ Gamlingen blieb verwundert auf der Treppenstufe stehen.

„Nun, daß ich Sie nicht zum Sekundanten genommen. Ich hätte Sie doch nehmen müssen, wie wir zueinander stehen. Sie sind aber verlobt, und die sechs Wochen Festung würden Ihnen jetzt sehr wenig schmecken. Kein Sport für einen Hochzeiter – für einen Generalstäbler erst recht nicht!“

Mühüller biß mit seinen scharfen Schneidezähnen die Spitze der Cigarre ab, daß es hörbar knisterte, und nachdem er die Tabakreste mit einem Pff! aus dem Munde geschleudert, sagte er: „Außerdem die Damen! Ich liebe, wie Sie wissen, den Spektakel nicht.“

Er, Mühüller, liebte den Spektakel nicht! Zu einer andern Zeit hätte Gamlingen laut aufgelacht. Er, der durch seinen amüsanten Spektakel die Ehre so manches Salons vor dem dräuenden Drachen Langeweile rettete! Möglich, daß er in ernsteren Dingen wirklich den Spektakel verschmähte.

„Aber ums Himmelswillen, was ist nur vorgefallen?“ rief Gamlingen. „Erzählen Sie doch! Ich werde mir’s nicht nehmen lassen und Alles versuchen, die Sache beizulegen. Sie hätten sich übrigens schon früher einfinden können!“

Mühüller schnitt mit der einen Seite des Gesichtes eine Grimasse, als thäte ihm etwas weh. „Lassen Sie mich damit in Ruh’, ich bitte schönstens! Es ist seit gestern schon so viel an der Sache herumgedoktert worden. Ich habe es satt! Ich liebe es: eins, zwei, drei! – Schlag auf Schlag! Ich brauchte ja bloß zu revociren, ich bin der Beleidiger.“

„Wer ist Ihr Mann?“

„Lächerlich –“ und Mühüller lachte stumm, die breiten Schultern mit den Epauletten schüttelnd, die er stets statt der bequemeren Achselstücke trug. „Wissen Sie, es ist urkomisch! Ich habe aber heut Morgen erst erfahren, daß er eigentlich Menkel heißt und gar nicht der von Dipperbach ist. Wir haben uns ein paar Mal während des Frühschoppens bei Töpfer gesehen, ich habe kaum zehn Worte mit ihm gewechselt, außer dem corpus delicti, wie der Auditeur sagt. Einer von der Versuchsbombe. Kommt da von seiner Tegeler Knallbude und will mitreden. Sagt was, ein Anderer sagt wieder was, und noch ein Dritter, ich aber sag’ auch was. Da sagt er wieder was – schwapp, geb’ ich ihm eins aufs Maul, daß er still ist. Ist übrigens ganz gleichgültig, was es war; zerbrechen Sie sich darüber, bitte, nicht den Kopf!“

[372] Mit einem dumpfen Paff stieß er eine ballende Qualmwolke in die Luft. „Sie wissen, ich hab’ das im Griff, ich bin wahrhaftig nicht auf den Mund gefallen. Hatte mich zu sehr geärgert! Ich soll revociren! Teufel – was ich gesagt, hab’ ich gesagt! Es hat mich zu infam erbost, zumal …“

Er stockte. „Was denn? Natürlich die winzigste Bagatelle von der Welt – und deßwegen wollt Ihr Euch todtschießen! Es ist doch wirklich empörend!“ fiel Gamlingen ein.

„Na, es ist ja immer so!“

Mühüller war stehen geblieben; er wippte ein paar Mal in den Beinen, nahm dann gegen einen Baum der Allee, die sie eben kreuzten, die Stellung eines Schießenden, senkte mit einem Ruck die Hand der ausgestreckten Rechten, als hielte er eine Pistole, und zielte mit blinzelnden Wimpern, die Cigarre stand dabei schief in dem einen Mundwinkel.

„Lächerlich!“ fuhr er plötzlich laut lachend auf, als müsse er den Eindruck verwischen, daß er etwa zuviel an Jenes da, an die Pistole und an das bevorstehende Duell dächte.

„Hätte also bis heut’ Morgen darauf geschworen, es wäre der Dipperbach, mit dem ich mich schießen soll. Mengte mich nicht weiter hinein. die Bedingungen so und so – bon! – Von Revociren kann nicht die Rede sein! Wäre mir selber aber doch fabelhaft lächerlich vorgekommen, wenn man mich todtgeschossen und ich hätte geglaubt, ich hätte die Ehre gehabt, von Dipperbach todtgeschossen zu werden, während es doch der Menkel gewesen. Werde übrigens Dipperbach um Entschuldigung bitten. Es wird ihn höllisch amüsiren!“

„Aber, Mühüller! So lassen Sie doch jetzt die Scherze! Ich dächte doch, wir überlegten …“

„Na, offen gestanden, ich möchte nicht, daß Sie dächten, ich spielte den Forschen! Ich bin ja auch gekommen, Sie um eine Gefälligkeit zu ersuchen. Es ist mir nicht ganz egal! Wissen Sie, um was es mir leid thäte? – Hier um meine famosen Knochen. Es wäre wirklich schade darum und, ohne mich zu schmeicheln, ein Verlust für die königlich preußische Boxerei.“

Gamlingen runzelte die Stirn – er ist unverbesserlich! Doch Mühüller trat näher an ihn heran und, den scharfschnarrenden Ton dämpfend, der durch den winterstillen Thiergarten hallte, sagte er, indem er an der Cigarre immer noch knipste, nachdem die Asche schon längst abgefallen: „Spaß bei Seite! Es ist meines guten Vaters wegen. Es thut mir leid, ihm in seinen alten Tagen den Kummer zu machen. Man muß es ihm schonend beibringen, wenn natürlich – und – und Sie thäten mir einen ungeheuren Gefallen, wenn Sie, nachdem es geschehen ist, ihn auf Alles vorbereiteten. Ich geb’ Ihnen die Adresse. Sie wissen, er wohnt in Stettin – ich weiß nicht, ob es nicht zuviel verlangt ist, wenn ich Sie bitte – falls es Ihr Dienst erlaubt und Sie einen Tag abkommen könnten –“

„Alles, Alles!“ preßte Gamlingen hervor, Mühüller’s Hand ergreifend. „Nun, wir wollen doch nicht gleich das Schlimmste annehmen.“

„Teufel auch!“ rief Mühüller, wieder in den gewohnten Ton fallend. „Ich bitte Sie, einer von der Versuchsbombe, die betreiben das Zielen mathematisch. Ich taxire, er wird mit seiner Schußtabelle auf dem Platz erscheinen und mir einfach logarithmisch ans Leben gehen.“

Da rollte eine königliche Equipage heran; die Adlerborte auf dem Hut des Kutschers deutete darauf, daß Jemand vom königlichen Hause darin saß. Die beiden Officiere stellten sich in strammer Haltung salutirend am Rand des Fahrdammes auf. An dem offenen Fenster des Wagens erschienen die frischen Rosagesichtchen zweier kleiner Prinzchen, mit köstlichem Ernst die winzigen Händchen an die weiße Pelzmütze hebend, dahinter die sonst so strengen Mustergesichter der Gouvernanten, lächelnd über die Grandezza, mit der die kleinen königlichen Hoheiten den Gruß der Officiere erwiederten.

A propos,“ begann Mühüller, als der Wagen vorübergerollt, „Sie werden sich natürlich nicht weiter um die Sache kümmern. Es ist nichts daran zu rücken und zu rühren. Ich danke Ihnen für die gnte Absicht. Sie thäten mir einen Gefallen, wenn Sie für Ihre werthe Person ganz aus dem Spiel blieben – versprechen Sie mir das! Wir sehen uns ja noch. Ich muß nach der Stadt. Sie wollen zu Ihrer Braut. Bitte ergebenst zu grüßen. Na, und nun machen Sie mir kein Gesicht, mein lieber Eff – ah Pardon!“

Er lachte, daß das massive Elfenbein seiner Zähne hervorblitzte, und drückte Gamlingen’s Hand mit der bekannten Kraftleistung seiner eisernen Finger.

Gamlingen wußte, daß die Sache nun ihren Lauf ginge und nichts mehr einzurenken sei; er kannte seinen Starrkopf von Mühüller. Hinter der verhängnißvollen Schwere des Zweikampfes verschwand natürlich der Stecknadelkopf, der ihn verursacht. Welche Dummheit! – Wegen eines Wirthshausstreits, wegen eines Wortwechsels!

Gamlingen forschte also nicht weiter nach den näheren Details, wie Mühüller es verlangt hatte. Einmal trat er dazu, als zwei Kameraden sich über den Fall unterhielten; da verstummten diese. Es fiel ihm damals nicht auf, später erst ward ihm der Umstand klar.

Es waren peinliche Tage bangen Harrens für Gamlingen, bis das Los des Zweikampfes entschieden hätte. Er hatte Mühe, seine Unbefangenheit bei den Belzigs zu bewahren und er glaubte eine dienstliche Mißhelligkeit als Grund seiner Verstimmung vorschieben zu müssen. Drei Mal noch traf er Mühüller. Das eine Mal übergab ihm dieser die Ordnung seiner Angelegenheiten für den Fall, daß er bliebe, sowie die Adresse seines Vaters.

„Das ist’s, was mir die Sache verleidet,“ sagte er, das Zettelchen mit der Adresse auf den Tisch legend, und seine sonst so scharfe Stimme vibrirte weich. „Na, überhaupt,“ rief er aufblickend, „ich will nicht behaupten, daß mir die Sache einen so gewaltigen Spaß macht. Ich will nicht forsch thun! Ich hatte es mir viel flotter gedacht. Diese Federfuchser vom wohlweisen Ehrenrath mit ihren Paragraphen und ihrem Wenn und Aber verpfuschen Alles. Ich habe einmal gelesen, wie man in früheren Zeiten einfach aufstand, Platz schaffte, die Degen zog und auf einander losstach. Na und diese Knipserei mit der Pistole – die gefällt mir gar nicht! Mit dem Rapier und dem Säbel hätte man doch zeigen können, was man kann und was man für Schneid im Leibe hat. Aber dastehen und ein dummes Gesicht machen und warten, bis die Kugel kommt … davonlaufen ist nicht! Was will man machen? Man hält still – es gehört wahrhaftig nicht für einen Sechser Kourage dazu. Jeder Kretin kann so ein Ding abknipsen. Na, wie gesagt, die Sache macht mir einen so riesigen Spaß nicht!“

Das andere Mal traf er Mühüller bei Belzigs. Dieser verbrachte eine Nachmittagsstunde dort und war fröhlich und lebhaft wie immer. Besonders schien er es darauf angelegt zu haben, das nun so stille Gesichtchen Olga’s wieder mit einem Lächeln zu beleben. Beim Abschied klang durch sein „Auf Wiedersehen!“ mit dem er sich Olga empfahl, ein so auffallend herzlicher Ton. Melitta glaubte das zu bemerken und als Mühüller fort war, drängte sie die Kleine, die sich mit komischem Schmerzausdruck das Händchen rieb, als wäre dieses eben noch einer Zerquetschung durch Mühüller’s Händedruck entgangen, in eine Fensternische; dann hob sie schelmisch drohend den Finger und sagte: „Du – Du – Du!“

Natürlich war sofort die Purpurröthe da.

Am Morgen darauf, kurz nach neun, kam der Sekundant Mühüller’s, der kleine dicke Herr von Nevitz, von dem berichtet wurde, daß er sein Kommando zur Centralturnanstalt lediglich als eine Entfettungskur betrachtete, und meldete nach dem Auftrag Mühüller’s, den ihm dieser vorher ertheilt, daß die Geschichte heute früh vor acht Uhr stattgefunden und daß Mühüller schwer verwundet sei.

„Doch nicht verloren?“

„Die Aerzte können noch nichts Bestimmtes sagen,“ berichtete der Officier, wie außer Athem von all dem aufregenden Hin und Her der letzten Tage. – „Ein Schuß in die Schulter, die Lunge verletzt, die Kugel steckt noch.“

Gamlingen stieß einen Fluch aus.

Jener gab nähere Details. Ein Nebel, daß man über fünfzehn Schritte hinaus nichts sehen konnte – so hatten die Gegner von vornherein an die Barrière heran avanciren müssen. Zwei Kugelwechsel ohne Resultat, als der Unparteiische sich ins Mittel legte. Mühüller meinte, er hätte es satt, als Scheibe dazustehen und auf sich losknallen zu lassen. Man möchte doch Säbel herbeischaffen! Natürlich war davon keine Rede. Und nochmals schossen sie los. Mühücker sank in den Schnee, der Andere ging heil aus. Er liegt im Garnisonlazareth.

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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 24, S. 385–392

[385]
Gamlingen begab sich zu Belzigs, um die Verwundung Mühüller’s den Damen zu melden, ehe sie von anderer Seite überrascht würden.

„Nicht möglich!“ schrie Melitta auf. „Ich habe ja noch vor ein paar Stunden mit ihm getanzt! Ich habe doch nicht weniger als drei Mal in dieser Nacht mit ihm getanzt!“

Sie sah noch die kräftige Gestalt des beliebten Officiers mitten im Saal unter der Helle des Kronleuchters stehen und mit seiner durchdringenden Stimme, der alle Paare wie am Schnürchen gehorchten, die Figuren des Contre und der Quadrille kommandiren. Und wenig Stunden darauf färbte sein Blut den schlammigen Schnee unter den Föhren der Hasenheide!

„Heiliger Gott!“ rief Frau Belzig, die Hände zusammenschlagend. „Er hat mir ja noch beim Büffett das Souper servirt!“

Olga saß ganz blaß da, mit großen, vom Schreck geweiteten Augen. Daher der eigenartige Klang, mit dem er das „Auf Wiedersehen!“ gestern zu ihr gesagt. Sie fühlte jetzt noch eine Spur des Schmerzes, den ihr sein Händedruck verursacht; noch klang sein metallenes Lachen in ihren Ohren. Und nun lag er zu Tode getroffen!

„Nicht möglich!“ hauchten ihre bebenden Lippen.

„Nun, was denn? Um was handelt es sich denn?“ fiel Herr Belzig ein.

Gamlingen zuckte finster blickend die Achseln.

„Hat da Einer seine Mütze schief sitzen gehabt, und das hat dem Andern nicht gefallen; da schießen sie sich todt!“ sagte Herr Belzig in spitzem Ton.

Diesmal blieb dem Unzerreißbaren der Vorwurf seiner Gattin, daß er Demokratenblätter lese, erspart.

Gamlingen hatte Eile. Der Dienst – und dann wollte er im Lazareth nachsehen, schließlich Urlaub nehmen und nach Stettin reisen, um dem alten Vater Mühüller’s Alles schonend beizubringen.

„Mein Gott! Mein Gott, und dieser prächtige Mensch!“ jammerte Frau Belzig. „Eilen Sie schnell hin, Walther, sehen Sie nach Allem! Sagen Sie, was wir für ihn thun können! und wenn er Pflege bedarf, so sagen Sie es ungenirt!“

Wahrhaftig, sie wäre im Stande gewesen, ihr Samariterthum selbst einem Mühüller zur Verfügung zu stellen! Sie begann sich der Aengste und der Nöthe zu schämen, die sie um den Namen ausgestanden. Es war bequem, jetzt, wo sie den Namen in der Tasche hatte. Sie meinte, sie müßte jetzt in gewissen Dingen sehr großmüthig werden, um die Erinnerung an so viel Thorheit bei sich selber, vielleicht auch bei Anderen zu verwischen.

Gamlingen war am Nachmittag des folgenden Tages von Stettin zurückgekehrt. Der alte Rendant Mühüller hatte nach der ersten Bestürzung über [386] die schwere Verwundung seines Sohnes die Nachricht mit einer seltsam naiven Zuversicht verarbeitet:

„Er rappelt sich schon durch, der Junge,“ sagte er unter den gewaltigen Buschen der Augenbrauen hinweg, die wie das Haar des kräftig gemodelten Kopfes nicht weiß und nicht gelb waren, mit seinen treuherzigen grauen Augen Jenem dicht ins Antlitz blickend. „Wissen Sie, Herr Hauptmann, wir sind Alle von festem Korn, wir Mühüller.“ Er schien vergessen zu haben, daß es doch nicht ein Nadelriß sein konnte, der ihn, Gamlingen, veranlaßt hatte, nach Stettin zu fahren, um die Nachricht persönlich zu überbringen. Es war die echt Mühüller’sche Art, und Gamlingen hätte unter anderen Umständen über dieses köstliche Vorbild des Sohnes lächeln müssen.

Der Rendant wollte den Gedanken nicht aufkommen lassen, daß einem Turnergenie wie seinem Sohne irgend eine Verwundung ans Leben gehen könnte.

„Ich bitte Sie, mit herauszukommen!“ Gamlingen folgte dem Alten auf den Treppenflur. „Sehen Sie, dort hinab, die zwei Treppen hinab ist er als zwölfjähriger Knabe gestürzt. Aber sich schütteln wie eine Katze und verwundert umschauen und heil! Kein Härchen geknickt!“

Der Alte vergaß darauf hinzuweisen, daß sich im Parterre eine Wattfabrik befand, durch deren den Flur belagernde Ballen man Mühe hatte, die Treppe zu erreichen.

Doch noch ehe Gamlingen wegging, begannen sich die Zweifel einzustellen und zu mehren. Der Rausch, den der Alte sich zur Bekämpfung des ersten Schreckes selbst beigebracht, verflog, und die Zuversicht zerfiel in bebenden Kleinmuth. Und nun verstand Gamlingen erst Mühüller’s Sorge, die solchen persönlichen Beistand als Freundesdienst gefordert hatte. Zuletzt mußte er alle Trostesgründe aufbieten, und der Alte dauerte ihn von Herzen.

Gleich nach seiner Ankunft auf dem Stettiner Bahnhofe begab sich Gamlingen nach dem nahen Garnisonlazareth. Er fand den Verwundeten im Fieber. Lieutenant von Nevitz, der Sekundant, der es sich nicht hatte nehmen lassen, die Eiskühlung der Wunde, die sogenannte „Eiswacht“, wie sie bei solchen Mensuren üblich, selbst zu übernehmen, saß neben dem Bette, die Aermel über den sehnigen Handgelenken aufgeschlagen. Auf dem Tische stand eine Batterie geleerter Bierflaschen. Auf Gamlingen’s fragenden Blick, wie es ginge, hob Jener die Schultern, das fürchterliche ausweichende Schulterheben der Aerzte, das deutlicher als Worte die Angehörigen auf Schlimmes vorbereiten soll.

Gamlingen setzte sich stumm nieder, mit einer Miene, aus der Kummer und Zorn über das Geschehene mit einander kämpften. Jener schickte sich eben so stumm an, eine neue Eisbinde zurechtzulegen. Er that das mit einer gewissen linkischen Zimperlichkeit seiner gepflegten Hände, als besorge er, daß diese durch die rauhe Hantirung leiden könnten.

Ein trostlos öder, ungastlicher Raum! Weißgetünchte Wände, oben mit einem braunen Strich gegen die Decke abgegrenzt, ein gardinenloses Fenster, durch dessen blasige Scheiben die Nacht schwarz und hohl hereinstierte, Tische und Stühle von rothbraunem polirten Tannenholz, mit einem anfänglichen K. U. (Königliches Utensil) gestempelt. Als einziger Schmuck der Wände einige Inventartabellen und Hausordnungen nebst einem Thermometer.

Gamlingen saß und starrte das Gesicht des Verwundeten dort auf dem eisernen Bette an. Es war hoch geröthet, wie von einer scharfen Feuergluth beschienen und wiegte sich mit nicht völlig gesenkten Augenlidern in regelmäßigen langen Pausen von einer Seite zur andern.

Ja, der Zorn überwog bei Gamlingen fast die Sorge und die Angst um den Ausgang. Wie ist es möglich gewesen! Eine erbärmliche Bagatelle, die ein blühendes Leben an den Rand des Todes hingestreckt! Ein Wort, das gesprochen wurde, und ein anderes, das nicht gesprochen wurde: beide haben es vermocht, so viel strotzende Lebensfreude in den Staub zu schlagen!

Daß man es doch packen, zerreißen, zerschmettern könnte, so ein Wort! – Und ein Gefühl der Reue überkam ihn, daß er das Alles doch nicht so hätte geschehen lassen sollen. Man hätte die Sache einrenken müssen!

„Einen Säbel – gebt mir einen Säbel – einen Säbel!“ schrie Mühüller plötzlich aus dem Schlaf.

Dann wieder still. Die Thür öffnete sich und der Lazarethgehilfe trat ein. Er hatte durch die Wand von dem benachbarten Wärterzimmer aus das Schreien gehört und war herzugeeilt. Ein flinkes Kerlchen mit spitzigem Gesicht und glänzend frisirtem Haar, das auf eine drollige Weise durch die strengen Formen der Subordination, die er den Officieren gegenüber beobachtete, das Selbstbewußtsein seiner wissenschaftlichen Wichtigkeit hindurchblicken ließ. Er beugte sich mit seiner Kennermiene über das Gesicht des Kranken, legte die Hand behutsam auf dessen feuchtglänzende Stirn, nickte verständnißvoll mit dem Kopfe und sagte mit Sicherheit:

„Ich werde noch ein Pulver ordiniren.“

Da fuhr der Kranke abermals heraus: „Muß mir sehr – ausbitten – daß Sie Ihre Hände – von dem – Namen …“ rief er drohend gegen den Lazarethgehilfen, mit völlig geöffneten, hervorquellenden Augen. Dieser zuckte unwillkürlich zu einer militärischen Haltung zusammen.

„Er phantasirt immer noch davon,“ flüsterte Lieutenant Nevitz zu Gamlingen gewandt, „er regt sich immer noch darüber auf.“ Dann zu dem Gehilfen: „Sie dürften neues Eis beschaffen. Auch bitte, für mich noch einige Flaschen Bier.“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant!“

„Wieso ‚davon‘? Was hat der Name mit der Mensur zu thun?“ fragte Gamlingen verdutzt.

„Nun, er glaubt sich doch bei Töpfer, und die Geschichte will ihm nicht aus dem Kopf.“

Der Lieutenant konnte eine Miene der Verwunderung nicht unterdrücken: wie kam Jener nur dazu, so zu fragen? Er thut so, als wenn er gar nichts wüßte und ihn die Geschichte nichts anginge!

Gamlingen war aufgestanden, von einer unbestimmten Ahnung getrieben, die ihm das Blut plötzlich aufwallen machte.

„Darf ich Sie einen Augenblick draußen sprechen, Herr Lieutenant? Ich fürchte, wir könnten hier den Kranken beunruhigen.“

„Sehr gern, Herr Hauptmann!“

Sie traten in den Korridor. Und hier fragte Gamlingen seinen Begleiter:

„Ich bin leider nicht völlig au fait über das, was eigentlich vorgefallen. Sie würden mir einen Gefallen thun, wenn Sie mich orientiren wollten!“

Verdutzt blickte ihn Jener an. wie war es möglich, daß Gamlingen nicht wissen sollte!

„Ich dachte, Herr Hauptmann hätten doch davon erfahren …“ wehrte er verlegen lächelnd.

„Mühüller hatte mir das Versprechen abgenommen, daß ich mich nicht darum kümmern sollte.“

„Ein braver Kerl – und es wäre jammerschade, wenn er deßwegen draufginge …“

„Ich möchte wissen, ich muß wissen, um was es sich handelt!“ drängte Gamlingen.

„Wenn es Herr Hauptmann also noch nicht wissen und gern wissen wollen …“

Der Lieutenant stockte abermals. Dann aber faßte er sich und erzählte mit kurzen Worten den Hergang des Streites bei Töpfer.

Es wäre von einem Namen die Rede gewesen – „von Ihrem Namen, Herr Hauptmann – Sie wollten es ja wissen,“ fügte er leiser hinzu. Da sei Mühüller hineingefahren und hätte sich’s mit scharfem Ton verbeten, daß man daran rühre. Ein anderes scharfes Wort folgte dagegen und – nun, wie das so geht! „Sie wissen, man kann zu einer Mensur kommen, man weiß nicht wie!“

Was?! Des Namens wegen hat die blutige Mensur stattgefunden! Was!? Es ist der Name gewesen der Mühüller an den Rand des Todes dahingestreckt!

Wenige Herzschläge lang stierte Gamlingen den Lieutenant an. Dann schüttelte er ihm aufgeregt die Hand.

„Ich danke Ihnen, Herr Kamerad!“

Dann stürmte er davon, das Klirren seiner Sporen hörte man noch weit unten auf der Treppe, so wüthend klang es.

Ja, eine ungeheure Wuth hatte ihn erfaßt. In den Fäusten zuckte es ihm, als wenn der Name – sein Name – etwas Körperliches, Feindliches wäre, und er müßte sich nun darauf [387] losstürzen, es packen, zerschmettern, dies entsetzliche Ding, das bestimmt schien, ihm seinen Frieden zu rauben und sein Glück zu vergiften!

Vor seinem eigenen Namen schauderte er, der vom Blute eines unschuldigen Braven triefte. Aber so mußte es geschehen! Wir haben dem Alten den Namen auf dem Todtenbette erpreßt – das ist das nackte Wort! Gestohlen, geraubt haben wir ihn, es ist nicht zu viel gesagt! Der Name fordert seine Rache!

Er eilte zu den Belzigs mit einer grausamen Lust, ihnen die blutige Anklage hinzuschleudern. Sie sollten es sofort zu hören bekommen, was dieser Name für eine Unthat angerichtet! Sie sollen nicht verschont werden, auch seine Braut nicht!

Und mit allem Aufgebot von äußerer Gemessenheit, deren er in dieser Stunde habhaft werden konnte, setzte er sich zu ihnen an den Tisch und sagte, nachdem er die Fragen über Mühüller’s Befinden mit einem unwirschen Achselzucken beantwortet:

„Wißt Ihr auch, was schuld daran war, daß der arme Mühüller wahrscheinlich sein Leben lassen muß?“

Er stutzte – aber Olga war nicht bei Tische anwesend, da durfte er sich gehen lassen.

Sie sahen ihn erschrocken an über die Gereiztheit seines Tones.

„Der Name – dieser Name – Trutz von Gamlingen – der war es – der!“

Es lag ein solcher Haß in diesem „der“! Entsetzt fuhren sie zusammen.

Herr Belzig aber nickte und nickte. Ob er in der Eile abermals eine Art von Berechnung anstellte wie damals: wie hoch wohl solch ein Menschenleben taxirt werden müßte, und wie groß sich dann Alles in Allem die Summe herausstellte, die dem Götzen des Namens in diesem Hause geopfert worden wäre?




19.0 Maisonne.

Maisonne – jubelnde lachende Maisonne!

Wie breit und triumphirend sie über den besprengten Damm der prächtigen Friedrich-Wilhelmstraße dahergezogen kommt!

Ferne, unter dem heiteren Tiefblau des Himmels, an dem die Schwalben mit lautem Schwi – i vorüberschießen, dämmert in majestätischer Ruhe das Baumdunkel des Thiergartens, das die Straße abschließt. Rechts und links hellgrüne Koulissen der Vorgärten, doch die Baumriesen des Waldes selbst schimmern noch im Braun der ersten Knospung. Eine seltsame Sinnestäuschung: wenn man dort hinblickt, so glaubt man den vielstimmigen Gesang der Vögel zu hören und den würzigen Frühlingsduft des Waldes deutlich zu riechen.

Der scharfe Klang eines Pferdehufes, lebhaft, mit beschleunigter Kadenz, jetzt sogar kurz trippelnd, nähert sich. Laut hallt und wiederhallt es zwischen den Häuserfronten; es ist die hohe Gestalt eines Officiers, die auf einem kostbaren englischen Vollblut reitet. Die Flanken des edlen Thieres glänzen naß von der Anstrengung des Rittes, und der feine Kopf mit den großen blaubraunen Augen nickt ungeduldig prustend und leichte Schaumflocken schleudernd. Der Officier hat schon von ferne einen gewissen geöffneten Altan eines gewissen ersten Stockes im Auge. Jetzt kommt aus der Thüre, die den Altan gegen den Salon abschließt, eine junge Dame hervorgehuscht, und zwischen den Azaleen, welche die Brüstung schmücken, taucht ein vor Freude strahlendes Gesicht, ein Kopf, den ein kokettes duftiges Häubchen überaus reizend kleidet, empor. Und eine schmale weiße Hand, an der ein neuer Trauring stark funkelt, winkt mit einem Tüchlein durch die Blüthenkronen hinab.

Als wenn er von einer weiten Reise heimkehrte und eine Sehnsucht von sechs Wochen auf ihn gewartet! Ein junges Paar – die Nachbarschaft kennt diese Scene des Wiedersehens, die sich schon seit mehreren Tagen, da er am Morgen ausreitet, wiederholt. Ein so glückliches Paar! Wie sie gehen und kommen, scheint ein Hauch des Glückes von ihnen auszustrahlen. Seit vierzehn Tagen sind sie erst von ihrer Hochzeitsreise zurückgekehrt, das war fast ein Ereigniß für die Straße, die doch an den äußeren Schein des Glückes gewöhnt ist. Sie ist reich, aber man sieht, er hat sie nicht ihres Geldes wegen genommen; denn sie ist so schön. Aber auch deßwegen nicht – sie ist so lieb und lieblich und freundlich! Und es war gewiß nicht die Uniform und die rothen Ponceaustreifen des Generalstabs und auch nicht die imposante Prachtgestalt, die ihr in die Augen stachen, auch nicht sein Name – man munkelt, man weiß ja, der Name ist selbst noch neuer als dies Glück – eine Adoption! Nein, er liebt sie – sie lieben sich beide, das ist der Nachbarschaft gewiß und dem Vis-à-Vis und all dem vielköpfigen, hundertäugigen, spürenden, spionirenden Herum, das an dem Pulsschlag unsers Alltags theilnimmt.

Nun eilt auch Baptist aus dem Thorweg herbei, durch den Hufschlag benachrichtigt. Er trägt seine Musketieruniform, von der ihm der Hauptmann eine besondere Garnitur hatte anfertigen lassen, zur Verwunderung des Burschen – warum soll er denn nicht fort und fort die neue Livree tragen, deren Knöpfe die hübsche, siebenzackige Krone schmückt? Er begreift nicht die Abneigung, die sein Herr gegen diese Livree und diese Knöpfe empfindet, und hat auch nicht verstanden, was Jener ihm gelegentlich hingeworfen:

„Kein ehrenvolleres Kleid als des Königs Rock!“ Nun, er ist doch Lothringer und seinen Eid, den er dem Kaiser von Deutschland geleistet, in Ehren, aber die Livree würde ihn nicht immerwährend an den prussien erinnern, den sie dort unten in seiner Heimath so verwünschen.

Und Baptist reicht, indem er den Zügel des Pferdes ergreift, seinem Herrn die hohle Hand mit ein paar Stückchen Zucker hin. Gamlingen nickt lächelnd – von ihr! Wie hübsch, daß sie an den Braunen denkt! Während das Thier sich die Stücke mit dem wohlig hin und her mahlenden Maul schmecken läßt, winkt er immer wieder hinauf, wo das Köpfchen aus den Blumen ragt. Nun huscht die junge Frau davon. Ist es die Ungeduld, die ihn mit der plötzlichen Bewegung heraufwünscht?

Er eilt hinan über den rothen Teppich der Treppe, durch die magische Dämmerung, die den von schimmerndem, braungoldenem Marmorstuck bekleideten, von einem mattbunten Fenster erleuchteten Flur erfüllt. Neben der Thür aus polirtem Nußbaum, die den ersten Stock abschließt, haftet ein zierliches Porcellanschild. Etwas absichtlich Diskretes und Unscheinbares, das man fast übersieht. „Hauptmann Trutz von Gamlingen.“

Der Name klingt fast affektirt in dieser Verstümmelung. Warum steht nicht der „Freiherr“ dort, der ihm doch zukommt?

Als die junge Freiin zum erstenmale die Schrift auf dem Schilde las, stutzte sie und konnte ein leichtes Zucken unverhohlener Enttäuschung nicht zurückhalten: es ist so, als schäme man sich des Freiherrn!

Er hatte die Thür geöffnet und war schon im Korridor. Doch sie verlor kein Wort über die Verstümmelung. Sie durften sich nicht des Namens freuen, und sie sollten sich seiner nicht freuen! Das Duell und Mühüller’s Krankenlager lastete wie ein Schatten über dieser Adoption. Der Name war mit Blut getauft, und sie fuhlte, daß ihn sein Besitzer nur mit einem geheimen Widerstreben duldete: aber was war zu thun? Es ist geschehen! Der Name ist unser! Man muß ihn erdulden, man muß ihn sogar hoch zu tragen suchen! Man muß sogar darunter zu leiden wissen: noblesse oblige!

Gottlob war ja nicht das gefürchtete Schlimmste eingetroffen! Die Wunde hatte einen guten Verlauf genommen, und an dem Namen haftete wenigstens nicht der Fluch, den Tod eines braven Menschen veranlaßt zu haben. –

„Mein Liebling! Mein Weib! Mein süßes Weib!“

O, sie hatten sich so lange nicht gesehen: er war die Ewigkeit zweier voller Stunden ausgeblieben, der Böse! Das Glück ist so egoistisch. Wenn sie so in seinem Arme ruhte, das Köpfchen an seine Schulter gelehnt, mit den tiefverklärten Augen nach den seinen emporsehend, dann verschwand vor der Fülle solcher Seligkeit all’ der häßliche Dunst, der die Adoption und den Namen so schwül umbrodelte.

„Ich habe Dir auch eine gute Nachricht mitgebracht!“ rief er, sie loslassend.

„Kommt er?“ rief sie freudig auffahrend.

„Der Oberstabsarzt will ihn endlich freigeben, er hat eingewilligt, daß wir ihn holen.“

„O, wie freue ich mich!“ Melitta schlug die Hände zusammen wie ein glückliches Kind.

[388] Es war längst ausgemacht, daß Mühüller seine Rekonvalescenz bei ihnen verbrächte. Das hübsche Fremdenzimmer war für seinen Empfang bereit und an dem Fenster dieses Zimmers, das nach dem nun in der vollen Glorie des Frühlings prangenden Garten lag, stand längst der bequemste aller Lehnsessel, den Frau Belzig für den Kranken gestiftet. Wie wollten sie ihn pflegen und hätscheln – wie sollte er unter dem Uebermaß von Liebeswerken, mit denen man ihn überhäufen wollte, seine Schmerzen, das Duell und die unselige Veranlassung dazu vergessen lernen!

Auf der kurzen Hochzeitsreise, im Eisenbahnkoupé, an der table d’hôte, immer hüpfte wieder der Refrain in das Gespräch: „Wenn er kommt, wenn Mühüller bei uns ist!“

Die Hochzeit hätte nicht stattfinden sollen ohne ihn! Gamlingen lag es auch jetzt noch schwer auf dem Herzen, daß man die völlige Genesung des Freundes nicht abgewartet. Er litt doch ihretwegen; so hätte man doch den Jubel der Hochzeit hinausschieben müssen, bis auch er daran theilnehmen konnte. Der Termin zu Anfang Mai war längst festgesetzt, doch Gamlingen widersetzte sich offen herans. Es war zwar längst keine Gefahr mehr, nur die Heilung der Wunde nahm solch’ langsamen Verlauf. Die Belzigs stimmten ihm kleinlaut zu; auch die Heuchlerin Melitta meinte, sich an Walther schmiegend, eine Hochzeit ohne Mühüller wäre doch … wäre doch … sie fand nicht den Ausdruck.

Mühüller verwunderte sich auf seinem Krankenlager, daß keine Anstalten zur Hochzeit gemacht wurden. Gamlingen sagte ihm den Grund. Er war ganz aufgebracht. „Sofort werdet Ihr heirathen! Auf der Stelle werdet Ihr heirathen! Meinetwegen warten? Bis ich das Tanzbein schwingen kann?“

Es würde ja doch nur eine ganz stille Hochzeit werden, wandte Gamlingen ein, Lolo’s und ihrer Entlobung wegen.

„Erst recht also! Was soll das heißen? Es ist doch wohl nicht Euer Ernst. Wegen der Dummheit da! Ich bitte Sie, wenn es nicht der Name gewesen, so wäre es irgend etwas Anderes gewesen! Weßwegen schießt man sich nicht? Versichere Sie, ist mir eine Ehre gewesen – und wenn der Fingerhut Mühüller’sches Blut dazu beitragen sollte …“

Er murmelte etwas von Freundschaft und Kameradschaft; na, er liebte es nicht, solche Sentimentalitäten auf der Zunge zu führen. Dann schlug er mit der flachen Hand auf die Bettdecke! „Abgemacht, geheirathet wird! Ich nehme es Euch höllisch übel und ich will nicht heißen wie ich heiße, wenn ich einen Fuß in Euer Haus setze. Geheirathet wird – sofort wird geheirathet!“

Und Gamlingen hatte es dem Kranken in die Hand versprechen müssen, daß geheirathet würde – zwar nicht „sofort“, wie Mühüller begehrte, aber doch zum ursprünglichen Termin.

Am Hochzeitstage hatte Mühüller dem Oberstabsarzt die Erlaubniß zu einem Schluck Champagner abgezwackt, den er auf das Wohl des glücklichen Paares trank. Und er hatte den Schluck nach der Hochzeitstafel hin telegraphisch mit echt Mühüller’schem Kraftausdrnck beglaubigt.

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Am Nachmittage hielt vor dem Garnisonlazareth in der Scharnhorststraße die schmucke, in der Sonne glänzende und funkelnde Viktoria Gamlingen’s, ein Hochzeitsgeschenk der Belzig’s. Melitta, in den Duft ihrer Frühjahrstoilette geschmiegt, erwartete im Rosaschatten des großen Spitzenschleiers die beiden Herren. Endlich hallte Mühüller’s Stimme auf dem Flur des kasernenmäßigen Gebäudes. Diese Stimme schien nichts an ihrer durchdringenden Kraft eingebüßt zu haben.

„Ha, meine gnädige Frau, ’n Tag, meine liebe, gnädige Frau!“ rief er, noch aus dem Dunkel des Flures. An den Fenstern zeigten sich einige von den blau-weiß gestreiften Lazarethkitteln.

Er kam am Arme seines Freundes langsam genug dahergeschlichen. Aber das massive Elfenbein seiner Zahnreihen leuchtete. Melitta streckte ihm schon von ferne ihre Hand aus dem Wagenschlag entgegen. „Willkommen zur Genesung!“ rief sie.

Vor dem Schlag machte sich Mühüller von Gamlingen’s Arm los und hob die linke Hand salutirend an die Mütze, der rechte Arm ruhte der Vorsicht halber noch in einer schmalen schwarzen Binde. „Melde mich ganz ergebenst mit anderthalb Flügeln!“

Er wippte dabei nach seiner Gewohnheit leicht in den Knieen. Dann erst ergriff er Melitta’s Hand. An den Fenstern lächelten die wehmüthigen Blaßgesichter der Kranken, und in der Thür standen einige vom Hauspersonal, um ihn scheiden zu sehen. Sie hätten ihn am liebsten dabehalten mit seinem köstlichen Humor, der das ganze Haus zu erhellen schien.

Sein Humor – Gottlob, den hatte die Kugel nicht getroffen! Melitta war überglücklich, daß Alles so gut abgelaufen. Sie hatte sich ihn blasser und elender vorgestellt – nur der wilde Krankenbart, der sein Kinn umwucherte, stand ihm durchaus nicht. Gottlob, nun ist Alles gut – nun ist der Schatten von ihnen genommen! Die Aerzte haben ihm zugeschworen, daß der halbe Flügel wieder seine volle Flugfähigkeit erlangen wird, und der Direktor der Centralboxerei hat ihm erklärt, daß sie ihn einfach dort in der Anstalt nicht entbehren können. Das lange Krankenlager, der große Badeurlaub, den er vorhatte, nichts sollte ihm nachgerechnet werden – er ist als Lehrer unersetzlich!

„Der große Badeurlaub“ – er sprach mit ernster Miene davon. Er wußte noch nicht, wo er ihn verbringen würde, darüber seien die Aerzte noch nicht einig. Er meinte die Festungshaft damit, die ihm des Duells wegen bevorstände, und die Aerzte, die noch nicht einig sein sollten, waren der Auditeur und die Herren vom Gericht. Es machte ihm Spaß, den Damen fortan von diesem Urlaub vorzuflunkern.

„Famose Kurorte, die Citadellen von Magdeburg, Wesel, Spandau, was, Mühüller?“ lachte er dabei heimlich in sich hinein.




20.0 Sein Capua.

Keine Erbtante konnte mehr gehütet und gehätschelt werden, als der Oberboxer Mühüller während der Zeit, die er bei Gamlingens verbrachte.

Zuerst kam sich der „Hechtspringer“ und „Kraftbeißer“, wie er sich selber nannte, komisch in seiner Rolle als Nesthäkchen vor. Wenn er des Morgens aus dem verlängerten Schlaf erwachte und er den feinen singenden Ton vernahm, den eine zufällige Bewegung seiner Hand über die seidene Steppdecke verursachte, und seine schlaftrunkenen Augen in dem grünlichen Dämmerlicht umherspürten, das als Wiederschein der hohen Bäume vor dem Fenster den Raum erfüllte, so mußte er im Stillen lächeln.

Dann pflegte sich Trutz einzustellen und, bevor er in den Dienst ging, sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Mühüller nannte ihn nur Trutz, und Jenem war der kurze Name, der sich in der Einsilbigkeit nicht von seinem bürgerlichen Originalnamen unterschied, ganz willkommen. Darauf erschien Baptist mit einem Gruß von der gnädigen Frau – und wieder die Frage nach seinem kostbaren Befinden. Und die kleinen ausgesuchten Diners, mit denen die junge Wirthschaft so glänzend kokettirte, die Ausfahrten auf rollendem Gummi in den Thiergarten und Grunewald, die Theaterlogen, die hübschen Privatkoncerte, die ihm die junge Freiin mit seinen Lieblingspotpourris aus „Fatinitza“ und „Fledermaus“ zum Besten gab, die Plauderstündchen im Garten, wo er unter den Damen saß und seine lustigsten Launen schillern und glitzern lassen durfte, ja selbst die „Bildung“, in die er sich kopfüber hineinstürzte – wahrhaftig, er las sogar Verse und staunte selbst darüber. Freilich, Wolff’sche Verse, in denen herzhaft der Humpen geschwungen wurde und schallende Küsse ertönten.

Er erinnerte sich aus seiner Schulzeit der schrecklichen Schilderung, die der Professor von dem Untergang der hannibalischen Heldenkraft in der verweichlichenden Ueppigkeit der capuanischen Winterquartiere gemacht. Sein Capua – das hier ist sein Capua! Es war das Wort, das ihm auf diese Verstrickungen der Liebenswürdigkeit und Gastfreundschaft zu passen schien.

Sie lachten, wenn er vor einem neuen Liebeswerk das Stichwort springen ließ. Ahnten sie doch nicht die Gefahr, mit der sein Herz in einem anderen Capua zu versinken drohte! Und dies Capua hieß die Liebe.

Ein Mühüller’sches Herz! Man stellt sich darunter ein muskelstarkes, elastisches, sehr widerstandsfähiges Organ vor, das nicht leicht zu bewältigen ist. Und dennoch! Das lange Krankenlager war daran schuld gewesen, die Einsamkeit der öden Lazarethstube, die Schwäche des Zustandes, die es nicht gestattet, gewisse, [390] immer wiederkehrende Gedanken und Vorstellungen einfach über Bord zu werfen.

Nein, der Name war daran schuld gewesen. Der Name webte und flocht und verknüpfte allerlei geheimnißvolle Beziehungen zwischen ihm und ihr. Er hatte Olga von Gamlingen immer gern gelitten, er liebte ihre Gesellschaft, und sie vertrugen und schätzten sich wie zwei gute Kameraden. Sie war „seines Kalibers“, wie er sich burschikos ausdrückte; sie verdarb keinen Spaß, und Niemand lachte herziger über seine Scherze. Nun, und ihre großen Kinderaugen, die Einen so treu und lieb anlachen konnten! Als er im Fieber lag, hatten diese Augen oft genug vor ihm gestanden. Er hatte den Namen oft genug in seinen Phantasieen vor sich hergelispelt. Er hatte sich des Namens wegen geschlagen – zuweilen, wenn er daran dachte, überkam ihn ein Aerger, daß es nicht der Person wegen, nicht ihretwegen geschehen war!

Und dann das Wiedersehen! Er saß in dem von Lichtflittern besprenkelten Schatten einer Linde und rauchte seine Cigarre, als sie den sonnigen Weg, Arm in Arm mit Lolo verschränkt, zwischen den blühenden, von Insekten umsurrten Beeten daherkam.

Was es doch für seltsame Anfälle giebt: als wenn Einem der Athem plötzlich ausginge! Ob das eine Folge der Verwundung ist?

Damals war er noch nicht so stark auf den Beinen, und als er Miene machte, sich zu erheben, um die Damen zu begrüßen kam ihm Lo zuvor und trippelte ihm entgegen:

„Daß Sie nur sitzen bleiben, Herr Lieutenant!“

„Ha, famos! famos!“ rief er, „freu’ mich, Sie wiederzusehen!“

Lolo war erst kurz vor der Hochzeit aus Erfurt zurückgekehrt, wo das Paar sie abgeholt hatte.

„Nun, wie geht’s? wie geht’s?“

Er schüttelte dem Mädchen herzlich die Hand mit seiner heilen Linken.

„Welch’ ein Glück, daß Sie wieder auf sind!“ rief sie fast gleichzeitig. „Sie haben uns schöne Sorgen gemacht! Welche Geschichten!“

Sie hielten sich noch die Hände, wie im Gefühl, daß sie doch Beide eine Kampagne durchgemacht, jedes in seiner Art.

Ja, aber sieht er denn Olga gar nicht? Er thut ja so, als sei sie gar nicht da! Ja, warum ist sie nicht sofort gefolgt? Warum schleicht sie so langsam und verlegen heran wie ein Schulmädchen, das zum Geburtstag ein schlecht memorirtes Gedicht aufsagen soll?

„Mein gnädiges Fräulein!“ rief er plötzlich, als gewahrte er die Kleine jetzt erst.

Aber mein Gott, das ist ja seine schnarrende Lieutenantsart! – dachte Lolo. Ich meinte, die Zwei hätten herzlicher mit einander gestanden?

Wahrhaftig, er fühlte, während er ihr die Hand reichte, etwas wie eine leichte Gluth sein Antlitz überfluthen. Ist das wieder eine Folge der Verwundung? Und wie um dieser Abnormität Herr zu werden, zeigte er froh lächelnd seine breiten Zähne.

„Wie geht’s? Wie geht’s, mein Fräulein, wir haben uns lange nicht gesehen …“

Eine Redensart zur Aushilfe. Was sollte man sagen? Kein Wort „darüber“ – über das Duell – das geht nicht! Olga meinte, sie könne es doch nicht ganz unberührt lassen. „Wie schön, daß Sie wieder da sind, Herr Lieutenant –“ irgend so etwas sagte sie, sie wußte nicht was.

Mühüller sprang, nachdem man sich gesetzt hatte, gewaltsam in den altgewohnten Ton über und erzählte ihnen das Bunteste durch einander. Er wollte wissen, ob sein „Sprechanismus“ denn nicht gelitten, was er fast fürchtete. Von seinem „geheimen Medicinalrath“, dem Lazarethgehilfen, von den dreiundachtzig Büchern, die er während seiner Krankheit „eingenommen“ – als wären es so viele Flaschen Medicin, und er wird Jahre gebrauchen, bis er all die Bildung wieder aus dem Körper hat.

Ah, das paßte nicht mehr! Früher so, aber jetzt paßte der Ton nicht mehr! Es war Alles anders. In Mühüller war eine Veränderung vorgegangen, sie selbst schien ihm wie umgewandelt. Er hatte bisher einen lustigen Kameraden in ihr erblickt, der durch alle Tonarten der Fröhlichkeit mit ihm scherzte und schäkerte. Nun webte etwas wie eine Verklärung um ihr ganzes Wesen.

Er hatte noch nie in seinem Leben über etwas und über Jemand soviel nachgedacht, wie in diesen Tagen über Olga. Das Capua war schuld daran. Nun zum Teufel, man darf nicht ganz darin versinken! Man muß sich bei Zeiten davonzumachen suchen, ehe es zu spät ist. Die „große Badekur“ wird ihm gut thun und den alten Zustand wieder herstellen. Was soll es auch heißen? Wozu könnte das führen? Er hat nichts und sie hat nichts, und sie werden sich Beide nicht mit offenen Augen in das glänzende Elend einer Kommißheirath stürzen!

Aber Melitta sorgte dafür, daß „sein Capua“ nicht an Wirkung nachließ. Die Manie der Neuvermählten, Verlobungen und Hochzeiten zu stiften, stand bei ihr in voller Blüthe. Es ist selbstverständlich, daß sie ein Paar werden! Und sie werden eins! dekretirte sie. Sie waren vordem schon für einander bestimmt – nun, nach diesem Duell sind sie es erst recht! Der Name hat es so gewollt! So ist das unselige Duell dennoch zu einem Glück ausgeschlagen! Man wird fortan nicht mehr mit einem Schauder daran zu denken haben! Das Blut, das dieses Namens wegen vergossen wurde, wird durch dieses Glück hinweggelöscht.

Und sie arbeitete mit Eifer an ihrem Werk. Sie wußte so hübsche und bequeme Gelegenheiten zu veranstalten und zu improvisiren, wo die Beiden sich treffen mußten. Sie drechselte die raffinirtesten Anspielungen, sie legte ihnen so förmlich die Hände in einander – sie brauchten nur herzhaft zuzugreifen und diese Hände festzuhalten. Aber nein – es war zum Verzweifeln! Dies Zugreifen erfolgte nicht. Sie sahen nicht, sie hörten nicht. Und dennoch waren sie für einander bestimmt!

„Aber Litta, gute Litta!“ sagte Gamlingen eines Morgens, „was soll das nur heißen, laß doch die jungen Leute selber machen! Laß doch jeden nach seiner Façon selig werden!“

„Es ist doch Deine Schwester,“ warf sie hin.

„Nun ja, nun ja gewiß – (eine Pause) gerade deßwegen! Ich will nicht, daß sie sich ins Elend stürzen! Laß sie nur machen!“

Sie betrachtete unwillig den braunen Rücken eines Hörnchens, das sie eben aus dem Korb genommen. Den Einwand schien sie kaum gehört zu haben. „Weißt Du, wenn man mit Papa ein Wort redete, das Bischen Zulage würde ihn nicht arm machen …“

„Auf keinen Fall!“

Er setzte wie erschrocken die Tasse vom Mund ab. „Auf keinen Fall! Was denkst Du, wie kann man das ihm und ihr zumuthen!“

„Nun, sie ist doch Deine Schwester,“ wiederholte sie, ohne ihn anzusehen.

Zum ersten Mal fiel ihm das Bewußtsein der Pflichten, die er mit dem Namen übernommen, schwer aufs Herz. Gewiß ist sie seine Schwester, seiner Sorge und seinem Schutz unterstellt. Und zum ersten Mal fand sich das peinigende Gefühl der Ohnmacht bei ihm ein, daß er von den Belzigs abhänge, daß er eigentlich nichts für sie thun könne, der Bruder für die Schwester. Wie beschämend das ist! Er wollte von Neuem in Olga dringen, daß sie sein Heim als das ihre ansähe. Sie hatte sich bisher geweigert, und ihre Andeutungen wegen eines Engagements in England schienen nun sogar greifbare Gestalt anzunehmen. Man wird sie nicht fortlassen dürfen!

Mühüller wußte immer noch nicht, wo er seinen „Bade-Urlaub“ zu verbringen hätte. Die Aerzte waren noch nicht einig. „Ich denke mir so etwas wie Kasemattenheim,“ sagte er mit listigem Schmunzeln, das betreffende Wort undeutlich hinmurmelnd.

„Wie? Wohin?“ horchte Frau Belzig auf. „Ich kenne das Bad nicht. Wo sagten Sie?“

„Na, ich kann mich auch verhört haben. Es soll aber sehr heilsam sein. Leider dauert die Kur eine Weile.“

„Wir wollen uns Mühe geben, Sie heraufzubringen,“ fiel Lolo ein.

„Sie dürfen nicht gehen! Sie bleiben einfach!“ dekretirte Melitta. „Wie wir Jemand anders auch nicht gehen lassen!“

Ein deutlicher Seitenblick auf Olga. Aber diese blieb regungslos, als verstände sie nicht.

„Na, ich bitte Sie,“ fiel Mühüller ein, „ich habe die Kur doch von Staatswegen, sie geht auf Staatskosten und kostet mich [391] nichts. Ich werde doch nicht dumm sein und so etwas ausschlagen. Nichts wird dem Staat geschenkt!“ rief er in übermüthigem Ton.

Sie stutzten doch und starrten ihn fragend an: was für eine Unerklärlichkeit – man schießt mitten im Frieden mit Pistolen und bekommt vom Staat, der doch dergleichen verbieten sollte, eine Badekur als Belohnung bewilligt! Mühüller belustigte es ungeheuer, daß sie in ihrer Harmlosigkeit verharrten und immer noch nichts merkten. Und er hatte Herrn Belzig sowohl wie Gamlingen gebeten, ihm den Spaß nicht zu verderben und die Damen bei der Badekur zu belassen. Plötzlich wurden all ihre Verlobungspläne einfach entzwei geschnitten. Mühüller kam eines Tages feierlich und echauffirt in Helm und Schärpe von einem längeren Ausgang zurück.

„Kasemattenheim! Meine liebe gnädige Frau. Es ist so!“ rief er Melitta entgegen. Und er murmelte von „vier Monat.“

Es war ihm doch nicht gleichgültig. Er wischte sich mit einer großen Unmuthsgeste über den rothen Druckstreif, den ihm der enge Helm über die Stirn gezogen. „Na, wenn es nicht auf Staatskosten wäre …“

Aber der Scherz wollte nicht glücken, es war ihm wirklich nicht gleichgültig. „Ich werde Sie also morgen verlassen, meine liebe Baronin.“

„O, nicht möglich, was ist denn aber …“

Da ärgerte ihn die Naivetät, und er sagte es gerade heraus, daß er zu vier Monat Festungshaft verurtheilt sei und der Kurort Wesel heiße. „Ja, ja, spiele nicht mit Schießgewehr! Uebrigens soll Wesel sehr hübsch sein, die Citadelle liegt unmittelbar am Rhein, ich lerne bei der Gelegenheit doch den famosen Strom kennen.“

Bei Belzigs schienen die Damen wie aus den Wolken zu fallen. Gott, o Gott! Festung – welch’ eine Entsetzlichkeit! Und sie sahen den braven Mühüller schon mit einer Kugel am Bein angekettet, einen Schubkarren den Wall hinaufschieben.

Olga aber saß blaß und verstört auf ihrem Stuhl, und es machte ihr Mühe, ihre Bestürzung zu verbergen. Am andern Morgen trat sie zu Frau Belzig und sagte mit ihrem freundlichen Lächeln, aber ohne Ton in der Stimme: „Liebe Tante (Frau Belzig beanspruchte den Titel), ich habe heute früh nach England geschrieben un…d die Stelle in Norfolk angenommen.“




21.0 Vom Himmel herab.

Auf einem weitgeschwungenen Blechschild, das von kunstvoll geschnörkelten schmiedeeisernen Ständern getragen war, stand die neue Firma „Adolf Eff und Kompagnie, Blechwaaren-Fabrik“, darunter viel kleiner „Specialität für Christbaumschmuckartikel“.

Unter diesem Schild hinweg gelangte man auf einem gepflasterten Fahrweg in den Fabrikhof. Links dehnte sich eine Ziegelmauer, rechts grenzte ein frischgestrichener Staketzaun den Garten ab, der noch verwildert war und in dessen Mitte eine Flora auf einem leicht nach der Seite neigenden Postament ragte. Dann kam das Haus. Ueber der Thür, die sich nach dem Fahrweg öffnete, befand sich ein Schirmdach aus zierlichen Eisenrippen, denen jedoch die Glasplatten fehlten. Man sah es dem Hause an, daß es in der schwülen Luft einer Spekulation über Nacht aus der Erde geschossen war. Es war für einen zweiten Stock projektirt, aber man hatte in der Eile ein leichtes provisorisches Dach über das Erdgeschoß gedeckt. Doch sah das Haus in seinem freundlichen und glänzenden Oelanstrich und mit seinen blanken Fenstern, hinter deren korrekten weißen Gardinen man die Musterhausfrau vermuthen konnte, schmuck und einladend genug aus. An einem der vorderen Fenster zeigte sich ein räthselhaftes Kreuz und Quer von Röhren; hier war auch die Wand, unbekümmert um den neuen Anstrich, unbarmherzig durchbrochen worden. Die Arbeiter betrachteten sich den seltsamen Apparat mit neugierig kritisirenden Blicken. Und im Davongehen ward die Berliner Redensart gehört, daß wohl Jemand einen „Vogel im Kopf haben müsse“ mit seinen Erfindungen.

Allerdings, wenn man bedachte, daß der Principal vor Wochen sogar einen Trupp amerikanischer Arbeiter von ganz besonderer Specialität engagirt hatte, um gewisse Theile seiner „neuesten Idee“ auszuführen –! Diese räthselhafte neueste Idee schlummerte nun in dem Verschlag eines Schuppens, weil sie sich als noch nicht reif genug zur Ausführung erwiesen. Die Amerikaner mußten mit vielen Opfern wieder entlassen werden.

Der Fabrikhof zeigte zwei lange und langweilige Schuppen aus Fachwerk, in der Ecke stieß ein schwarzes, mit Ketten wie ein Mast aufrecht gehaltenes Blechrohr einen weißen wüthenden Dampf aus, als wäre es der Dampfmaschine, die dort das kleine Häuschen mit ihrem Gestampfe erzittern machte, längst zu eng da drinnen und als könnte sie die Zeit nicht abwarten, daß sie in das geräumige Quartier des neuen Maschinenhauses übergeführt würde. Maurer waren mit dem Bau des großen Schornsteins beschäftigt, der zur halben Höhe gediehen war.

Die Vesperglocke gellte gerade durch den Hof. Die Arbeiter kamen aus den Schuppen, ihr Vesperbrot in der Hand, die Maurer kletterten von dem Baugerüst herab.

In dem Hof stand eine elegante Equipage, aus welcher vor einer Stunde etwa ein glänzender Officier und eine feenhaft schöne Dame gestiegen waren. Natürlich fanden sich unter den Arbeitern sofort einige Sachverständige, die, sich hin- und herbückend, die Konstruktion des Gestelles mit wichtigthuenden Mienen prüften und über Beschläge und Bemalung ihr Urtheil abgaben.

Baptist stand breitbeinig dabei. Er paffte an seiner Cigarre und horchte durch den Tabaksqualm auf die Aeußerungen der Arbeiter.

Man betrachtete das Wappen auf dem Schlag. Man stritt über die Bedeutung des Schildzeichens, die beiden gekreuzten stacheligten Morgensterne, dann erhob sich ein Wortwechsel darüber, ob das Krönlein über dem Schild eine Grafen- oder eine Baronskrone bedeutete.

„Mußt Du doch wissen!“ sagte einer von den Maurern, ein langer Mensch mit einem pockennarbigen Gesicht und einem röthlichen steifen Kinnbart, unter der gespannten Haut der einen Backe ein großes, eckiges Stück seines Vesperbrotes verarbeitend – „Mußt Du doch wissen …“

Und er ruckte mit dem Ellenbogen gegen seinen Nebenmann. Das war ein feistes gedrungenes Kerlchen von achtzehn Jahren, mit einem feinen, blonden, wolligen Flaum ums Kinn und sehr hellen wasserblauen Augen. Er trug ein seltsames, hierorts sonst nicht übliches Hütchen aus großkarrirtem bunten Tuche hintenüber, aus dessen Kordel das Auge einer Pfauenfeder schaute, die Hände steckten mit gewaltsam herabgezwängten Schultern in den tiefsitzenden Taschenschlitzen seiner weiten Englisch-Lederhose, und er hielt diese Taschen nach Franzosenart zu den Seiten aufgespreizt. Er antwortete nichts, sondern spuckte aus den eingezogenen Lippen mit schußartiger Geschwindigkeit dicht vor den Wagentritt hin.

„Mußt Du doch wissen …“ wiederholte der Lange, den Bissen nach der andern Seite herumwerfend.

Der junge Bursche hob und senkte nur langsam die Schultern.

„Ein Baron – na, ein schöner Baron …“ erhob sich eine wie verrostet klingende Stimme auf der andern Seite. Es war ein Bulldoggengesicht mit vorstehenden Backenknochen, die von starker Röthe erglühten. Das rechte Auge zeigte als Spur eines Faustschlages eine violettblaue Umrahmung. Und aus dieser Umrahmung blinzelte das Auge ironisch nach dem Burschen. „Na, so ein Baron!“

Der Bursche sagte noch immer nichts. Es war offenbar sein Spitzname; woher hatte er ihn? Es war nichts in seinem Wesen wie in seinem Anzug, was solchen Spitznamen veranlaßt hätte; hatte er ihn aus Amerika mitgebracht, wo er herstammte? Er hatte sich auf dem Dampfboot jenem Trupp amerikanischer Arbeiter angeschlossen und war mit diesen für die „neueste Idee“ engagirt worden. Nun, da diese schlummerte, hatte er bei dem Mauerbau eine Beschäftigung als Handlanger angenommen. Genug, der Spitzname haftete ihm an, warum sollte er sich darüber ärgern?

„Na, wie heißt er denn, der da?“ fragte Einer Baptist, auf den Wagen deutend.

Baptist rollte seine Cigarre zweimal herum, lächelte den Frager an, that einen starken Paff – „de Gamling!“ brachte er hervor.

„Graf, wie?“

Baptist verstand nicht gleich. besann sich – „o non, non!“

„Baron also?“

Baptist nickte. „Baron de Gamling,“ schmunzelte er. Es freute ihn offenbar, den schönen Namen, der so fett gegen den [392] mageren Einsilber von ehemals klang, über die Lippen fließen zu lassen.

„Ah, ein parlez-vous! Aus Elsaß?“ rief es aus der Gruppe.

„Lorraine!“ antwortete Baptist mit funkelndem Blick.

„Ah, ein Franktireur! – ein Nixversteh! – Malöhr bur nu – bur fu – bur tummelmond!“[1] rief Einer, der offenbar den Feldzug in Frankreich mitgemacht. Das Interesse der Gruppe wendete sich von dem Wagen auf den Diener hin.

Da zerschnitt die Glocke mit ihrem Gellen die Scene. Die Arbeiter trollten sich zögernd und lässig nach ihren Plätzen hin. Der Pockennarbige schob sich im Gehen an den Amerikaner:

„Hast Du den Namen verstanden?“ raunte er ihm zu. „Es klang ja fast – es klang ja gerad’ so wie ein gewisser Name.“

Der Bursche stieß einen Fluch aus.

„Was geht’s mich an! Mag es heißen wie es will! Ich heiße Trutz – Andere heißen anders. Zum Donnerwetter, ich hab’ die Namensgeschichte satt! – Wenn einmal wieder Einer mit diesem Baron kommt …“

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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 25, S. 401–407

[401] Die Tafel für den kleinen Kreis der zur Geburtstagsfeier der Frau Eff Geladenen war nicht in dem Speisezimmer, sondern in einem der Wohnzimmer gedeckt worden. Und warum? Weil die „Erfindung“ es einfach nicht duldete, daß im Eßzimmer gespeist wurde. Adolf Eff hatte den Aspirator an diesem Ehrentage, der ein doppelter war, da das Haus zum ersten Male Gäste bewirthete, in seinem vollen Glanz zeigen wollen, und man sollte, bei Tafel sitzend, die köstliche Wohlthat dieser phänomenalen Lufttemperirungsmaschine genießen. Es war aber irgend ein technisches Versehen vorgekommen und die Maschine arbeitete zu stark, einen Zug und eine Kühlung in dem Raum erzeugend, daß ein längerer Aufenthalt dort unmöglich schien.

„Denken Sie, als ich heute Morgen das Tischtuch auflegen wollte, flog es mir beinahe unter den Händen davon,“ sagte Frau Eff zu Frau Belzig mit einem komischen Jammerton. „Wir haben hier in der blauen Stube decken müssen!“

[402] Es war heute ihr Geburtstag, und sie hatte sich den Tag über krampfhaft Mühe gegeben, die Sache von der komischen Seite zu fassen.

„Was ist da weiter? Dergleichen kann doch passiren,“ tröstete sie ihr stets trostbereiter Gatte, „das Ding ist superb, und wenn der Kerl (der Arbeiter, der an dem Aspirator gearbeitet) keinen Unsinn gemacht hätte, so genössen wir die reine Paradiesluft. Nun, ich dächte doch, man könnte es ertragen!“

Sie wies mit Thränen in den Augen auf das flatternde und wie ein Luftballon sich blähende Tischtuch. „Es heult so wie ein Novembersturm!“ rief sie in weinender Verzweiflung mit einem Blick auf den von der Sonne beschienenen Garten, wo kein Blättchen sich regte.

Frau Belzig beruhigte die kleine Frau, mit zwei ihrer rundlichen Finger über deren mit nervösen blauen Adern bedeckte Hand streichelnd. „Meine liebe Beste, nehmen Sie die Sache nicht tragisch. Es hat Jeder von uns das Seinige.“ Sie dachte an den Puppenverlag ihres Mannes, über den sie anfangs so gespottet, der aber schließlich das Geld herbeiströmen machte. „Ja diese Herren vom Geschäft!“ seufzte sie.

Unterdeß erklärte Adolf einigen der Gäste die Erfindung. Er mußte seine Stimme laut erheben, damit die Worte von dem Geheul der Maschine nicht verschlungen würden.

Herr Belzig nickte und nickte. „Famos! Sehr gut! ganz famos!“ mit jenen übertrieben aufmerksam scheinenden Augen, die anderweitig umherflatternde Gedanken verbergen sollen.

Die Damen fanden die Erfindung natürlich „reizend“! Wie lustig es in dem Röhrenwerk rumorte! Die Frau des Kompagnons, ein hageres Gesicht, das offenbar zu Zahnschmerzen geboren schien, hielt ängstlich den Fächer gegen die Wange, um sich vor dem wirklich unausstehlichen Zug, den das wahnsinnige Ding so ohne jeden Grund vollführte, zu schützen.

Der Kompagnon, eine kräftige bärtige Erscheinung von tüchtigem Ausdruck, lachte hinler Adolf’s Rücken über dessen Steckenpferd. Wenn dieser Eff nicht sonst so Brauchbares auf dem praktischen Felde der Fabrikation leistete, wenn er sonst nicht so ein famoser Kerl wäre, so müßte man diese Verrücktheiten mit offenem Spott überschütten. So aber meinte er in seiner ruhigen verständigen Art, man müßte den Erfinder erst ein wenig austoben lassen, ehe man zur Heilung schritte. Freilich, amerikanische Arbeiter – das ginge doch zu weit!

Da klirrten Gamlingen’s Sporen und rauschte Melitta’s Robe. „Aha! Nun bin ich doch neugierig!“ rief Jener seinem Bruder freundlich entgegen. Melitta traute sich nicht in die zugige Luft – „Puh!“ und sie schreckte in der Thür zurück.

Gamlingen konnte es sich nicht versagen, laut mit seiner sonoren Stimme über das originelle Debut der berühmten Erfindung loszulachen. „Höre,“ sagte er, „ich habe gestern zufällig in einem wissenschaftlichen Journal, ich glaube, es waren die ‚Fliegenden Blätter‘, ein Seitenstück dargestellt gesehen. Ein Riesenaspirator, der mit orkanartiger Gewalt die Passanten von der Straße in ein Vergnügungslokal hereinschlürft. Oberländer, glaub’ ich, heißt der Kollege.“

Aber Adolf reckte sich trotz Spott und Allem in die Brust. „Superb! – Es ist trotzdem ausgezeichnet!“ murmelte er.

Bei Tisch war man in bester Laune. Selbst Frau Eff hatte den großen Kummer des Tages vergessen. Eben hatte Adolf seine kleine Rache spielen lassen und einen galant scherzhaften Toast auf „seinen Bruder, den Baron, und seine Schwägerin, die Baronin“ ausgebracht. Walther nahm ihn mit unbefangener Miene hin, Melitta erröthete, aber ihre Augen strahlten. Frau Belzig blickte mit blinzelnder Verschämtheit, als gälte ihr die Baronin, auf ihren Teller. Die Champagnergläser trafen sich mit jenem gedämpften Ton, der nicht recht zu dem übermüthigen Getränk passen will. Da entstand auf der anderen Seite des Hofes, hoch droben auf dem Baugerüste, ein Tumult. Ein paar laut schimpfende Worte hallten durch das geöffnete Fenster herüber.

Es ist nichts, – nicht werth, daß man sich hier bei Tische in der Fröhlichkeit stören läßt!

Dort oben hielten die verschiedenen Arbeiter mit der Verrichtung inne. Zwischen zweien der Männer hatte sich ein Streit erhoben. Mit drohend heftigen Gebärden auf einander losfahrend, standen die beiden Streiter sich auf dem schmalen Gerüste gegenüber.

Es ist nichts, dergleichen Spähne pflegen bei der Arbeit zu fallen. Aber der scharfe Herr Pansow, der Kompagnon, knurrte voll Unmuth in sich hinein: „Die Halunken könnten wohl heute den Spektakel unterlassen!“ Er will unter der Hand hinaus und Ruhe befehlen.

Doch die Aufmerksamkeit des Tisches will sich nicht von dem Gerüst ablenken lassen. Auf ebener Erde, hier auf festem Kampfplatz, da mögen sie selbst Körper gegen Körper und mit Fäusten gegen einander losfahren! Aber da droben klingen selbst Worte schon gefährlich!

Die beruhigende Stimme des Poliers scheint den Streit beizulegen, einzelne Arbeiter nehmen ihre Arbeit wieder auf. Plötzlich erschüttert das ganze Gerüst von einem gewaltigen Prall. Ein Kalkkübel ist umgestoßen und der Kalk leckt mit klatschendem Geräusch an dem Gerüst herab.

Sie sind an einander! – Unterdrückte Schreie entschlüpfen den Lippen der Damen. Und von droben das dumpfe Gegröle der sich drängenden Kämpfer.

Abermals erschüttert das Gerüst. Sie sind zu Boden gestürzt. Wälzend und balgend kämpfen sie; „ho – ho! – ho!“ und die wüthende Donnerstimme des Kompagnons, die vom Hofe aus nach oben hallt und die Streitenden aus einander reißen will. Die Damen halten sich die Augen zu vor Angst: jeden Augenblick können die Beiden herabstürzen!

Das Gerüst schwankt, Stangen ächzen, Bretter krachen unter der Wucht des Kampfes.

„Das Gerüst ist sicher,“ beruhigt Adolf, in dessen Augen stets Alles ausgezeichnet ist.

Jetzt leuchtet ein blitzartig schneller Schein. Nur ein Nu! – Doch wohl kein Messer, das gezückt wurde?

„Teufel, die Kerle!“ entfährt es Gamlingen. „Sie werden doch nicht …“

Die Damen starren ihn angstvoll an! Was meint er? Sie haben den Blitz nicht verstanden, „nichts, nichts …“ Aber seine Augen verfolgen mit fiebernder Spannung den Kampf da droben.

Noch ein paar Sekunden des Balgens und Wälzens. Ein-, zwei-, dreimal noch leuchtet der entsetzliche Blitz auf – jetzt – jetzt muß es geschehen! – Die Anderen werden den Stoß nicht aufhalten! Plötzlich ein Krach – ein ungeheurer Krach, der all den Lärm verschlingt – eine dicke, röthlichbraune Staubwolke ballt sich empor wie von einer Explosion, brodelnd umhüllt sie das Gerüst und die Stelle, wo das Gerüst gestanden.

Und Stille – Stille dort von menschlichen Stimmen – Stille die Ewigkeit von drei, vier Sekunden lang – nur ein Splittern und Aechzen von zerbrechenden Holztheilen. Auch Stille hier, lähmende Stille des Entsetzens, die das Aufwirbeln und Brodeln der Staubwolke anstiert, wie sie sich in die Höhe und Weite breitet, sich in der Luft zu verflüchtigen beginnt. Nun schimmern wieder die Stangen durch den braunen Dunst – Gott im Himmel sei Dank! – Das Gerüst scheint nicht gänzlich zusammengebrochen – ja, ein Wunder: fast scheint es unversehrt, nur ein schräges Durcheinander von Brettern, das die wagerechten Etagen durchschneidet.

Die Herren sind hinausgestürzt; aus den Schuppen eilen Arbeiter zur Hilfe; es wimmelt um die Unglücksstelle, der Staub ist verflogen, Leitern werden angesetzt – ein Klettern und Krabbeln – wirre Rufe und tönende Kommandoworte. Bald bringt einer der Herren erlösende Kunde: es ist nur das mit Ziegelstaub bedeckte Bretterwerk der oberen auf die untere Etage gestürzt – ein paar tüchtige Schrammen – höchstens ein paar Verstauchungen – dazu ein gewaltiger Schreck, der den Halunken aber eine gute Lehre ist – auch ein paar Tropfen Blut – aber die Abzapfang hat dem Missethäter Noth gethan! Es ist ein Amerikaner, einer von den Handlangern, ein wüster Bursch, wie es scheint. Geschieht ihm schon recht! Das wird ihn schon lehren, sein fürchterliches Schlächterding von einem amerikanischen Bowie in der Tasche zu lassen! Es bedarf mehr der Polizei als des Arztes.

Man hat die Verletzten auf einen Haufen Packheu niedergelassen; es scheint wirklich nichts von Bedeutung. Nur die Handwunde des Amerikaners blutet stark, ein Arzt findet sich bald ein und sieht nirgends eine Gefahr. Die Wunde hat der Betreffende sich selbst im Balgen oder im Stürzen beigebracht; mit empörten Blicken messen die Maurer den Burschen, der sie [403] ganz naiv, wie verwundert, mit seinen hellen, blauen Augen anstarrt. Was für ein Wesen sie doch hier zu Lande aus so einer einfältigen Messerkitzelei machen! Ja, da könnte er ihnen ganz andere Dinge aus seiner Goldgräberzeit berichten!

Wie ist der Streit denn gekommen? Herr Pansow will es wissen. Er will den Schuldigen schon zur Verantwortung ziehen, droht er. Und er läßt den Popanz der Polizei spielen. Man weiß, er macht nicht viel Federlesens.

„Wie das gekommen?“ sagt der Pockennarbige vortretend. „Wer hat angefangen? Der schon nicht –!“ er wies mit der Schulter nach dem Amerikaner – „warum läßt man ihn nicht in Ruhe? Er hat Recht. Aber der da!“ er winkte nach dem Arbeiter mit dem violetten Auge, dessen Gesicht nun noch durch eine gewaltige Schramme quer uber die Wange verschönert worden war. „Warum läßt er meinen Freund nicht in Ruhe mit seinem Baron? Geht doch Niemand was an, ob er ein Baron ist oder nicht!“ Und er blinzelt verschmitzt in der Runde.

„Wie so Baron? Was soll der Unsinn heißen?“ fragt Herr Pansow ungeduldig.

„Na, er is es doch!“

Der Arbeiter reckt sich wichtig heraus. „Er is es doch!“ ruft er. „Ist so gut sein ehrlicher Name wie einem Anderen sein Name. Was ist dabei? Wenn ich es wäre, ich ließe meine Papiere aushängen, daß sich Jeder überzeugen kann. Warum soll ein Baron nicht Steine und Kalk schleppen? Arbeit schändet nicht. He, Dicks, was meinst Du, wir wollen Deine Papiere aushängen lassen, hörst Du?“

Dicks verzog den Mund nur zu einem spöttischen Lächeln. Herr Pansow wollte die Erklärung, aus der er keinen rechten Sinn herauszufinden vermochte, abschneiden und wandte sich an das Violettauge: „Also Sie sind es gewesen, der den Mann da insultirt? Sie haben angefangen?“

„Insultirt? Woso? Hat sich was!“ knarrte die Roststimme. „Sie hören ja, er is es! Hab’ ihn doch bloß bei seinem Namen genannt! Er is doch Baron! Warum soll er nich Baron sind? Wenn ick et wäre, als wie icke …“

Es war die Nachäffung des Pockennarbigen. „Verdammt!“ bekräftigte er, auf sein emporgezogenes Knie schlagend.

Herr Pansow wandte sich ungeduldig an einen der anderen Arbeiter. Dieser zuckte die Schulter: sie nennten ihn Baron, sein Spitzname; aber es sei doch mehr dahinter; er soll ein Anrecht darauf haben. Er macht zwar keinen Gebrauch davon, und es ärgert ihn. Aber er soll es doch nun einmal sein! Ein Baron von … von …“

„Gam … Gamlich – so was,“ half Einer nach.

„Gamling,“ verbesserte ein Anderer.

„Nicht möglich! Unsinn!“ rief Herr Pansow. Er mußte hellauf lachen.

„Er nennt sich bloß Trutz!“ ergänzte der Gefragte.

„Der da sollte …“ das Wort blieb dem Fabrikanten im Munde stecken. Die Erinnerung an irgend ein vor vielen Jahren in einem Vorstadttheater aufgeführtes Volksstück stand plötzlich vor ihm. Dort war zur großen Ueberraschung des Publikums ein Nachkomme eines Geschlechtes, von dessen Vorhandensein Niemand eine Ahnung hatte, in die Handlung hereingeplatzt, den Konflikt völlig auf den Kopf stellend und allen Vermuthungen und Kombinationen über den Ausgang ein Schnippchen schlagend. Man hatte damals über diese Unverfrorenheit, mit welcher der Schriftsteller die Macht des Zufalls mißbrauchte, bedenklich den Kopf geschüttelt. Ungläubig, das Lachen von vorhin mechanisch in den Mienen festhaltend, starrte er den angeblichen Gamlingen an. Nicht möglich! Er kann doch nicht plötzlich vom Himmel gefallen sein, und gerade hier, am heutigen Tage! So lächerlich spielt doch selbst der Zufall nicht.

Der „Baron“ ließ sich gerade von seinem pockennarbigen Freund Mäpke eine Erfrischung reichen, bestehend in einem Stückchen Primtabak, das dieser losgeschnitten und das er Dicks in den vorgestreckten Mund schob. Er schien Pansow und dessen Verwunderung nicht im Mindesten zu beachten.

Mit einem vollkräftigen Berlinischen „Nanu?!“ fuhr Adolf zurück, als Pansow ihm die erstaunliche Neuigkeit meldete. Walther horchte stutzend auf. Doch nur zwei Minuten lang schien er an der legitimen Richtigkeit dieses Namensvetters zu zweifeln, es schlummerte ein Bewußtsein in ihm, daß er von diesem Namen noch die kühnsten Ueberraschungen zu erwarten habe.

„Wer? Wo ist er denn?“ rief er mit einem erzwungenen Lachen.

Herr Pansow zeigte nach Dicks hin.

„Der da! Das ist ja – das ist – wirklich – ausgezeichnet!“ platzte Walther heraus. Er war fahlblaß im Gesicht.

Dicks saß da und hielt die verbundene Hand in dem einen gekrümmten Arme, als wäre es ein Kindchen, das er hätscheln müßte. Seine im spitzen Winkel emporgestemmten Kniee wiegten sich lässig hin und her, und mit wälzenden Muskelbewegungen ließ er den Prim im geschlossenen Munde wandern.

„Der da …“ wiederholte Walther, und der Ausdruck des Lachens verschwand gänzlich. Mit wachsendem Erstaunen stierte er den Burschen an. War es eine neckende Sinnestäuschung, oder hatte der Bengel da wirklich solche auffallende Aehnlichkeit mit dem Oberstlieutenant? Dasselbe rundliche, fröhlich gesunde Gesichtchen und die Spur des Husarenbärtchens, das sich über der Oberlippe keck zu kräuseln begann, dieselben runden, hellen, stets etwas verwunderten Augen.

Daneben hielt dessen Freund Mäpke und grinste ihn triumphirend an. In der Stellung eines Budenbesitzers hielt er, als wäre er es, der das außerordentliche Wunderding von einem noch völlig wilden und unbeleckten Baron in irgend einem amerikanischen Winkel aufgestöbert und nun zum Besten der hohen Civilisation zu produciren hätte. Man meinte, der Kerl müßte jeden Augenblick den Mund weiter aufreißen, um das verehrte Publikum zum Entrée aufzufordern: „Heran, meine Herrschaften – ein Baron, ein echter Baron, noch völlig ungezähmt!“




22.0 Nur keine Bildung.

Hauptmann Trutz von Gamlingen (Berlin) an Lieutenant Mühüller
 (Wesel a. R. – Citadelle).

 „Mein lieber Mühüller!

Zu unserer großen Freude erfahren wir aus Ihrem letzten Brief, daß Sie frischauf sind und daß es Ihnen so gut geht, wie es Ihnen unter solchen Umständen nur gehen kann. Gottlob, scheint Sie Ihr alter prächtiger Humor auch diesmal nicht zu verlassen. Es sind ja doch nun von dem ‚Bade-Urlaub mit Kettengerassel‘, der Ihnen von Staatswegen spendirt wird, wie Sie es nennen, bereits drei Wochen verflossen. Freilich wäre es nun an uns, Ihnen durch hübsche, unterhaltende Briefe das Einerlei von „Kasemattenheim“ zu beleben – ach, mein guter Mühüller, der Humor ist mir selber diesmal ausgegangen, und wir sitzen auf dem Trockenen.

Also der Fall ist der. Denken Sie, es ist ein Gamlingen vom blauen Himmel heruntergefallen, ein unzweifelhaft echter mit Papieren. Echt sogar bis auf das Gesicht unseres braven Oberstlieutenants; ein Enkel des lieben alten Herrn. Ich erzählte Ihnen einmal etwas von einem verlorenen Sohn, den das Leben tüchtig herumgeworfen und der Jahre lang verschollen war, bis der polizeiliche Rapport eines Atlantic, der den, wie es scheint, Amerikamüden zurück in sein Vaterland bringen sollte, seinen Tod authentisch vermeldete. Es hatte Niemand eine Ahnung, daß er verheirathet gewesen und eigene Nachkommen hatte. Auch diese hielten sich im Verborgenen drüben in Amerika, bis nun der eine übers Wasser setzte, um seine ‚große Tour‘, freilich auf seine Art, zu machen.

Eine seltsame Verlegenheit! Sie kennen mich genug, um mir keine häßlichen Motive unterzuschieben. Nicht das Gefühl, daß wir uns mit dieser Adoption sträflich übereilt haben; nicht, daß mir der Name jetzt, wenn er mir formell auch kaum genommen wird, Rechtens nicht mehr zusteht; nicht, daß ich mich in dessen Besitz durch einen Anderen moralisch verdrängt fühle, nicht, daß mir die Existenz dieses Anderen ein steter Vorwurf ist, nicht, daß ich diese Existenz annullirt wünschte – Gott erhalte ihm sein junges Leben und mache ihn zu einem braven und tüchtigen Menschen! Wahrhaftig, ich bin jederzeit bereit, diesen Namen wieder hinzugeben. Er beginnt mir wirklich schwül zu werden. Alles das nicht – nur die Verlegenheit, was man mit dem Burschen beginnen soll.

Sie müssen wissen, er ist der amerikanischste Amerikaner, der sich ausdenken läßt. Er ist so gut wie wild, und fast könnte man ihn bei Castan ausstellen lassen. Er ist in den kalifornischen [404] Goldgräbereien aufgewachsen und hat sich dann in allen Winkeln der Vereinigten Staaten umhergetrieben. Er spricht das bunteste Kauderwälsch, und er flucht, daß der Tisch wackelt. Ich glaube, er kann weder lesen noch schreiben; wenigstens schützt er seine verwundete rechte Hand auch als Hinderniß für das Lesen vor. Er ist von der Bildung so unbeleckt, wie es Adam am Schöpfungsmorgen war. Vergegenwärtigen Sie sich die Situation: ich machte seine Bekanntschaft, als er eben auf einen Maurergesellen mit einem Bowiemesser losgegangen war und verwundet, von Schweiß und Ziegelstaub bedeckt, auf dem Heu lag. Der vom Himmel Gefallene ist Handlanger bei einem Bau, natürlich muß dieser Bau gerade der Schornstein sein, den mein Bruder Adolf in seiner Fabrik errichten läßt.

Weiß Gott, was ihn dazu getrieben, sein Amerikanerthum hier bei uns zu produciren! Jedenfalls nicht der Name. Er ist von derlei Thorheiten ganz frei. Er hat, wie auch sein Vater, seinen wahren Namen gekürzt und ist schlichtweg als Trutz herumgelaufen. Drüben in der demokratisch dünnen Luft wäre es auch bei dem Trutz geblieben – hier muß ihn doch wohl der Namensteufel etwas gezwickt haben, daß er mit dem Geheimniß seines volleren Namens herausrückte.

Da ist er also. Was soll man mit ihm anfangen? Ich will Ihnen offen berichten: in der ersten Verblüffung hatte ich nicht übel Lust, mit dem jungen Mann ein verständiges und energisches Wort unter vier Augen zu reden, ihm das Portemonnaie mit Geld zu stopfen und ein Billett nach Amerika zu kaufen, ehe die Anderen davon erführen und ehe er im Stande wäre, mit dem Namen ein Unheil anzurichten. Ich schäme mich dessen jetzt: es wäre grausam, brutal, geradezu verbrecherisch gewesen. Ich bin mir bei Uebernahme des Namens darüber klar geworden, daß es nicht genügt, das glänzende Ding wie eine Dekoration an die Brust zu stecken und damit als eitler Geck umherzulaufen, nein, daß nun die heilige Pflicht auf mir lastet, dies Erbe der Jahrhunderte zu hüten und vor jeglicher Art von Unglimpf zu schützen.

Nun, ich nehme die Angelegenheit zu tragisch. Was zu thun ist, liegt klar. Man wird ihn unter den Augen behalten müssen! Man muß diesen Wilden einfach civilisiren! Man muß ihn zur Erkenntniß dessen bringen, was er seiner Familie, um nicht zu sagen, seinem Namen schuldig ist. Ein hart Stück Arbeit; mit Gewalt ist da nichts zu erreichen, das habe ich schon gemerkt. Wir werden Geduld haben müssen.

Sie können sich denken, daß völlige Revolution bei uns ausgebrochen ist. Unser hübsches junges Glück – in das dieser Bengel so plump hereinpurzeln mußte! Meine ärmste Schwiegermutter! Anfangs wehrte sie sich mit Händen und Füßen gegen die Existenz des Amerikaners, zuletzt war doch seine leibliche und sehr effektvolle Gegenwart nicht mehr hinwegzuleugnen. Im Angesicht der Papiere, die ihn legitimirten, fiel sie in eine ganz reelle Ohnmacht. Mein Frauchen giebt sich krampfhaft Mühe, der Sache mit Humor gegenüberzutreten. Lolo Belzig amüsirt sich jedenfalls köstlich. Schwesterchen Olga war sofort mit sich darüber einig, daß sie hier mit voller Tanten-Autorität ihre resolute kleine Persönlichkeit einsetzen müsse. Ich bitte Sie, dieser hahnebüchene Neffe, der um einen Kopf sein niedliches Tantchen überragt!

Nun genug davon. Sie ahnen nicht, wie dieser – dieser – nun, er kann ja nichts dafür, im Grunde ist er ein guter Bursche! – von all unserem Denken und Thun Besitz ergriffen! Bleibem Sie frisch und fröhlich und gedenken zuweilen unser in dieser Schwulität. Meine Frau, meine Schwiegermutter, überhaupt die Damen lassen herzlich grüßen.

(Hier waren über den Zeilen zwei Worte eingeschaltet: ‚auch Olga‘ stand dort, aber scheinbar nicht von Gamlingen’s Hand, als wenn Jemand anders das zugefügt.)
 Stets in Treuen
 Ihr alter Kamerad
 Trutz.“


Lieutenant Mühüller an Hauptmann Trutz von Gamlingen.


 „Lieber Trutz!

Na aber so was! Na nun brat’ mir Einer einen Storch! Das ist meine Meinung von der Sache. Ich war ganz paff, als ich Ihren Brief las. Der reine Kolportageroman! Meine herzliche Kondolation! Pardon, er ist doch Ihr Neffe, und man muß die Verwandtschaften nehmen, wie sie fallen. Es ist schade, daß Mühüller nicht zur Stelle, und wenn es mir zum ersten Mal in meiner Verbrecherzelle zu eng wurde, so war es gestern und heute, seitdem ich von Ihrem amerikanischen Pech gehört. Na aber, den thäte ich auf den Schwung bringen! Ich kriegte ihn klein, ich kriegte ihn zahm wie ein Hühnerfrikassee! Pardon abermals, mein lieber Trutz, ich würde ihm den preußischen Pli beibringen, daß es nur so rauchte. So ein Jankedudel!

Na, nun wollen wir also überlegen, wie das Dings zu fingern. Sie meinen, man müßte ihn mit Handschuhen – jömich, o jömich, mir wurde bei der Stelle Ihres geschätzten Briefes ganz schlimm! Dies wäre das Richtige. Brevi manu und ohne Vorübung! Anders nicht! Zeigt er Renitenz – sofort kehrt, marsch zurück nach Amerika!

Na, nun wollen wir also überlegen. Sie wollen es mit der Bildung versuchen, wie ich Sie verstehe. Sie wissen, ich habe höllischen Respekt vor der Bildung. Je mehr ich jetzt als Staatsbummler in die Bildung hineingucke – und ich schmökere mir noch den Kopf lahm an all’ den Büchern – um so mehr werde ich von der Gefährlichkeit der Bildung überzeugt. Bildung wo sie hinpaßt, à la bonheur! Hier ist sie ein Unsinn, sie wäre ein Verbrechen. Bildung ist auch zu langsam. Sie schafft nicht, man kommt nicht vom Fleck. Er wird Sie auslachen mit Ihrer Bildung. Raison ist besser als Bildung. Und er braucht Raison, soviel ich natürlich von der Sache verstehe – schmeichle mir aber, einiges Kapé in solchen Dingen zu haben.

Und nun, mein lieber Trutz, giebt es noch einen tüchtigen Rungx (wie schreibt man das Dings doch?), daß Sie sich haben verblüffen lassen! Etwas Schwulität will ich Ihnen schon bewilligen, aber höchstens für einen Sechser. Wir kriegen es schon klar! Nur müssen Sie mich genauer orientiren. wie, wo, was, weßwegen, alle Generalfragen. Wegen des Namens reißen Sie sich doch nicht mehr wie ein Bein aus. Sie thun ja fast, als betrachten Sie sich für die Konduite aller verflossenen Gamlingen und aller, die noch vom Himmel regnen werden, verantwortlich. Nehmen Sie mir das nicht übel!

Nun muß ich schließen. Es bläst zur Arbeit. Nur noch vier Stunden Holz hacken. Ich hätte mir schon die Hände schwielig geschuftet, können Sie den Damen vermelden; unter uns, die Schwielen kommen von dem Dauerskat, den wir Verbrecher täglich herunterarbeiten, bis uns Punkt neun Uhr die große Lichtputzschere, die Hausordnung, das Licht vor der Nase abdreht.

Meine ergebensten Grüße an die Damen! Fräulein Schwester wünsche ich zudem noch glückliche Reise nach England.
 Ihr alter Mühüller,
 der ganz starr vor Staunen ist über diesen Kilometerbrief.

P. S. à propos, wissen Sie schon, daß ein gewisser Graf sich in Wiesbaden reich und glänzend mit einer holländischen Wittwe verlobt hat? Ich habe es von einem Kameraden, der ihn kennt und der in Wiesbaden ein paar Tage Vorkur kostete, ehe er sich den Kurgästen von Kasemattenheim anschloß. Ich wußte es, und Frau Schwiegermama hatte Recht: der Kopf ist ihm aus der Richtung gerutscht, als er die Pistole abdrücken wollte. Oder sollte ihm selbst der Schuß Pulver leidgethan haben?“




23.0 Dicks’ Debüt.

Das System Mühüller in allen Ehren – aber hier paßte es nicht. Dieser junge Wilde mußte auf besondere Weise angefaßt werden. Davon überzeugte sich Gamlingen schon in der ersten Woche, wo Jener noch, durch seine Armwunde geduckt, in scheuer Verwunderung das elegante Zimmer anstierte, in welches er sich vom Zimmerplatz weg versetzt sah. Freilich schlug die Vermietherin oft genug die Hände über dem Kopf zusammen, wenn der „Herr Baron“ ihr schönes Porcellan auf die Erde warf, mit den Stiefelhacken das Sofa maltraitirte und die Cigarre brennend auf die Tischdecke legte. Aber das war eine Kleinigkeit im Verhältniß zu den Gefühlen der Familie, die diesen amerikanischen Goldsohn nun den Ihrigen nennen sollte.

Gamlingen stand bald schon rathlos vor dem begonnenen Erziehungswerk: an der Dummdreistigkeit des Burschen scheiterte jeder Versuch, ihm zu imponiren; Dankbarkeit schien er nicht zu kennen; die geschenkten Cigarren nahm er kaltblütig hin und [406] versicherte höchstens auf Befragen, sie seien „verdammt guter Kneller“. Dagegen bekam er einen Wuthanfall, als der Hauptmann in seiner kurzen und scharfen Weise ihm erklärte, daß der gute Freund Mäpke künftig nicht mehr über seine Schwelle dürfe. Er begann, diesen lästigen Erzieher grimmig zu hassen, und beschloß in seinem Innern, nur noch eine Zeit lang zuzusehen. Um sich seliren zu lassen, war er nicht aus Amerika hergekommen!

Am besten kamen noch die Damen mit ihm aus. Frau Belzig freilich hob nach der ersten Besichtigung der amerikanischen Kalamität nur Schultern und Augen empor und stieß einen tiefen Seufzer aus: „Könnte man ihn nicht einfach hinaus werfen?“

„Wo denn hinaus?“ meinte Lolo voll Humor. „Aus Europa hinaus, meinst Du doch? Und warum denn? Er ist eigentlich ein drolliger Bursch – unser Neffe!“

Er seinerseits betrachtete die drei jugendlich reizenden „Tanten“ Olga, Litta und Lo als den angenehmeren Theil der dummen Komödie und hörte gemüthlich zu, wenn sie ihm für sein bevorstehendes Auftreten in der Welt die besten Rathschläge ertheilten: ein Amt, welches besonders Olga, als seine eigentlichste Tante, mit Feuereifer betrieb. Sie hatte sogar die Abreise nach England deßhalb verschoben.

Aber trotz aller Bildungsversuche war die allerseitige Ueberraschung groß, als der neue Baron Gamlingen endlich in der Freiheit erschien. Der Hauptmann hatte „ihm zu Ehren“ die Familie zu einem Mittagessen entboten. „Mein Gott, man muß doch einmal anfangen, ihn zu zeigen!“

So hatten sie sich ihn nicht gedacht! Nicht so unmöglich! So lange er noch in seiner Stube auf dem Sofa saß, den Arm in der Binde und all die Scherze und Experimente, die man mit ihm anstellte, all die deutlichen Winke und offenen Ermahnungen und systematischen Bildungsversuche ruhig über sich ergehen ließ, so lange er unter dem ersten Einfluß der Feerie stand: da schien noch Aussicht vorhanden, daß mit Geduld ein leidlicher Zustand der Civilisation zu erreichen wäre. Nun aber war es, als ob er mit der Armbinde auch den Schein der Zähmungsfähigkeit abgelegt.

Mühüller hätte seine Freude daran gehabt, wie roh und unbeleckt der Wilde sich darstellte. Keine Spur von einer Verbeugung, keine Idee von einem Bedürfniß, ein paar Worte der Entschuldigung zu stammeln, wenn man seinem Mitmenschen mit seinem breiten Lackstiefel auf die Füße getreten. Seine Bewegungen wären nicht ganz so täppisch und ungelenk erschienen, wenn er sich hier in der gedämpften und vornehm thuenden Atmosphäre nicht etwas gedrückt gefühlt hätte.

„Du wirst nachher Fräulein Lolo zu Tische führen,“ sagte Olga, mit einer gewissen Besorgniß in das Gesicht des Herrn Neffen emporblickend. „Nicht wahr, Du wirst doch artig sein – Du wirst brav und folgsam sein …“ ganz wie eine Mutter ihr Kind ermahnt, sich recht brav in der Schule zu verhalten.

Das herzige Püppchen, das ihn, Dicks, mit ihrem rührend lieben Stimmchen fragte, ob er artig sein würde! Er mußte lächeln. Und das Gelüste prickelte stärker denn je in seinen Fingern, zuzugreifen und das hübsche Blondköpfchen zwischen seine großen Hände zu nehmen.

„O der Deixel!“ rief er kräftig. „Warum soll ich nicht artig sein, Tante? Artig wie eine Auster, Tante!“

Und er hob sich auf einem Bein und senkte sich breitspurig aufs andere, so hin und her schaukelnd, dann setzte er sich auf den Rand des nächsten zierlich gedrechselten Tischchens, das unter seiner Last mit einem kläglichen Aechzen zusammenknickte. Und es war ein Hochzeitsgeschenk!

Melitta warf ihm einen Blick des Jammers zu, den er nicht bemerkte.

Er führte also Lolo zu Tisch, wie er es bei den Anderen gesehen, ihren Arm mit dem Fächer fest, als hätte er sie arretirt, zwischen den seinen geklemmt. Ihm war so seltsam schwül. Sie lachte hell auf – ihre Zähnchen schimmerten und ihre braunen Augen strahlten ihn schelmisch an.

„O, Sie – Du mußt mich auch nicht gar so fest fassen, Neffe!“ lachte sie, ihren nackten Unterarm, den ein kostbarer Reif zierte, aus seinem Arm herauszwängend. „Sieh, so –“ und sie tauschte die Rolle, nahm seinen Arm und legte ihn feierlich in den ihren. „So ist’s!“

„Blitz nochmal!“ entfuhr es ihm. Es war die Berührung ihrer Hand, die ihn so seltsam erregte.

Dann das Diner mit seinen neuen Qualen für die versammelten Erzieher.

Als Dicks gegen den Schluß desselben unterhaltend wurde und eine Mordgeschichte aus Kalifornien zum Besten gab, bei welcher er keineswegs bloß die Nebenrolle gespielt, da hob Frau von Gamlingen entrüstet die Tafel auf und „Tante Olga“ zog den Ahnungslosen mit sich in den kleinen Salon hinein.

Sie führte ihn vor den Stammbanm, der an der dunklen Wand des Zimmers, wie absichtlich dem neugierigen Tageslichte entrückt, ziemlich unbeachtet hing. Sie hielt es für ihre Pflicht, den Familiensinn in ihm zu wecken. Gelang das, so war Alles gewonnen.

„Unser Stammbaum!“ sagte sie hinanweisend.

„Carambal!“ sagte er, das Bild anglotzend.

Sie erklärte ihm die Bedeutung. Er schien nicht recht zu begreifen.

„Ein schöner Baum!“ sagte er. „Ein verblitzt schönes Exemplar von einem Baum. Bei uns dahinten giebt es noch größere und viel dickere!“

„Das hing über Papas Bett, als er starb,“ sagte sie, den Einwand mochte sie nicht gehört haben – ihre Stimme vibrirte wie durch Thränen. „Dein Großpapa!“ fügte sie hinzu.

„O!“ rief er aus mit wirklichem Bedauern. „Ein schöner Baum,“ wiederholte er dann, um die Pause auszufüllen. „Ein verdammt schöner Baum!“

Sie brachte ihn darauf, daß er von seinem Vater und von seinen Schicksalen erzählte. Es war Alles so selbstverständlich – was ist da zu erzählen? Von seinem Vater wußte er nicht viel. Dieser hatte ihn, als er ungefähr zehn Jahre alt war, der Obhut eines Freundes anvertraut, um nach Europa zu fahren. Was er da wollte, wußte Dicks nicht. Er hat ihn auch nicht wiedergesehen. Dann war Dicks der lästigen Obhut entschlüpft und hatte sich auf eigene Faust versucht. Was er getrieben? wo er gewesen? – er hat einfach Alles getrieben und ist überall gewesen! Damit fertigte er summarisch jede Nachfrage ab.

Bald darauf saß Dicks wieder unter den Anderen im Salon. Was für lächerliche Babytäßchen sie doch zum Kaffee nehmen! Und diese winzigen goldenen Löffelchen, die man am liebsten gleich mit hinabschluckt! Wieder ärgerte er sich über Walther, der ihm geradeheraus untersagte, seine Füße, mit deren gleißenden Lackstiefeln er sich doch gewiß nicht zu schämen brauchte, auf die mit Plüsch bezogene Etagère zu legen!

Da wurden Baron und Baronin Kehren gemeldet. Walther fuhr heftig auf: mußten die auch gerade heute hereinplatzen!

„Wir haben Besuch, gnädige Frau“ – Melitta fand es für nöthig, dies vor der Vorstellung zu erläutern – „aus Amerika,“ fügte sie in ihrer Angst mit Nachdruck hinzu.

„Ah, sehr interessant – wir haben schon davon gehört!“ lächelte Frau von Kehren in ihrer schnippischen Art.

„Baron Kehren –“ stellte Walther vor, ohne mit einer Miene die Verlegenheit zu verrathen – „Baron Kehren –“ und etwas weniger laut, mit einer flüchtigen Bewegung nach Dicks weisend. „Freiherr von Gamlingen.“

Dicks rührte sich mit keinem Härchen. War er gemeint? Ah so! es galt ihm, der Freiherr und die famose Verbeugung, die dieser blitzblanke Officier machte! Einfach glotzte er ihn ganz vergnügt mit seinen hellsten Augen an.

„Wie gefällt es Ihnen hier in Europa?“ näselte Kehren, der sich durch nichts überraschen ließ.

Damned! ganz wunderbarl“ rief Dicks.




24.0 Das A B C.

So konnte es nicht fortgehen! das war klar! Der Familienrath beschloß also, Dicks’ versäumte Bildung gründlich nachzuholen, und auf Adolf Eff’s Rath wählte man in der Lindenstraße ein Institut, das unter der deckenden Firma einer Handelsschule die Korrektur zurückgebliebener Söhne und unorthographischer Töchter als diskrete Specialität betrieb.

„Ich verstehe schon,“ nickte der kleine bucklige Inhaber des Instituts, als ihm von Gamlingen der Fall erläutert wurde; „verstehe schon! Kommt übrigens oft genug vor. Wir haben da einen Professor, der sich auf solchen Unterricht vorzüglich versteht. Sie werden zufrieden sein, Herr Hauptmann!“

[407] Da saßest Du nun, armer Dicks, wie angeschraubt an den unausstehlichen Wachstuchtisch, einen Topf voll Tinte vor Dir, groß genug, um die Unwissenheit eines ganzen Goldgräberlagers darin zu ersäufen, die widerspenstigste aller Federn in der Hand, und beschworst mit den geheimnißvoll klingenden Silben Ba, Be, Bi, Bo, Bu, die zu Hunderten der Feder entflossen, die Bildung herauf. Das gardinenlose, von grauem Staub angehauchte Fenster schaute auf die schwarze Wand einer Fabrik. Wie öde – wie traurig das Alles – ein wahres Gefängniß! Da gedachtest Du wohl Deiner kalifornischen Berge und Deiner unbeschränkten Freiheit, die so weit reichte, als die Landstraßen laufen wollten – Nachtlager, so viel Büsche es gab in den Vereinigten Staaten, und zu essen und zu trinken, so lange noch die Faust heil war! Und keine Lehren und Nörgeleien! Wehe Dem, der einem Dicks Trutz aus Nirgendwo etwas zu sagen wagte!

Oft fiel ihn eine Wuth an, als müsse er aufspringen, Feder und Bildung in die Ecke werfen und sich davon machen. Aber er bezwang sich immer wieder, es war eine Art von Neugier in ihm, zu sehen, wohin das Alles führe, und außerdem – die reizenden Tanten hatten es ihm doch sehr angethan. Besonders das Lachen von einem gewissen Lippenpaar – armer Dicks, sollte Dein naives Herz wirklich in Gefahr sein, dem Banne einer Leidenschaft zu verfallen, die Lolo heißt?

Nun, und der Baron? Nun, und der Name?

Dicks begann die Ohren zu spitzen und ganz fein hinzuhorchen nach dem Klingeln der Schellenkappe. Es war der gerühmte Professor, der ihn zuerst auf das Geklingel aufmerksam machte. Dieser schien es darauf angelegt zu haben, ihm den Geschmack an seinem eigenen Namen mehr und mehr beizubringen. Ein höflicher, geschmeidiger, umgänglicher Mensch, der Alles kannte und wußte, dessen Lektionen man gar nicht als solche empfand, so amusant waren sie. Jedenfalls das Gegentheil von dem entsetzlichen Pedanten in Uniform, den er immer mehr zu hassen begann.

Man fragte ihn bei den Belzigs, wo er den Professor so herausstrich, wie dieser Wundermann denn heiße.

„Blitz nochmal!“ fluchte Dicks, „ein famoser Junge! Er kennt Euch genau; Perkisch mit Namen.“

„Ah – ah!“

Ein Erstaunen, ein Unwillen – und dann eine Berathung, ob man Dicks in Perkisch’ Händen belassen dürfte, nach dem, was er mit diesem Grafen verschollenen Angedenkens schon angerichtet. Wer hatte denn das Institut empfohlen? Natürlich Adolf. Walther stellte diesen zur Rede.

„Nun, es ist mir gerade speciell von Perkisch empfohlen worden,“ wehrte dieser. „Wen soll ich sonst fragen? Mögt Ihr es halten wie Ihr wollt, ich kann den Mann nicht entbehren. Seit ich zahlen kann, läßt er seine Tinte strömen für meine Patente. Uebrigens thut Ihr gut, Alles zu lassen wie es ist – der Professor läßt sich nicht gern sein Schäfchen halb geschoren aus den Händen reißen.“

Gut, auch das! Walther erklärte grimmig, daß ihm Alles gleichgültig zu werden beginne.

Perkisch hatte sofort, als ihm der originelle Zögling vorgestellt wurde, seiner Spekulation freien Lauf gelassen. Welch ein köstlicher Zufall! Man muß den Bengel mit der Nase auf seinen Baron stoßen; man muß ihm einen Begriff beibringen, was so ein Ding in unserem aufgeklärten Europa bedeutet und was es auszurichten vermag!

„In Amerika mag man ohne Namen herumlaufen, hier thut man es schon nicht aus Rücksicht auf Polizei und Steuerbehörde; es ist der Henkel, bei dem sie Euch anfassen, mein lieber Baron.“

Natürlich nicht anders als „Baron – lieber Baron“. Perkisch ließ fort und fort diese Note vor Dicks klingen. „Nun, es kommt ihm doch zu! Der Titel gehört ihm so gut wie dem Anderen!“ grinste der Cyniker in sich hinein.

Dicks stutzte anfangs, dann vermochte er ein wohliges Schmunzeln nicht zu unterdrücken als ein Zeichen, daß ihm der Baron zu schmecken begann; zuletzt strich er den Titel einfach als einen selbstverständlichen Tribut ein.

Also es giebt gute Namen und Namen, die von vornherein keinen Pfifferling werth sind, solche, die unter allen Umständen Karrière machen, und solche, die zum Atiachambriren bestimmt sind. Oft kommt es auf den Klang an und wie ein solches Ding sich ausspricht.

„Sie heißen Baron Soundso – nun, Sie brauchen den Namen nur zu nennen, es ist so gut als sprächen Sie ‚Tischlein deck’ dich!‘ – schrumm, sitzen Sie beim feinsten Diner. Sie brauchen nur die Angel mit dem Köder auszuwerfen – flugs hangen Ihnen die Goldfische zu Dutzenden daran. So ein Name läuft ganz allein; Sie brauchen sich nur die Mühe zu geben, ihn zu besitzen, er springt mit Ihnen über alle Hindernisse. Und nichts Unverwüstlicheres – er ist nicht klein zu machen! Sie arbeiten auf ihn los, Sie verhauen, Sie verschleißen, Sie maltraitiren ihn, Sie lassen ihn Spießruthen laufen durch den Leumund der Leute, Sie zerren ihn durch die Gerichtssäle: ein anderer hielte die Behandlung nicht aus, er läßt sich nichts anhaben. Sie können wahrhaftig froh sein, so etwas zu besitzen, Baron!“

Dicks wurde es fast schwindlig von solcher Suade. Die Theorie war ihm wohl zu nebelhaft, Perkisch kam also mit Beispielen.

Ganz zufällig, indem er mit dem gewohnten Blinzeln der farblosen Augen die Beschwörungsformeln in Dicks’ Schreibheft überflog, blieb er an einem Buchstaben haften – „Sie müssen diese F’s, besonders die Schleife, noch eleganter herausarbeiten –“ sagte er und zog dabei eine Schleife durch die Luft. Apropos, Baron, der Buchstabe erinnert mich daran. Ihr Onkel Gamlingen – so, sehen Sie, was hätte der wohl mit seinem Namen angefangen? Freilich, es war aber auch ein Name, der schon überhaupt kein Name mehr, sondern nur ein Buchstabe war, Frau Belzig hatte Recht …“

Dicks horchte auf. Perkisch nahm eine kleine Rache. Sie hatten ihn aus dem Belzig’schen Hause wegen der Grafenaffaire ausgeschlossen. Er war sehr empfindlich, das machte der Umgang mit der Poesie, die er in seinen Toasten betrieb. Er wollte sich schon eine kleine Genugthuung verschaffen – sie sollten sich Alle bis aufs Blut ängstigen! Zum Mindesten würde er, Perkisch, sich köstlich dabei amüsiren!

„Wieso?“ fragte Dicks nach einer Pause, in der Perkisch an den Hühnerkratzeln des Heftes herumkorrigirte.

„Nun, Sie wissen doch – oder sollten Sie das noch nicht wissen, in welchem Verhältniß Ihr sogenannter Onkel zu Ihrem Namen steht? Adoptirt, mein Lieber – o Pardon – adoptirt, Baron! Sie wissen wohl nicht, was das ist, wie? Ich will es Ihnen erklären.“

Dicks hatte es bisher wirklich noch nicht der Mühe werth gehalten, seinen Onkel auf seine Echtheit zu prüfen. Er wußte nur, daß er, Walther und Olga die einzig Uebrigbleibenden des Namens waren. Das Wort Adoption hatte er zwar aus den Unterweisungen, die ihm Tante Olga in Betreff der Familie gab, herausgehört, ohne darauf zu achten, was das sei.

Perkisch erklärte es ihm nun, und er war erstaunt über die Wirkung seiner Mittheilung.

„Kommt schon vor, mein lieber Baron. Freilich muß man vorsichtiger sein, und wenn Sie nicht ein so famoser Kerl wären, pardon, nun, Sie nehmen es nicht so! – so könnte man es, von denen dort aus betrachtet, als ein Pech ansehen, daß Sie überhaupt auf der Bildfläche erschienen. In Lyon fand gerade dieser Tage ein Proceß statt. Es handelte sich um einen Marquistitel, der feil ist, Marquis Bourdon-Chérisy. Jemand, der Sohn eines bekannten Industriellen, findet Gefallen daran und möchte sich das Ding wohl zulegen. Gut. Der betreffende Adoptivvater hat den vom Gesetz geforderten Nachweis des Mangels direkter leiblicher Nachkommen auch richtig eingebracht. Plötzlich taucht, ich glaube auch aus Amerika, wo alle Ueberraschungen herkommen, ein Zipfel von einem Marquis gleichen Namens auf. Und wie in einem Roman, ganz wie bei Ihnen, Baron – ist es natürlich ein Enkel, von dem man gar keine Ahnung hatte. Platzt plötzlich herein – was ist zu thun? Er wird natürlich dem Adoptivbruder den Namen nicht streitig machen, fällt ihm auch nicht ein! Da entzweien sich die Brüder – natürlich wegen eines Frauenzimmers – der Amerikaner wird rabiat. ,Du hast mir meinen Namen gestohlen!‘ droht er, ,Du wirst mir ihn herausrücken!‘ Und Proceß und Skandal. Und zum großen Gaudium des Publikums zieht der entthronte Marquis mit seinem simplen – Mayer wieder ab – ich glaube, er hieß Mayer oder so ähnlich. Man erwartet jeden Augenblick in der Zeitung zu lesen, daß er sich aus Verzweiflung ins Wasser stürzen wird. So, nun wollen wir unsere Lese-Uebung beginnen, wenn es Ihnen recht ist, Baron?“


Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1887, Heft 26, S. 417–424
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25. Gamlingen-Proceß.

Der pikante Proceß Bourdon-Chérisy hatte die Runde durch die Blätter gemacht.

Frau Belzig ließ entsetzt das Zeitungsblatt in den Schoß sinken. „Das ist ja – das ist ja wie ein Spuk,“ stammelte sie.

„Zeig’ einmal her, was hast Du denn, Bella?“ Herr Belzig nahm ihr das Zeitungsblatt vom Schoß. Mit einem wachsenden Staunen las er das Referat über den Proceß. „Ausgezeichnet, das ist ja fast, als könnte es in Berlin am Lützowufer passirt sein!“ rief er lachend.

Und nach einer Pause, während sie in hastigen nervösen Zügen ihren Kaffee schlürfte, sagte er mit jener Ruhe, die sie erst recht reizte. „Du glaubst doch nicht, der da, nun Euer Baron könnte auf den Gedanken kommen, ein Gleiches zu thun?“

„Was willst Du?“ fuhr sie ihn an. „Unsinn! Bitte, gieb her, ich habe das Blatt noch nicht ausgelesen.“

Sie nahm die Zeitung und versenkte sich tief in die Lektüre. Aber zwischen den Zeilen, die sie nur mechanisch las, hockte überall die neue Sorge. wenn er ein Gleiches thäte! So oft sie den Gedanken wegjagte, immer war er wieder da. Unsinn – der Weltuntergang ist doch nicht so nahe!

Gleichzeitig um dieselbe Frühstücksstunde schlug die Nachricht in der Friedrich-Wilhelmsstraße ein. Walther legte die Zeitung stumm hin und sagte nichts. Melitta, die ihm das Blatt gereicht hatte, wartete mit gespannten Augen, daß er sich äußern sollte. Aber nur ein bitterer, ironischer Zug zuckte um seine Mundwinkel.

Was geschah mit ihm? Seine freundlich offene Art war im Laufe dieser Wochen einem scheuen, gedrückten Wesen gewichen. Er war zerstreut und krankhaft gereizt. Mit wachsender Angst beobachtete ihn Melitta. Er schob dienstliche Plackereien und Ueberarbeitung vor. Sie wußte, es war der Amerikaner, die ganze lächerliche Verlegenheit, die ihn so peinigte. Wie war es aber möglich, alles das so tragisch zu nehmen? Auslachen muß man ihn! Nun aber – der Proceß da – wenn Jener sich ein Beispiel nimmt … Unsinn! Undenkbar!

Sie umschlang Walther’s Nacken stürmisch, klammerte sich fest an ihn. „Walther, lieber Walther!“ flehte sie mit Thränen in der Stimme, von plötzlicher Angst getrieben.

Er beruhigte sie mit Liebkosungen, die wohl an frühere Tage erinnerten. Gleich darauf saß er wieder brütend da. „Es wird wohl das Beste sein,“ murmelte er vor sich hinnickend, „wir machen uns auf und gehen selbst nach Amerika!“

Sollte sie darüber lachen? Welch ein Scherz!

Aber er konnte nicht Herr darüber werden, so sehr er sich Mühe gab. Alles erinnerte ihn nun daran. Der amerikanische Vetter und die köstliche Situation, in die dieser den neugebackenen Freiherrn versetzt, hatte Aufsehen erregt. Bei seinen Kameraden, überall wohin er kam, witterte Gamlingen Spott und Schadenfreude – obgleich sie doch im Generalstabe an Wichtigeres zu denken hatten! Nun, weil ihn selbst der Gedanke fort und fort beschäftigte, bis in seine Arbeit hinein.

Und jetzt noch dieser Proceß! Schon sah er die grinsende Schadenfreude, die nur darauf lauert, daß er den Namen [418] wieder herausgeben wird. In seiner Aufgeregtheit malte er sich das Parallelstück zu dem Lyoner, den famosen Gamlingen-Proceß, aus. Der alte gute, ehrliche Name seiner Väter für alle Zeit mit dieser Lächerlichkeit gebrandmarkt! Besser entrinnen – so abenteuerlich das klingt – retten, was zu retten ist – den Abschied nehmen – den Namen freiwillig wieder ablegen – auf Karrière, Stellung, Alles verzichten – ein neues Leben von vorne beginnen! Um eines Namens willen!

So stand es, als Mühüller nach abgekürztem Bade-Urlaub von Kasemattenheim Ende September wieder in Berlin eintraf und sich sofort unter kräftigen Betheuerungen erbot, die am verkehrten Ende angefaßte Bildung des Amerikaners auf seine Weise einzurenken.

Freilich, als er den „Attentäter“ selber in Augenschein nahm, kam ihm wohl ein ernster Zweifel, ob die „Raison“ hier noch viel auszurichten vermöchte. Wie er es gefürchtet – sie hatten ihn gründlich verpfuscht mit ihrer verteixelten Bildung! Und Perkisch! Wie war das möglich? Er ist ganz genau der, den sie nehmen mußten, um ihn in unsere Civilisation einzuführen! Bravo!

Ja, Perkisch’ Lektionen schlugen immer besser an. Der Name war dem Jungen zu Kopf gestiegen, und eine kindische Eitelkeit kitzelte ihn, damit zu glitzern und zu strahlen – wie ein Neger, der das höchste Glück in dem Besitz eines abgetragenen Hutes oder eines bunten Taschentuches erblickt. Aber sonderbar – nun, da er doch ganz zahm war und alles that, was Name und Familie von ihm verlangten, schien er es ihnen doch wieder nicht recht zu machen.

Der Proceß! Sie haben Angst vor mir! Sie sind im Unrecht. Sie haben ein schlechtes Gewissen. Ich könnte ja eines Tages kommen und wie der in Lyon sagen: „Gebt mir den Namen her!“ Erst allmählich hatte er sich auf den Punkt versessen. Zu wiederholten Malen hatte er Perkisch näher nach dem Proceß ausgeforscht.

Dieser ward stutzig. „Was will er damit? Er ist doch nicht im Stande … Undenkbar! Er ist nicht raffinirt genug. Was hätte er auch für einen Zweck?“

Dicks hatte seinem Freund Mäpke, dessen Umgang er, dem Verbot Onkel Walther’s zum Trotz, heimlich pflegte, von dem Proceß und der Adoption erzählt. Mäpke zischte auf wie ein Streichhölzchen: „Na, das sag’ ich Dir, Junge, wenn Du Dir darauf hin irgend etwas gefallen läßt! Was ist er denn? Er hat Dir Deinen Namen gestohlen. Ja, sieh’ mich nicht so an! Ist doch so! Sie möchten Dich gerne fort haben! Aber wir bleiben! Immer los auf den Baron! Aergere sie damit, daß sie schwarz werden! Wenn Du willst, kannst Du sie jeden Augenblick aufs Trockene setzen! Los auf den Baron!“ hetzte er, und seine widerspenstigen rothen Haare schienen dabei wirklich zu flammen.

Dicks ward es schwül Er dachte im Ernste nicht an dergleichen. Er will ja Niemandem ein Leid zufügen! Immerhin aber fühlte er sich.

Mühüller konnte das nicht länger mit ansehen. „Ich möchte schon lachen,“ sagte er zu Olga, „aber es lacht Niemand mit!“

Olga war die Einzige, mit der sich überlegen ließ. Wie verständig, wie gescheit, wie prächtig sie ist: eine Perlenschnur hübscher Eigenschaften. Er hatte sich Mühe gegeben dort hinten in Kasemattenheim, sich zu belügen, daß sie keinen tieferen Eindruck auf ihn hinterlassen, daß nur sein „Capua“ schuld an seiner weichen Stimmung gewesen. Eine Neigung, von der ihn die Zeit kuriren würde. Sie in England, er hier, die Trennung würde heilsam sein – wozu soll dergleichen führen? Und nun fand er sie doch wieder vor. Früher der Name, der sie an einander gekettet, nun ein Träger desselben Namens, der das Band zwischen ihnen von Neuem knüpfte.

Also sie überlegten Beide, was geschehen solle und was mit Dicks anzufangen sei. Kleine hübsche Komitésitzungen unter der Linde im Garten, beim Spaziergang oder in einer Fensternische – wo ihre Augen eigensinnig darauf bestanden, ihre gesonderte Verhandlung zu führen, die nichts mit Dicks’ Schicksal gemein hatte.

Es kam allerlei in Frage. Ob man ihn praktische Landwirthschaft studiren, ob man ihn zur See gehen lassen, ihn in einer fremden Armee unterbringen solle. Jedenfalls darf er nicht hier bleiben!

„Geben Sie zu, mein Fräulein, daß es am besten gewesen, er wäre überhaupt drüben geblieben,“ sagte Mühüller.

„Der arme Bursch! Haben Sie seine Hände gesehen?“

„Freilich …“ und sein schelmisch zwinkernder Blick bewunderte Olga’s Händchen, die mit dem Fächer spielten.

Sie erröthete und schlug ihm mit dem Fächer auf seine Finger. Aber Komité! Komité! Es handelt sich um Dicks! – Olga sträubte sich immer noch dagegen, daß man ihn nach Amerika zurückverpflanze.

„Er geht zu Grunde!“ jammerte sie.

„Der!“ – dehnte Mühüller. „Er ist aus einem tüchtigen und tapferen Geschlecht!“

Seine Augen leuchteten – die ganze freudige Bewunderung, die er ihr zollte, sprach aus diesem Leuchten.

„Man dürfte es nicht,“ antwortete sie, zerstreut ausweichend. „Uebrigens wird ihn Niemand dazu vermögen, die Rückreise anzutreten,“ fügte sie geschäftsmäßig zur Verhandlung hinzu.

„Das käme auf einen Versuch an. Alle Wetter, wenn Sie und ich, wir Beide …“

Der Versuch wurde gleich am folgenden Tage gemacht. Mühüller hatte sich, als man eines Abends im Garten saß, von Dicks einen ganzen Sack seiner famosen amerikanischen Geschichten auskramen lassen. Mühüller schmeichelte dem Burschen absichtlich, um sein Vertrauen zu gewinnen.

„Na, ich weiß nicht, Baron, ein fabelhaft interessantes Land – man bekommt wirklich Lust hinüberzuflitzen und sich dort ein Bischen umher zu treiben. Ich denke mir, wer das Leben dort einmal geschmeckt, dem kommt der Pfeffer hier zu Lande fade vor. Sie machen vermuthlich bald wieder hin, he?“

Ganz harmlos kam es heraus, wie man mit einem Fremden über dessen Reisepläne spricht.

Dicks horchte auf.

„Karambal! Ein verteufelt interessantes Land! O ja,“ rief Dicks, seine Füße auf einen Stuhl werfend. „Taxire, werden sich höllisch amüsiren, Herr Mühüller!“

„Werde wohl keinen Urlaub übers Meer erhalten,“ sagte Mühüller. „Geht doch nichts über Ihre Freiheit, Baron! Wer so reisen könnte und sich die Welt ansehen! Jedenfalls hat es Ihnen hier doch gefallen, wie?“

Hat gefallen? – Als wenn sie ihn fort haben wollten! Dicks war so argwöhnisch geworden. Er denkt ja gar nicht daran fortzugehen! Und die Beine von dem Stuhl wieder herabwerfend, stieß er mit einer Qualmwolke seiner Cigarre heraus: „Verdammt gefällt es mir! Gefällt mir ausgezeichnet. Karambal! Amerika kenne ich wie meine Tasche, aber Europa möcht’ ich wohl noch genauer kennen lernen!“

Er rekelte sich so wohlig in dem Gartenstuhl, daß dieser ächzte, und mit seinen schimmernden Zähnen lachte er Alle in der Runde an.




26.0 Auf dem Kehricht.

Der Schatten des Namens legte sich immer schwüler über das junge Glück. Er hatte längst nicht mehr geduldet, daß ein herzfrohes Lachen im Gamlingen’schen Hause erscholl. Die beiden Gatten saßen und gingen und verkehrten neben einander, in jedem harmlosen Wort, in jeder Miene die verhaltene Scheu, das auszusprechen, was sie quälte.

Melitta war es nicht entgangen, welch’ seltsamen Ton Dicks seinem Onkel gegenüber anschlug. Sein Achselzucken, mit dem er die immer kleinlauter sich äußernden Korrekturen seines Lehrmeisters abzuschütteln suchte – ja die stumme Herausforderung seiner Blicke: Du bist’s nicht – ich bin’s!

Es war gut, daß Gamlingen gerade jetzt vollauf zu thun hatte. Er war zu einer wichtigen Mission ausersehen. Es handelte sich darum, eine Eisenbahngruppe auf ihre Leistungsfähigkeit im Kriegsfalle zu rekognosciren und die darauf basirenden mühsamen Arbeiten zu revidiren. Die Vorarbeiten zu dieser Reise näherten sich ihrem Ende, in ein paar Tagen sollte Gamlingen dieselbe antreten.

An einem regenschwülen Abend, Ende September, saß er über seinen Schreibtisch gebeugt, bei dem die Arbeit eines ganzen Jahres abschließenden Bericht. Er wollte das Schriftstück noch in der Nacht zu Ende bringen.

[419] Es war noch Leben auf der Straße. Hier und da rollte ein Wägen über das Pflaster, die Klingel einer Ladenthür und das Plaudern und Kichern der Dienstmädchen ließ sich vernehmen. Da schallte von ferne ein Gesang. Nun unterschied Walther deutlich das bekannte Lied der Reservisten.

„Drum, Brüder, stoßt die Gläser an,
Es lebe der Reservemann!“

Doch nur einzelne mühsam gelallte Worte, vom lachenden Halloh anderer Stimmen unterbrochen.

Die Reserven sind heute entlassen worden; irgend ein betrunkener Reservist, der sich hierher verschlagen. Walther war eben ans Fenster getreten, um dieses zu schließen, da stutzte er. War das nicht Baptist’s Stimme?

Jetzt hörte er deutlich den Lothringer den Anfang der französischen Marseillaise singen.

Parlez-vous? Voulez-vous? Nix versteh!“ neckten andere Stimmen, die Mägde juchzten. Und das wüste Hin und Her einer torkelnden Gestalt auf dem Trottoir.

Ein flüchtiges Runzeln des Unmuths flog über Walther’s Stirn. Auch Baptist ist heute zu den Reserven entlassen worden. Von morgen ab setzt er seinen Dienst in Gamlingen’s Hause als Privatdiener fort. Nun, man muß heute ein Auge zudrücken – mag ihm etwas Menschliches passirt sein! Aber die Marseillaise da? Das paßt doch nicht für die königliche Uniform! Er will ihm das morgen verweisen; er ist ja nahe am Hafen, für heute soll es gut sein.

Nochmals dieselbe Melodie, aber von einer andern Stimme gesungen. Gott, wo hat er die schon gehört? Rauh, in den oberen Tönen absichtlich umschlagend, um eine komische Wirkung zu erzielen – Dicks? Wie kommt der Bengel …?

Ja, seine Stimme! Und die Marseillaise! – aber nicht der französische Text diesmal – deutlich hört Walther die deutschen Worte. Sofort erinnert er sich – er hat die Worte in diesen Tagen zufällig irgendwo gelesen. Halt – ist das nicht jene von der Polizei verbotene und verfolgte Arbeitermarseillaise? Die Arbeiterbataillone, die zum Sturm gegen die Tyrannei des Kapitals heranmarschiren. Ein vereinzeltes ironisches Händeklatschen läßt sich vernehmen – in diesem Viertel giebt es kein Publikum für dergleichen.

Was fällt dem Bengel denn ein? Wie kommt er dazu, hier auf der Straße das verpönte Lied zu singen? Und was haben die beiden Stimmen mit einander gemein?

Er beugte sich zum Fenster hinaus.

Das gelbe Licht einer Laterne beleuchtete die von grinsendem Lachen entstellten Gesichter eines Menschenhaufens. Und inmitten des Haufens die Beiden. Sein Diener Baptist, in der Reserve-Uniform, die Mütze schief auf dem Ohr, angelehnt mit der ganzen Wucht seiner feisten Gestalt gegen Jemand, dessen Nacken er zärtlich umklammert hielt. Und dieser Jemand?

Genug! Ein Blick nur und genug! Ein Gamlingen Arm in Arm mit dem Diener eines Gamlingen über die Straße ziehend und zum Gaudium des Publikums die Marseillaise singend …

Eine Minute darauf hielt Walther die Reitpeitsche in der Hand.

Doch nicht hinab? Ihn zu züchtigen? Eine Ungeheuerlichkeit gegen die andere!

Mit einem Fluch warf er die Peitsche auf den Tisch. Nein, nicht das! Sie werden jedenfalls das Haus aufsuchen. Er wird betrunken sein wie Baptist. Einen Betrunkenen züchtigt man doch nicht.

Jetzt schlug die schwere Hausthür dröhnend ein unter einer höhnisch jubelnden Lache der Menge. Sie kennen den Amerikaner; die originelle Erscheinung wußte selbst die diskrete Neugier dieser Straße zu reizen. Sie kennen seinen Namen – welch’ ein gewaltig amüsantes Schauspiel, zu sehen, wie er ihn besudelt!

Jetzt kommt man die Treppe heraus, als werde irgend ein schwieriges Möbel heraufgeschafft. Dumpf prallt es gegen die Korridorthür; die Klingel wird gerissen, daß es wie ein Alarm durch das Haus hallt.

Walther ging, mit aller Ruhe bewaffnet, deren er habhaft werden konnte, selbst hin, um zu öffnen. Dicks stand vor ihm und grinste ihn mit seinen Zähnen vergnügt und freundlich an. Mit dem einen Arm hatte er den schwankenden Baptist um den Leib gefaßt, in der andern hielt er etwas Weißes.

Was ist das? Das Schild von seiner Korridorthür – was soll das in Dicks’ Hand?

Dicks hielt es ihm hin. „Er hat verdammt gezogen, als wie an einer Kirchenglocke. (Dicks hatte früher selbst für Lohn Kirchenglocken geläutet.) Riß gleich das Dings mit ab. Da ist’s! Dogdown! Willst Du still halten, Junge!“

Baptist machte eine vergebliche Anstrengung, sich gerade auf die Beine zu stellen. „… ’err ’Aup … ’err ’Aup …“ kam es kläglich aus seinem Munde.

Zehn Minuten darauf stand Dicks in Walther’s Zimmer. Sie hatten den betrunkenen Baptist auf sein Lager geschafft. Dicks war durchaus nicht betrunken, er hatte sich öfter gerühmt, daß kein Getränk der Welt ihn unter den Tisch brächte. Man konnte sehr wohl ein Wort mit ihm reden.

Walther hatte sich auf der Kante des Stuhles an seinem Schreibtisch niedergelassen und anscheinend ganz ruhig, ein beschriebenes Blatt mit gerunzelter Stirn prüfend, sagte er:

„Was hattest Du eigentlich mit dem Burschen? Du hast ihn in der Gosse aufgehoben wie?“

Dicks rekelte sich auf der Lehne eines Sessels.

„In der Gosse? Hoho!“ rief er „Haben einfach eins links herum geschmettert! Ein verteixelt smarter Bursche! Aber der Anblick eines Flaschenhalses schmeißt ihn um!“

„Was?! Gekneipt mit Baptist?“

Dicks reckte sich über den Sitz des Sessels, die Beine in der Luft und langte sich eine Cigarre aus der dastehenden Schale. Und die Spitze abbeißend, rief er mit höhnischem Grinsen:

„Na, was sonst! Er ist ein Gentleman so gut wie wir Alle!“

Gamlingen schoß empor.

„Er ist ein Diener, Du hast die Ehre, ein Gamlingen zu sein – Respekt vor dem Namen oder …“

„Oho!“ Dicks erhob sich vor der flammenden Miene des Hauptmanns. „Was für ein Recht hast Du denn?“ rief er in zitternder Wuth. Es war der Moment, mit seinem Peiniger abzurechnen. „Karambal, ich kann mit meinem Namen machen, was ich will!“

„Das wirst Du nicht!“ donnerte Gamlingen.

Da gewahrte Dicks das abgerissene Namensschild, das vorhin auf den Tisch gelegt worden war. Sofort griff er danach.

„Woher hast Du das eigentlich, he?“ rief er, die Porcellanplatte triumphirend in die Höhe haltend.

„Was soll das? Was geht Dich das Schild an?“

„Ich will wissen, wo Du es her hast. Ich habe mehr Recht als Du zu fragen!“

„Leg’ sofort das Ding hin!“ brüllte Gamlingen. Und er faßte nach der Reitpeitsche auf dem Tisch.

Dicks wich nach der Thür zurück.

„Soll ich Dir sagen, wo Du es her hast? – Gestohlen hast Du es! – gestohlen!“

„Ah!“

Ein paar Augenblicke schien das Entsetzen dieses Wortes Gamlingen zu lähmen. Dann stürzte er mit erhobener Reitpeitsche auf den Beleidiger.

Dicks hatte die Thür aufgerissen. Da fühlte jener den erhobenen Arm durch zwei Hände umklammert. „Walther – um Gotteswillen, Walther!“ flehte Melitta’s Stimme. „Was machst Du? Was ist?“

Sie stand vor ihm im hellen Nachtgewand, blaß und zitternd, mit angststieren Augen, die entblößten weißen Arme, von denen in der heftigen Bewegung die weiten Aermel sich gelöst, mit den flachen Händen zur Abwehr nach ihm ausgestreckt.

Dicks war fort. Man hörte ihn draußen die Thür mit einer seiner Verwünschungen zuschlagen.

„Gestohlen!“ murmelte Walther dumpf, mit einem verzweifelten Zucken um die Mundwinkel. „Gestohlen …“

Abermals packte ihn die Wuth und er schleuderte das Namensschild auf die Diele, daß es in Stücke zerschellte. Thränen des Zornes stürzten in seinen Bart hinab, in seiner Brust kochte es.

„Walther – lieber, lieber Walther …“

Wie aus der Ferne hörte er die Stimme seines Weibes.

Als er nach einer Pause den Kopf hob, sah er, wie sie sich gebückt hatte, um die Scherben des Schildes aufzuheben.

„Liegen lassen!“ schrie er heiser.

[420] Immer wieder der Haß gegen den Namen, der ihn nicht loslassen wollte.

„Ich will nicht mehr!“ schrie er wie von Sinnen. „Fort damit auf den Kehricht! Auf den Kehricht damit!“

In gebückter Stellung blieb sie eine Minute wie erstarrt, ihn, den Sinnlosen anstierend. Dann erhob sie sich langsam, ihre ganze Gestalt zitterte vor seiner Stimme und vor dem Haß, der aus seinen Augen lohte. Ihre Lippen bewegten sich zu einem Stammeln – jetzt sah er sie wanken – jetzt taumelte sie und ihre Hände griffen nach einem Halt …

Er fing sie noch in seinen Armen auf.




27.0 Zu Grunde gerichtet.

Nicht gleich sollte es geschehen. Zuerst wollte Gamlingen trotz Allem die übernommene Aufgabe beendigen und die Reise, zu der er ausersehen, durchführen. Ein Schuft, wer eines persönlichen Gelüstes wegen den Posten verläßt!

Sie athmeten Alle auf als er fort war. Wie eine schwüle Krankheit hatte es ihn befallen. Die weite Welt, die Zerstreuung, das hastende Kreuz und Quer auf der Eisenbahn, die Vorsicht, die Umsicht, mit der er zu Werke gehen muß, Alles wird ihn ablenken, vielleicht vermag es ihn von der unheimlichen Krankheit zu heilen.

Unterdessen begann Olga einen Feldzugsplan mit Frau Belzig zu entwerfen. Dicks mußte fort, schleunigst wieder hin, wo er hergekommen war! Herr Belzig zwar zeigte sich gänzlich abgeneigt, dem „Namensgötzen“ auch nur noch einen Pfennig zu opfern; allein besaßen die Damen nicht ihre Pretiosen, um mit deren Erlös die Rückkehr des Amerikaners zu erkaufen?

Mit Herzklopfen machte sich Olga auf den Weg und fand den lieben Neffen in äußerst guter Laune. Sie begann, oftmals stockend, ihre wohlvorbereitete Rede, als er lachend dareinplatzte:

„Famos! Verdammter Scherz! Ihr wollt mich fort haben, he, Tante?“

„Du passest nicht hierher,“ fuhr Olga ungeduldig fort, und sie ging nun gerade aufs Ziel. „Du mußt zurück. Du bist Dir und uns im Wege. Was soll hier aus Dir werden? Du thust Dir und uns den größten Dienst. Wir wollen es Dir lohnen. Wir wollen Dir natürlich mit Allem behilflich sein, daß Du ein braver, tüchtiger Mensch wirst. Es soll Dir an Nichts fehlen; Du sollst Dich sogar gut dabei stehen. Du wirst schon Deine Karrière machen da drüben. (Das kam etwas schwach heraus.) Wenn Du Dich entschließen könntest …“

Er behielt mit schelmischem Zwinkern ihre hübschen, rothen, glänzenden Lippen aufmerksam im Auge, er schien nur das Spiel dieser Lippen zu beachten, nichts von ihren Worten zu vernehmen. Die Lippen gefielen ihm „ganz verteixelt“, sie reizten ihn so …

Dennoch zog eine Minute lang ein Schatten über sein heiteres Gesicht.

„Nichts da!“ murmelte er. „Keinen Heller von Niemand mehr! Daß ich Euch zu Willen bin und mir mit der Peitsche drohen lassen muß. Dicks wird sich schon selber durchbringen. Er geht schon. Aber nicht nach Amerika – werdet schon von ihm hören!“

Eine Drohung zitterte durch die letzten Worte, aber er stutzte. O, man soll sie doch mit solch dunklen Redensarten nicht so erschrecken! Sie ist zu lieb und zart für dergleichen. Gleich suchte er seiner Miene wieder die neckische Heiterkeit zu geben.

Er trat einen Schritt zurück, maß ihre Gestalt und sagte mit verschmitztem Schmunzeln. „Was wiegst Du eigentlich, Tantchen?“

Sie sah ihn groß verwundert an; sie wußte nicht, was er wollte.

„Na, was kannst Du denn wiegen? Na, siehst Du, mit Geld und Gold schafft Ihr mich nicht fort! Geld imponirt mir nicht. Ich habe doch wohl Alles in Allem und nach und nach so viel besessen an ausgewaschenem Goldstaub, als Du schwer sein kannst. By Jingo, vielleicht nicht ganz so viel, es wird aber nicht viel fehlen. Oder machen wir’s in Goldklumpen. Na, gieb einmal Dein Patschelchen da her …“

Sie erschrak. Ehe sie es verhindern konnte, hatte er ihre beiden Hände an den Handgelenken umspannt.

„Na, die beiden Fäustchen zusammengenommen – nein, sie thun es noch lange nicht!“

Und sein heller Blick sprang von den Fäustchen nach dem Gesicht hinauf.

„Aber das ganze Köppelchen – ein Goldklumpen so groß wie das Köppelchen da, Blitz nochmal, ich glaub’, das thut’s.“

Er zögerte noch, aber es prickelte ihm so in den Händen.

„Na, aber weißt Du … hör’ mal“ – und man sah es seiner Miene an, daß er etwas besonders Pfiffiges anzugeben meinte: „Weißt Du, wenn es von Gold wäre, so würde man – so würde man es nicht – kü – kü – küssen!“

Flink, ehe sie es verhindern konnte, nahm er das Köpfchen zwischen die Hände und drückte einen herzhaften Kuß auf die rothen Lippen, denen ein leiser Schrei entfuhr.

„Wetter nochmal!“ sagte er, etwas verlegen über die Kühnheit, mit einer Bewegung, als wollte er sich den Mund wischen. „Na, Du bist mir doch nicht bös, he? Na, Du bist doch meine Tante – und meine echte!“ fügte er anzüglich hinzu.

Von da ab ward Dicks nicht mehr von ihnen gesehen. Am andern Tag hatte er seine Wohnung verlassen und sein umherschweifendes Abenteurerleben wieder begonnen. Weg mit all den Nörgeleien und der plackenden Tyrannei der Bildung! „Ich heiße doch Freiherr! Dog-down! So will ich auch ein Freiherr sein.“

Was konnte er auch Alles mit seinem Namen anrichten!

Unterdeß verbrachte Hauptmann von Gamlingen seine Tage auf Eisenbahnen und Bahnhöfen, ein abtödtendes, aufreibendes Einerlei, treppab, treppauf von einem Waggon in den anderen nach allen Seiten aufmerkend, revidirend, kontrollirend, die Arbeit ins Uebertriebene verschärft durch seine tiftelnde Genauigkeit, die sich immer nicht genug zumuthen konnte – oder gedachte er sich absichtlich durch solche Uebertreibung zu betäuben?

Von Berlin erhielt er nur wenig Nachricht. Sein Reiseplan war fortwährenden Aenderungen unterworfen, erst in Köln, dem Schlußziel seiner Reise, hatte sich ein ganzer Stoß von Briefen angesammelt, darunter einige von Melitta, einer von Mühüller, einer von seinem Bruder Adolf. Er öffnete die seines Weibes nach dem Datum ihrer Absendung. Der erste davon brachte ein Räthsel; er war kurz und aufgeregt, die sonst so zierliche Schrift durch die Hast entstellt. Die wenigen Sätze zielten auf ein Etwas hin, was sie Alle so erschreckt hatte. Sie wäre ganz krank geworden vor Schreck und Aufregung, schrieb sie. Welch ein Schicksal! Ach, daß Walther nicht da war! Daß er nicht aufzufinden! Nun würde er wohl bald kommen … Das Flehen der Sehnsucht und Leidenschaft, das sich endlich, endlich Bahn machen mußte!

Was denn? Ungeduldig stöberte er durch die Zeilen nach einem Wort der Aufklärung.

Ist das Ungeheuerliche geschehen? Hat Jener den Namen vor Gericht gezerrt? – Und es schoß ihm zum Ersticken heiß zum Herzen.

An einer Stelle des Briefes wurde auf Mühüller’s und Adolf’s Briefe Bezug genommen. Er hatte das zuerst übersehen. Er öffnete also Mühüller’s Schreiben. Gleich nachdem er die ersten Zeilen gelesen, begannen seine Hände zu zittern. Der Brief glitt auf den Tisch; seine krampfhaft geballte Hand sank schwer darauf; die andere schlug hörbar gegen das Gesicht und hielt dann die Augen verdeckt.

Dicks – todt!

Es hämmerte ihm so gewaltig hier in der Brust; als er die Hand von den Augen sinken ließ, wogte es davor wie von Flammen. Was ist denn, was geschieht mir denn?

Dicks todt! Vor vierzehn Tagen, nach dem Datum des Briefes, fanden ihn nächtliche Passanten im Morgengrauen gegen einen Geländerpfosten des Schiffbauerdammes hingestürzt, anscheinend betrunken, aber es wurde bald der Tod konstatirt. Die Sektion ergab später einen Herzschlag, hervorgerufen durch übermäßigen Genuß von Alkohol. Uebrigens wäre er über kurz oder lang von solch einem Schlage ereilt worden, wie die Aerzte aus der krankhaften Beschaffenheit des Herzens konstatirten. Hatte nicht auch sein Großvater schon an Aehnlichem gelitten? Also wohl ein Erbfehler. Sein Anzug war herabgekommen und zeugte von einem längeren Vagabondenleben. „Leider, mein lieber Trutz, kann ich Ihnen das nicht verhehlen,“ schrieb Mühüller, „er trug [422] zerrissene Lackstiefeln an den Füßen, in zwei Taschen steckten Visitenkarten, beschmutzt und verschabt, mit dem pompösen Namen: ‚Freiherr Trutz von Gamlingen zu Trachenberg.‘ Und nun nehmen Sie sich die Sache nicht zu sehr zu Herzen, lieber Trutz. Schade um den armen Jungen – sein Schicksal hat uns gewiß Alle gefammert, aber vielleicht ist es das Beste so! Wer weiß, was aus ihm geworden wäre!“ Dann ein mit Tintenstrichen zugedeckter Satz, welcher das Wort „verpfuscht“ zu enthalten schien. „Sie werden nun zu sich kommen, Sie werden vernünftig sein – nehmen Sie mir’s nicht übel, aber ich habe Sie in letzter Zeit nicht ganz kapirt. Na, wenn Sie kommen, so müssen Sie schon gestatten, daß Ihnen Ihr alter Mühüller im Wetteifer mit den Tanten den Kopf zurechtsetzt.“

Walther las dieses nicht zu Ende. In einer plötzlichen Bewegung sprang er von dem Brief ab und öffnete Adolf’s Schreiben.

Es enthielt nochmals die Todesnachricht, dann einige Details äber das Begräbniß. Es war Alles geschehen, was man Dicks und seiner Familie schuldig war. Man hatte ihn freilich in aller Stille bestattet, nur wenige Leidtragende, er, Adolf, sein Kompagnon, Herr Belzig, Mühüller, Olga von Gamlingen, auch ein paar Arbeiter, unter anderen jener gewisse Mäpke, hatten sich eingefunden. Von diesem hatte er Einiges über die letzten Schicksale des Verstorbenen in Erfahrung bringen können. Nicht viel, immer wieder der Refrain des Arbeiters: „Ein Unglück für ihn, daß er an den Namen gerathen!“ Von da ab war er für die ehrliche Arbeit verdorben. Der Baron war ihm in den Kopf gestiegen. Die Noth zwang ihn wohl. Aber der Name, der Rappel dieses Namens, jagte ihn immer wieder von der Arbeit. Ein Baron und arbeiten! Da verfiel er dem Trunk und sank immer tiefer. Es ging so grauenhaft schnell abwärts. Vielleicht wenn er sich ermannt und den Namen abgeworfen und den Rausch mit diesem Baron ausgeschlafen hätte … aber der saß ihm zu dick im Kopfe. Der Götze verlangte es so!

Durch seinen eigenen Namen zu Grunde gerichtet!




28.0 Das Land der Freiheit.

„Nun ist Alles gerettet! Der Alp wird sich von uns heben, wir werden wieder aufathmen. Dem Namen droht keine Gefahr mehr – wir dürfen ihn von nun an in Ruhe genießen und uns seiner zu freuen beginnen. Jetzt erst ist er uns zu eigen.“

So hört er die Anderen sprechen und flüstern. Sie wagen das zwar nicht offen auszusprechen, aber zwischen den Zeilen der Briefe grinst die Freude über diese Erlösung.

Dumpf brütend steht er am Fenster seines Hotels, das die begehrte Aussicht auf den weltberühmten Dom bietet. Er sieht das gigantische Werk, das übermächtig sich in den Himmel reckt, in der Verklärung der Abendröthe leuchten und den zauberischen Dämmer des Mondscheins über den Wald der Pfeiler, Fiale und Wimperge gebreitet. Was ist’s für ein Spuk, daß das herrliche Werk, das Andere zu überwältigen und berauschen pflegt und das er selbst zum ersten Male erschaut, auf ihn keinen Eindruck macht? Man ist eben daran, den Gipfel der beiden Thürme zu bekrönen und das von hier aus wie ein feines Gespinst wirkende Gerüst von den oberen Theilen des Baues zu entfernen. Da vernimmt er wohl das Keuchen der Dampfmaschine, welche das Hebewerk treibt, und das Girren des letzteren, auch fällt ihm das Krächzen der Krähen auf, das so laut in dem gemeißelten Wald wiederhallt. Warum nur das? Es ist, als habe er für jetzt und allezeit die Fähigkeit eingebüßt, sich über etwas Großes und Herrliches zu freuen.

Nun, er hat ja den Namen, dessen er sich freuen wird! „Jetzt erst gehört er uns!“ – wie ein höhnisches Lachen klang das ihm.

Und er gab sich so verzweifelte Mühe, seine Zukunft, ihr gemeinsames Glück auf der Basis des Namens wieder aufzubauen – immer wieder stürzte das Kartenhaus zusammen.

Doch sein Weib? Liebe – das was ihm das Herz seines Herzens und das Mark seiner Seele bedeutete?

Da saß er und tiftelte, nörgelte, krittelte und untersuchte so lange, bis er auch hier nichts als das alltäglich Häßliche, das erdenmäßig Kleine, das erbärmlich Menschliche gewahrte und in Verzweiflung das letzte Ideal zusammenstürzen sah.

Sie ist ein eitles Weltkind – sie ist zu sehr die Tochter ihrer Mutter, der Dämon ist zu mächtig in ihnen Beiden. Der Name bedeutet ihnen wahrhaftig die Seligkeit auf Erden. Es wäre grausam, ihnen Lust und Licht und die Bedingung ihres Seins zu rauben. Nein, ich werde Melitta nicht in diesen Bankerott mit hinabstürzen!

Sie würde elend verkümmern. Sie ist an Glanz und Ehre und Sonnenschein gewöhnt, sie würde ersticken. Mag sie sich des Namens freuen, so lange sie dies vermag. Ich aber – und in Gedanken schleuderte er den Namen zur Erde, wie er vor Wochen das Schild hingeschleudert.

Er wollte sich keinen Schwankungen mehr aussetzen und endgültig mit dem Namen brechen. Ehe er also an sein Weib schrieb, reichte er sein Abschiedsgesuch ein, bis zur Erledigung desselben den üblichen Urlaub erbittend. Was dann?

Sie und Niemand von ihnen Allen gedachte er wieder zu sehen. Er könnte sie ja vor den Entschluß stellen und er ist sicher, sie wird keinen Augenblick zögern, und das Gebot ihrer Pflicht wird sie ihm folgen heißen bis ans Ende der Welt. Aber bis aus Ende der Welt wird sie ihn nicht begreifen können, wie eine Mauer wird der Schatten des Namens zwischen ihnen aufgebaut bleiben.

Also fliehen! Den Namen abwerfen und fliehen! Meinetwegen nach Amerika! Den Namen meiner Väter sühnen von der Schmach, die ich ihm angethan. Ehrliche tüchtige Arbeit – Alles, das ganze Leben nochmals von vorne beginnen …

Für wen? Wozu das?

Ein Kleinmuth, eine wachsende Verzagtheit bemächtigte sich seiner und der Gedanke an ein anderes unbekanntes Land, in dem er eine Zuflucht finden könnte, begann sich über seine Seele auszubreiten. Das Land der vollkommensten Freiheit, wo es keine Lüge und keine Heuchelei, keine Scham und keine Reue mehr giebt, wo die Namen wie die Namenlosen in bewundernswerther Toleranz friedlich zusammen hausen, wo Niemand mehr sich zu bücken braucht vor den Flitterpuppen, die in der großen Harlekinade dieses Lebens die Götzen spielen.

Er schrieb an sein Weib. Er wollte sie allmählich auf Alles vorbereiten, mochte die Flucht diese oder eine andere Richtung nehmen. Er meinte es vorsichtig anzufangen und deutete nur von fern darauf hin, daß er im Stande wäre, seinen Abschied zu nehmen und den Namen abzulegen. Jetzt, warum gerade jetzt, nachdem jede Gefahr für den Namen beseitigt? – Sie würde wohl schwerlich den sonderbaren Entschluß begreifen. Er wollte also nichts einfließen lassen, das sie direkt erschrecken und aufstöbern konnte – einstweilen noch nicht! Aber der unselige Schatten lastete so schwül auf seinen Worten und der fatalistische Wahn, daß ihr Glück an dem Namen zerschellen müßte, stierte durch die Zeilen – und dann die Sehnsucht nach dem Land der vollkommensten Freiheit …




29.0 Nach Amerika.

So träge und mürrisch, jeder freundlichen Himmelshelle überdrüssig, wälzte sich dieser Novembermorgen herauf.

Walther hatte sich früh nach einer schlaflosen Nacht erhoben. Jetzt stand er am Fenster, die heiße Stirn gegen die Scheibe gedrückt. Vom nahen Bahnhof kam der hohl klagende Ton einer Lokomotive und das Kreischen bremsender Räder, Omnibusse und Droschken, von Regen triefend, rasselten über das Pflaster; auf dem Korridor vermehrte sich das Hin und Her von Tritten. Es war die Stunde des Berliner Kourierzuges, der eben eingetroffen sein mochte.

Wenn sie … wenn sie käme …! Er zitterte innerlich vor der fernsten Möglichkeit einer solchen Ueberraschung. Sie hatte doch seinen Brief noch nicht, er hatte ihn doch selbst erst gestern Abend in den Briefkasten des Zuges geworfen. Und wenn sie sich, von der Stimmung, weniger von dem Inhalt des Briefes alarmirt, sofort aufmachte, so konnte sie doch nicht vor morgen früh da sein.

Ersehnte er denn ihr Kommen? Als wenn das die Rettung bedeutete!

Er malte sich’s aus, wie es sein müßte, wenn sie jetzt käme. Er sieht ihre schlanke Gestalt, im Mantel vermummt, auch das Haupt gleich einer Flüchtenden dicht verhüllt, ins Koupé steigen, er sieht sie dort in die Ecke geschmiegt sitzen, mit offenen Augen in die müde Dämmerung des Koupés hinein starrend; er sieht sie [423] hier auf dem Perron aussteigen: ein scheuer Blick aus ihren dunkel umrandeten Augen über das Gedränge, als wenn sie ihn suchte – aus dem Spalier der Portiers am Ausgange schallen ihr die Namen der Hôtels in allen Tonarten entgegen – „Hôtel Ernst!“ – Es fliegt eine Freude über ihr blasses Antlitz, wie sie den Namen hört – als begrüße sie in dem galonnirten, übereifrigen Portier einen Theil von ihrem Gatten – und wie ihr das Herz schlägt, als die Nummer seiner Stube in der Thorloge genannt wird. Jetzt klopft es an der Thür – er hört deutlich ihr Beben aus diesem Klopfen – jetzt stürzt Jemand mit einem Ruf, mit einem Schrei, mit einem unbestimmbaren Laut, der aus der Tiefe des Herzens dringt, ins Zimmer …

Sonderbar, wie das Nahen uns seelisch verbundener Personen seine Vorboten in fast greifbaren Visionen auszusenden vermag!

War es ein wirkliches Anklopfen gewesen, das er nicht bloß in seinen Gedanken vernommen? Ein Rascheln von Frauengewändern hinter ihm – und dann der Schrei, der Ruf, jener unbestimmbare Laut, der aus der Tiefe des Herzens hervorbricht:

„Melitta …!“

Es ist zu viel, zu bewältigend die Plötzlichkeit dieses Wiedersehens! Da hält er sie umschlungen mit seinen Armen, immer wieder fester umschlungen; sie wiegt ihr Haupt an seiner Brust und ihre Hände umtasten seinen Nacken: hat sie ihn wirklich wieder? ist er ihr nicht verloren?

„Walther – ach Walther …“

Nichts als das Stammeln ihrer bebenden Lippen. Und ihr Blick, der durch den Flor von Thränen nach seinen Blicken fleht: was ist nur? Nicht wahr, die Liebe, die Liebe ist stärker als das Alles? Um die Mundwinkel zuckt ein Lächeln, das diese Thränen gern verscheuchen möchte. Aber es ist süßer, das Haupt stumm an seiner Brust zu wiegen und den Thränen ihren Lauf zu lassen!

Nichts als die Seligkeit dieses Wiedersehens! Alles Andere verschwindet dahinter. Und er hatte sich so belogen und betrogen! Wie hatte er gewähnt, durch sein Tifteln seine Sehnsucht ausgemerzt zu haben!

Nun faßt er ihre Hände und drängt sanft ihre Gestalt mit ausgestreckten Armen von sich ab – daß er sie betrachte, seinen trunkenen Blick an das Wunder ihrer Gegenwart gewöhne! Ihre Augen leuchten dunkler als sonst aus der Blässe ihres Antlitzes, ihr Haar umrahmt in leichter Wirrniß Stirn und Schläfen – Gott, wie schön sie ist! Waren seine Gedanken denn mit einem bösen Bann geschlagen, daß sie die Erinnerung an ihre Schönheit nicht festzuhalten vermochten? Er hat seiner Liebe den Königsmantel von den Schultern gerissen und das Diadem vom Haupte gezerrt, aber sie steht doppelt siegreich da nach dem Raub.

„Komm – o komm!“

Ein neuer Sturm ausbrechender Leidenschaft. In ihre Küsse hinein huschen Worte – er versteht sie nicht, aber begierig lauscht er dem Klang. Wie süß dieser Klang! Er hatte ihn verloren all’ die Tage durch – unter dem Zauber der Stimme wäre das Alles nicht geschehen ...

Da klopft es mit hartem Finger gegen die Thür. Es ist der ungeduldige Hausknecht, dessen erstes sanfteres Pochen man nicht vernommen. Er bringt das Gepäck der gnädigen Frau, nur ein Köfferchen und ein Plaid.

Walther scheint sich zu wundern über die Winzigkeit der Effekten, sie pflegte so anspruchsvoll zu reisen.

„Ich habe nur das Allernothwendigste zusammengerafft,“ sagte sie. „Nur fort! Nur fort!“

„Aber wie bist Du – wann bist Du …? Hast Du denn meinen Brief erhalten, Litta?“

„Was für einen Brief?“ sagte sie stutzend. „Ich habe keinen Brief von Dir erhalten. Gerade deßwegen bin ich da. Du hast mir solche Angst gemacht!“

Hilfesuchend flüchtet sie von Neuem an seine Brust.

„Gestern Nachmittag war der Oberst bei mir,“ sagte sie ruhiger, den Kopf erhebend. „Ich besann mich nicht lange – eins, zwei, drei, da bin ich!“

„Der Oberst?“ rief er überrascht. „Welch’ ein Oberst?“

„Nun, Oberst v. B. Wer sonst? Ganz erregt war er, wie Du das thun könntest! Was denn geschehen? Was Dich zu solchem Schritt vermocht? Du müßtest und müßtest das Gesuch zurücknehmen!“

Es ist das Abschiedsgesuch, ihnen dort im Korps ist es wie ein Meteor hereingeplatzt. Der alte Bärbeißer wollte es nicht gleich weiter geben: man kann den verdienstvollen Officier doch nicht so davonlaufen lassen, ohne den Versuch gemacht zu haben, ihn zu halten! Da kam er zu Melitta gerannt: was für eine Tollheit den Hauptmann überfallen? Walther konnte sich die Scene sofort vorstellen. An solche Wirkung seines Gesuches hatte er freilich nicht gedacht.

„Wie ich erschrak, Walther! Keine Nachricht von Dir! Und Du reichst, ohne mir ein Wort zu sagen, Deinen Abschied ein. Wie war das möglich? Aber keine Zeit darüber nachzudenken! Ich ahnte das. Mag es gekommen sein, wie es wolle – der Oberst sollte nicht denken, daß ich etwa nicht davon wüßte, Niemand sollte glauben können, es bestehe ein Geheimniß zwischen uns Beiden … Nein, das soll nicht! Das duld’ ich nicht!“

Trotzig fuhr sie auf bei den Worten, mit den geballten Händen zuckend, und ihre Augen blitzten ihn an.

„O, ich wüßte, ich wüßte, sagt’ ich ihm und that so, als sei der Abschied längst von uns Beiden geplant. Ein Plan, den wir Beide gemeinsam ausgeheckt. Er war ganz verblüfft. Siehst Du, dergleichen Geistesgegenwart hätte ich früher mir selbst nicht zugetraut.Ich nahm mich zusammen und er wird wohl nichts gemerkt haben! Niemand soll zwischen Dich und mich, hörst Du!“

Sie athmete schwer auf, als müßte sie sich jetzt noch von der Angst befreien, die gestern bei der Heuchelei jener Worte ihr fast das Herz zu sprengen drohte.

„Er wollte sich nicht beruhigen,“ fuhr sie nach einer Pause fort. „Du dürftest und dürftest solchen Schritt nicht thun! Und er stellte mir Alles vor, wie tüchtig Du wärst, wie unentbehrlich: welche Karrière Du vor Dir hättest. Ein Verbrechen, auf dem Gesuch zu beharren! Er setzte mir so zu: gnädige Frau, Sie dürfen und dürfen das doch nicht zugeben …!“

„Er setzte mir so zu …“ wiederholte sie und die Worte versagten ihr.

Sie sank in den Sessel, schwer und müde, wie von einer Gewalt, die stärker war als sie, dort niedergedrückt.

Ist es das? Also deßwegen ist sie gekommen? Es ist die Angst vor dem Nichts, das jenseit des Abschieds und jenseit des Namens liegt! Nicht seinetwegen ist sie da!

Er prallte einen Schritt zurück, wie vor einem unsichtbaren Schlag, der ihm drohte.

„Also deßwegen!?“ rief er erregt. „Weil der Oberst Dir so zugesetzt! Weil Du mich bereden willst, weil Du mich zwingen willst, den Schritt rückgängig zu machen …“

„Walther!“

Ein Ruf des Zornes – und sie sprang auf, als hätte sie das, was sie eben noch zu bewältigen drohte, nunmehr fortgeschleudert. Hoch stand sie, doch mit leicht gesenktem Haupt, düster runzelten sich ihre Brauen.

„Ich bin ein Weib,“ begann sie langsam nickend, „es kam so plötzlich, die Nachricht und das Drängen darauf. Und wenn ich auf Minuten schwach wurde und wirklich daran dachte, hin zu eilen um deßwillen, willst Du mich verdammen? Und wenn jetzt noch, sogar hier in Deiner Gegenwart mich eine Hoffnung berückte, daß es mir gelänge, eine andere Art der Lösung herbei zu führen … ich bin ein Weib, Walther! Aber nur Minuten der Schwäche. Sofort rafft’ ich mich auf, gestern wie ich mich soeben aufgerafft. Ich bin Dein Weib, Walther! Sechs Monate bin ich’s. Ich meinte allmählich zu lernen, aus Deinen Gedanken heraus zu denken. Ich wußte, was Dich zu solchem Schritt getrieben. Ich sah das Alles kommen. Und daß gerade nach dem Unglück mit Dicks es keinen Rückzug mehr gebe! Wohl, auch ich will den Rückzug nicht! Ich sagte es dem Oberst, daß es dabei bleiben müßte. Und ich bin gekommen, Dir zu sagen … Dich zu bitten …“

Ihre Stimme wankte, aber nach einer kurzen Stockung fuhr sie mit derselben trotzenden Festigkeit fort: „Du hast einmal hingeworfen, es wäre das Beste, Das – (als schämte sie sich, das Phantom zu nennen) Das abzulegen und nach Amerika zu fliehen. Damals schrieb ich es auf die Erregtheit jener Tage. Nun gut, Walther, ich bin gekommen, Dich daran zu erinnern. Kein Friede und kein Glück damit! Ich weiß, es würde uns das Leben vergiften! Wohlan also! Du dachtest, ich wäre ein Kind mit Spielzeuggedanken. Wohl, so wollt’ ich Dir das Gegentheil [424] beweisen. Amerika ist weit. Es ist allerdings, als habe man ein Verbrechen begangen, dessen Geheimniß man dorthin flüchten müsse. Aber einerlei – wo Du Dein Glück suchst, dort werde ich’s auch zu finden wissen. Das Glück, das gut genug für Dich ist, genügt auch für mich! – Was – was hattest Du Dir eigentlich von mir gedacht? Ich bin doch Dein Weib – ich bin doch Dein Weib …“

Aus ihren Augen brachen leidenschaftliche Thränen.

„Sag’, liebtest Du – liebtest Du mich denn nicht mehr?“ Ein so flehendes Schluchzen, in dem sich all’ die Noth dieser Tage löste. Abermals sank sie in den Sessel.

„Mein Weib! Mein einziges – einziges Weib!“

Zu ihren Füßen lag er hingestürzt, ihre Hände umklammernd. „Verzeihung! O verzeih!“ rief er. „Ich war so klein und nichtig. Das war an Allem schuld. Es hat mich gelähmt bis ins Herz hinein. Ich hatte mich selbst verloren. Und Dich – Dich, Melitta! Aber da bist Du! Du bist gekommen! Nun ist Alles gut! Ah, nun ist Alles, Alles gut!“

Er senkte das Haupt in ihren Schoß und sie legte sanft ihre beiden Hände darauf.




30.0 Des Namens Ende.

„Du siehst daraus, mein lieber Walther, daß Deine Tante immer Recht hat. Ich sagte Dir gleich, daß Dich der neue Name, den ich übrigens nie richtig zu schreiben gelernt hätte, nicht glücklich machen würde. Der Name Eff, den wir alten Leute in Ehren getragen, hätte es wahrhaftig nicht verdient, daß man ihn zu den alten Kleidern warf.“

Es war die unvermeidliche Glosse der „Autorität“. Nach einigen Monaten, während deren Walther und seine Frau vor Verwandten und Freunden gleichsam Versteck zu spielen schienen, war ein Brief mit einer bunten ausländischen Briefmarke eingetroffen, der den Erfurtern Walther’s neue Adresse mittheilte. Das war zu aller Erstaunen das alte, gute, biedere, trauliche Eff – dahinter der Schweif eines Titels, der in den Augen der „Autorität“ vollkommen den Freiherrn wie den übrigen Krims-Krams aufwog. Also: „Generaldirektor der vereinigten Eisenbahnen von M. und N.“ – (Namen von gewissen östlichen, noch in den Flegeljahren staatlichen Wachsthums befindlichen Duodezstaaten.)

Auch hier war es „um den Namen“ gegangen. Fast wäre Walther’s Wahl, die er einem glücklichen Zufall, unterstützt durch vortreffliche Empfehlungen, zu verdanken hatte, daran gescheitert, daß er plötzlich, als sein Abschied aus der Armee herauskam, sich als simpler Eff vorstellte. Verblüffung und Abkühlung auf Seiten der „Vereinigten Eisenbahnen“. Wird denn der lächerliche Götze auch dort hinten verehrt? Ja, hatten sie es denn nur auf das Schild mit dem freiherrlichen Namen abgesehen? Oder wollten sie einen Mann haben, der mit Energie und Tüchtigkeit seine Stellung ausfüllt?

Zuletzt siegte dennoch der Mann über den Namen.

Und die „Vereinigten Bahnen von M. und N.“, wie deren Aktionäre, sollten die resignirende Großmuth ihres Verwaltungsrathes, der sich schließlich mit einem Buchstaben, statt eines so schönen volltönenden Namens begnügte, später nicht zu bereuen haben.

Auch die Belzigs waren vor dem Namen geflüchtet. Sie verbrachten den Winter in Nizza. Frau Belzig ertrug den „Weltuntergang“ mit einem äußerlichen Gleichmuth, über den sie innerlich selber staunte. Es war das Beste so! Es haftete kein Segen an dem Namen … Doch die Winkel ihres Mundes hatten einen so resignirten Zug nach abwärts genommen, sie war weich und leicht zur Rührung geneigt, besonders wenn ihr Blick über die Familiennachrichten der Zeitung streifte. Nun, leuchtete denn nicht der Stern Lolo? „Die schöne Berlinerin“ ging immer wieder aus all’ den glänzenden Festen der Nizzaer Saison als siegreiche Königin hervor. Es umschwirrte sie ein Schwarm von Namen und Krönlein und brillanten Partien – zur Verzweifelung ihrer Mama: diese entsetzliche Wahl! Man ist ja so grauenhaft vorsichtig geworden!

Auf dem Wege von Nizza nach Berlin verdichteten sich natürlich die Eintagshuldigungen zu wirklichen Anträgen und entsprechenden Körben. Der verbrecherische Adolf Eff nickte verständnißvoll: „Sie hat Recht – sie behält von nun an, nach all’ den Abschweifungen, ihr Ziel im Auge – ich bleibe dabei: sie hat es auf einen der Söhne Bismarck’s abgesehen!“

Olga von Gamlingen flüchtete nach England, wo sie die bewußte Stellung endlich antrat. Als heimliches Bräutchen flüchtete sie, in diesen schwülen und verhängnißvollen Zeiten wollten sie doch nicht ihr junges Glück glitzern lassen. Und an eine Hochzeit wagte sie noch gar nicht zu denken, soweit lag diese noch in dämmernder Ferne. Mühüller hatte früher einmal ausgerechnet, daß er bei diesem „oberfaulen“ Avancement und wenn kein gehöriger Eisgang in den oberen und mittleren Chargen einträte, genau zweiundvierzig Jahre auf den Hauptmann zu warten haben würde. Und trotzdem hatte er sich in das „Elend“, das er immer so beschworen, hinabgestürzt?

Wann hatte der Oberboxer diesen kühnsten Sprung seines Lebens denn ausgeführt?

Es kam Alles so glatt und sanft und selbstverständlich, keine Spur von einem Anlauf. Sie hatten den armen Dicks begraben. Der „Unzerreißbare“, der auf dem Heimwege den Wagen – nicht die Belzig’sche Equipage, um ein Aufsehen zu vermeiden, mit Olga und Mühüller getheilt, empfahl sich nach der Ceremonie am Eingangsgitter des Kirchhofes, weil er noch im Interesse seiner Gesundheit sein Quantum abzulaufen hätte. Da saßen nun die Beiden, steif und still, jedes in einer Ecke des weiten, schwarz ausgeschlagenen Wagens. Durch das Vorderfenster sahen sie die Gestalt des Kutschers in seinem vom Wetter grünlich angehauchten Traueranzug hin- und herschwanken bei dem Wiegen der in altmodischen Federn hängenden Karosse.

Und kein Wort. Mühüller, der kein Wort fand, der nicht einmal seinen Blick von dem Kutscher nach ihrem Gesichtchen zu wenden wagte!

„Der arme Junge!“ hauchte sie endlich wie für sich hin.

Er nickte, froh, daß das Schweigen ein Ende hatte.

Nach einer Weile begann sie ihm zu erzählen, wie sie Dicks zuletzt gesehen. Als wenn er sein Schicksal vorgefühlt! Wie er von ihr Abschied nahm und sie geküßt. Warum sollte sie das nicht gestehen? War sie doch seine Tante. „Er nahm mir den Kopf zwischen seine beiden Hände und küßte mich auf die Lippen.“

Warum sollte sie deßhalb roth werden? Die Röthe ihres vom Crêpe des Trauerschleiers umhauchten Gesichtes rührte doch gewiß nur vom rauhen Wetter und den vorhin am Grabe vergossenen Thränen her.

„O!“ sagte er, ein wenig zusammenfahrend vor Ueberraschung. „Er hätte es wohl können bleiben lassen!“ schien das O! zu bedeuten.

Aber gleich faßte er sich. Welch’ eine dumme Eifersucht! „Ein guter Junge!“ rief er laut, die Augen groß aufreißend, „ein famoser Junge!“

Mühüller konnte sich später nicht mehr erinnern wie das geschehen: – plötzlich lag in der großen, breiten Höhlung seiner weißbehandschuhten Rechten etwas Schwarzes, Winziges – ihr Händchen! War es ein Anflug der Theilnahme, die ihn das Händchen von Dicks’ Tante ergreifen hieß – war es ein ganz seltsames Gefühl von Beschämung, daß er sich erst von einem Dicks den Weg zu seinem Glücke weisen lassen mußte? …

Natürlich wollte der Generaldirektor nichts von den zweiundvierzig Jahren wissen, die Mühüller bis zum Hauptmann und somit das Brautpaar zur Hochzeit zu harren hätte. Ist Olga doch nach wie vor seine Schwester! Gottlob, daß er nun aus eigener Kraft zu helfen im Stande ist. „Sind wir dem braven Mühüller nicht das Schmerzensgeld dieser Heirathszusage schuldig?“

Melitta fiel ihm überglücklich um den Hals.

An einem Sommermorgen desselben Jahres stand das Brautpaar vor dem mit südlicher Blumenpracht geschmückten Altar in dem großen Empfangssaal der Generaldirektion zu B.

Auf die Frage des Predigers, die so feierlich durch den Saal hallte, hauchte Olga das „Ja“ hin, das ihr Geschick mit dem Mühüller’s fürs Leben verband, leise, vom Knistern der Wachskerzen fast übertönt.

Und in dem seligen Hauch dieses Jawortes erstarb der Name.




  1. Malheur pour nous, pour vous, pour tout le monde! – Redensart der Franzosen Anno 1870.