Fichte und der Berliner Landsturm
Fichte und der Berliner Landsturm.
Es war am 19. Februar des Jahres 1813, als der berühmte Philosoph Fichte, dessen hundertjähriger Geburtstag erst vor wenig Wochen von dem deutschen Volke in erhebender Weise gefeiert wurde, mitten unter seine Zuhörer trat und das Katheder bestieg. Tiefes, ehrfurchtsvolles Schweigen herrschte in dem großen Auditorium, und die Blicke der Schüler hingen voll Erwartung an den Zügen des geliebten Lehrers, dessen ganzes Wesen in diesem Moment eine ungewohnte Erregtheit verrieth. Seine Wangen waren geröthet, seine Augen strahlten in eigenthümlichem Glanze, und seine sonst so feste und markige Stimme, mit der er einst jene gewaltigen Reden an [396] die deutsche Nation gehalten, zitterte merklich vor innerer Bewegung. Es mußte etwas Großes sein, das den Mann der Wissenschaft, den besonnenen Denker, so mächtig ergriffen und umgewandelt hatte. Ganz Berlin, oder vielmehr das gesammte Vaterland befand sich in einer eigenthümlichen Lage, am Ausgangspunkte einer neuen, großen Zeit. Nachdem Napoleon auf den Eisfeldern Rußlands sein Heer begraben und die Hand des Schicksals den Welteroberer gedemüthigt, erwachte auch das deutsche Volk aus seiner Betäubung und rüttelte, wenn auch nur zaghaft, an seinen Ketten. Vor Allen war es Preußen, das sich zum Kampfe rüstete, aber noch lastete das Joch des Feindes schwer auf seinen Schultern, seine Festungen waren in des Unterdrückers Hand und selbst die Residenz von französischen Truppen besetzt.
Auch geschlagen und halb vernichtet blieb
Napoleon furchtbar und gefährlich. Die
Regierung wagte nicht, ihn offen anzugreifen;
der kühne York, welcher durch
seinen Abfall dem Könige ein Heer gerettet,
mußte verleugnet, die Rüstung heimlich
betrieben, die kaum mehr zu zügelnde
Kriegslust der Nation durch allerhand
diplomatische Künste verborgen und bemäntelt
werden. Da der König sich in seiner
Hauptstadt nicht mehr sicher fühlte, hatte
er Berlin verlassen und sich nach Breslau
begeben. Von hier aus erließ er jenen
denkwürdigen Aufruf „an mein Volk“,
dessen Wirkung eine so bedeutende war,
daß Jung und Alt zu den Waffen griff.
Auch die studirende Jugend und sie vor Allen wurde von dem mächtigen Sturm erfaßt; die Hörsäle der neu gegründeten Berliner Universität hallten von kühnen und begeisterten Reden wieder, aber noch hatte keiner der Lehrer das letzte entscheidende Wort gesprochen, da sich die Hauptstadt noch immer in des Feindes Hand befand und Vorsicht in mehr als einer Beziehung geboten war. Nur Fichte fürchtete nicht die drohende Gefahr, unerschrocken entfaltete er die Fahne der Begeisterung, forderte er seine Schüler auf, für das Vaterland in den heiligen Kampf zu ziehen. „In einer solchen Lage,“ sprach er muthvoll zu der Jugend, „was können die Freunde der Geistesbildung thun? Ich habe schon früher meine Ueberzeugung ausgesprochen, daß, wenn die Gesellschaft, der Inhaber der materiellen Kräfte, dies sich gefallen läßt, sie selbst dagegen durchaus nichts thun können, als was sie ohnedies thun würden, sich und Andere mit allem Eifer bilden. Sie sind ein höchst unbedeutender Theil der vorhandenen Körperkraft, wohl aber sind alle bis auf ihre Zeit entwickelte Geisteskraft, und in ihnen ist niedergelegt das Unterpfand eines dereinstigen besseren Zustandes. Sie müssen darum sich selbst, ihre äußere Ruhe und Sicherheit, und, was sie eigentlich schützt, ihre scheinbare Unbedeutsamkeit erhalten, so gut sie können, und durch nichts die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen. Wir haben ein leuchtendes Beispiel dieses Betragens an denen, die wir als die Fortpflanzer der höchsten auf uns herabgekornmenen geistigen Bildung betrachten müssen, an den ersten Christen. – Wenn nun aber in dieser Lage eine Veränderung einträte, daß die Gesellschaft die Unterjochung ihrer Kräfte für fremde Zwecke nicht mehr dulden, sondern sich freimachen wollte für selbst zu wählende Zwecke: was könnten und sollten die Freunde der Geistesbildung sodann thun?
„Zuvörderst wird der Kampf begonnen im letzten Grunde für ihr Interesse; ob auch nicht Jeder es so meint und versteht, sie können es also verstehen. – Es kann gar nicht fehlen, daß nach dieser Befreiung der Geist, wenn er neu seine Zeit erwarten und nichts ungeduldig übereilen will, auf die neu zu gestaltende Zeit einfließen werde. – Sodann soll das Ganze von der Schmach, welche die Unterdrückung auf dasselbe warf, gereinigt werden. Diese ist auch auf sie mitgefallen, freilich unverdient, ja zu ihrer Ehre, weil sie um höherer Zwecke willen frei und entschlossen duldeten. – Jetzt möchte es scheinen, als ob der, welcher das Seinige thut, die Schmach abzuwälzen, gern geduldet hätte, nicht um höherer Zwecke, sondern aus Mangel an Muth. Doch so könnte es auch nur scheinen, und wer nur seines wahren Muthes sich bewußt wäre, könnte auch den haben, über den Schein sich hinwegzusetzen. – Um Muth zu zeigen, bedarf es nicht, daß man die Waffen ergreife: den weit höhern Muth, mit Verachtung des Urtheils der Menge treu zu bleiben seiner Ueberzeugung, muthet uns das Leben oft genug an.
„Aber wenn ihnen die Theilnahme an dem Widerstände nicht nur freigelassen wird, wenn sie sogar zu derselben aufgefordert werden, wie verhält es sich sodann? Die Masse der zum Widerstand nöthigen Kräfte können nur diejenigen beurtheilen, die jenen Entschluß faßten und die an der Spitze des Unternehmens stehen. Nehmen sie Kräfte in Anspruch, die in der Regel nicht dazu bestimmt sind, so müssen wir, nachdem wir Vertrauen zu ihnen haben können, ihnen auch darin glauben, daß diese nöthig sind. Und wer möchte bei ungünstigem Ausgang den Gedanken auf sich laden, daß durch sein Sichausschließen und durch das Beispiel, das er dadurch gegeben, das Mißlingen veranlaßt sein könne? Das Bewußtsein, meine Streitkraft ist nur klein, wenn es auch ganz gegründet wäre, könnte dabei nicht beruhigen. Denn wie, wenn nicht sowohl auf die Streitkraft, als auf den durch das Ganze zu verbreitenden Geist gerechnet wäre, der hoffentlich, aus den Schulen der Wissenschaft ausgehend, ein guter Geist sein wird? wie, wenn gerechnet wäre auf das große, den verbündeten deutschen Stämmen zu gebende Beispiel eines Stammes, der in allen seinen Ständen sich erhebt, um sich zu befreien?“ – Mit solchen tiefen und zugleich ergreifenden Worten entzündete Fichte in der Brust der ihn umgebenden Jünglinge die heilige Flamme der Vaterlandsliebe und kriegerischer Thatenlust, und als sie den Hörsal verließen, meldeten sich die Meisten freiwillig zu den Waffen, darunter zwei Lieblingsschüler des großen Philosophen, welche im muthigen Freiheitskampfe auf dem Felde der Ehre blieben und mit ihrem Blute die Worte ihres hochgeehrten Lehrers besiegelten. Weit wichtiger jedoch als die bloße materielle Kraft war die geistige Unterstützung, welche Fichte in seinen Schülern dem Heere zuführte, jene moralische Macht und flammende Begeisterung, die sich unwillkürlich der schwerfälligeren Menge mittheilte und dieselbe in mächtigem Aufschwung fortriß.
Aber ein Charakter wie Fichte, dessen innerste Natur die That war, konnte und mochte es nicht bei den bloßen Worten bewenden lassen. Er bat um die Erlaubniß, das Heer begleiten zu dürfen, um als Feldredner „die Krieger in Gott einzutauchen und die in letzter Instanz Beschließenden und Handelnden durch Beredsamkeit [397] in die geistige Stimmung und Ansicht zu heben.“ So gedachte er, indem er Weib und Kind verlassen und sich den Wechselfällen des Krieges aussetzen wollte, das Volk zu begeistern und die Führer mit sich fortzureißen. Aber zu einer solch idealen Höhe konnten sich die Häupter und Lenker selbst jener großen Erhebung nicht aufschwingen, und das seltsame Anerbieten wurde nicht weiter berücksichtigt. – Da er im Felde keine Verwendung fand, so wurde er ein eifriges Mitglied des sich bildenden Landsturms, dem der Schutz des heimischen Heerdes anvertraut war. Mit Fichte traten fast alle Lehrer der Berliner Hochschule in den Landsturm ein, darunter Männer wie Buttmann, Boekh, Solger, Neander, Savigny, Lichtenstein, Erman, Zeune und vor Allen der berühmte Schleiermacher. Feierlich verbanden sie sich zum Schutze für das Vaterland, und daß sie selbst den Tod nicht scheuten, beweist das folgende interessante Actenstück: „Da unter den gegenwärtigen Kriegsverhältnissen jeder tüchtige Mann der Gefahr ausgesetzt ist, bei Vertheidigung des Vaterlandes sein Leben zu verlieren und seine Familie hülflos zu hinterlassen, so verpflichten sich die Unterzeichneten auf ihr Gewissen und ihre Ehre, falls einer oder mehrere im Kriege umkommen sollten, für deren Hinterbliebene Weiber und Kinder theils durch eigene Beiträge, theils durch alle mögliche Verwendung beim Staate, oder wo irgend Beihülfe zu erwarten sein könnte, dergestalt zu sorgen, daß die Subsistenz derselben gesichert sei, es mag nun der Familienvater im Kampfe selbst oder als Opfer des Krieges verstorben sein. Auf die Weise den ehrenvollen Dienst für das Vaterland einander wechselseitig zu erleichtern, versprechen die Unterzeichneten feierlich durch ihre Unterschrift.“
Mit dem größten sittlichen Ernst jedoch, der jeder Handlung seines Lebens gleichsam eine religiöse Weihe verlieh, erschien Fichte in seinem neuen kriegerischen Wirkungskreise. Der friedliche Mann der Wissenschaft vertauschte den bequemen Professoren-Rock mit der Alles gleichmachenden Blouse; sein würdiges Haupt bedeckte der breite runde Hut mit der damals zuerst auftauchenden preußischen Kokarde; im Ledergurt steckten zwei große Pistolen, und der mächtige Schleppsäbel klirrte an seiner Seite. Seine ganze Haltung aber verrieth vor Allem den Geist, der ihn beseelte, die hohe Bedeutung, welche er seinem militärischen Berufe beilegte. Man sieht es dem aus jener Zeit stammenden Bilde des großen Philosophen an, dem entschlossenen Ausdruck dieser scharf geprägten Züge, daß er nicht Anstand genommen hätte, muthig sein Leben für das Vaterland zu opfern. Mit wahrhaft rührendem Eifer nahm er an den täglichen Uebungen, Märschen und Excercitien des Landsturms Theil, indem er seine liebsten Studien verließ und die wichtigsten wissenschaftlichen Untersuchungen ruhen ließ, um seiner patriotischen Pflicht zu genügen. Mit Schleiermacher stand er mehr als einmal Wache, und die beiden Gelehrten gaben ein herrliches Beispiel von Unterordnung und wahrer Bürgertugend.
In jenen denkwürdigen Tagen war es auch Fichte vergönnt, der Stadt Berlin einen wesentlichen Dienst zu leisten und durch seine Besonnenheit eine große Gefahr abzuwenden. In den letzten Tagen des Februars 1813 war die Residenz noch immer von einem schwachen französischen Heerhaufen besetzt, der durchaus nicht geneigt schien, die Stadt so bald zu verlassen, obgleich bereits die Vorposten des russischen Heeres sich in der Nähe zeigten und bis an die Thore streiften. Die Aufregung der Bürger hatte einen hohen Grad erregt. Da faßte ein Mann, der einen großen Anhang unter der feurigen Jugend hatte (Jahn?), den abenteuerlichen Plan, die französische Besatzung in den Häusern zu überfallen und ihre Magazine anzuzünden. Der Gedanke war um so gefährlicher, da der König noch nicht seine Kriegserklärung erlassen und der Vicekönig von Italien noch mit einem ansehnlichen Heere sich auf Berlin werfen und eine furchtbare Rache nehmen durfte. Die Ausführung war auf die nächste Nacht angesetzt, unter den Eingeweihten befand sich aber ein Schüler Fichte’s, der den Gedanken des Mordes von dem sittlichen Standpunkte seines Lehrers aus nicht rechtfertigen konnte. Um sein Gewissen zu beruhigen, wollte er die Ansicht und den Rath Fichte’s vernehmen. Dieser nöthigte ihn zu einem umfassenden Geständnisse des ganzen Vorhabens, dessen entsetzliche Folgen er sogleich erkannte. Ohne Zögern eilte er zu dem damaligen Chef der Polizei, durch dessen energisches und doch zugleich schonendes Einschreiten das unreife Unternehmen verhindert und somit ein großes Unheil von Berlin abgewendet wurde.
So wachte und sorgte Fichte unablässig, furchtlos und unerschrocken, kräftig und besonnen für das Heil des Vaterlandes, bei Tag und Nacht keine Mühe, keine Anstrengung scheuend, das belebende und begeisternde Wort mit der männlichen That, die feurige Rede mit der todesmuthigen Opferfreudigkeit verbindend. – Groß war seine Freude über die ersten Siege der Freiheitskämpfer, und als die Nachricht von der gewonnenen Völkerschlacht auf Leipzigs Feldern ihn erreichte, betheiligte er sich an der allgemeinen Illumination, welche die Residenz veranstaltete, indem er selbst die Lampen und Lichter herbeiholte. Als die verständige Gattin dabei bemerkte, ob es nicht besser sei, das dafür zu verwendende Geld den verwundeten Kriegern zu überschicken, antwortete er ihr: „Das Eine thun und das Andere darum nicht lassen.“ – Aber selbst die glänzendsten Triumphe trübten nicht den hellen Blick des freisinnigen Denkers; bald erkannte er den veränderten Geist der Fürsten, die nur in ihrer höchsten Noth das Volk gerufen, so wie die Verwendung des Heeres im Dienste einer sich bereits, wenn auch nur leise und mit Vorsicht, regenden Reaction, die bald ihr Haupt mit frecher Stirn erhob und unberechenbares Unheil häufte. – Der Tod ersparte ihm eine Reihe von Enttäuschungen und Verfolgungen, welche Männer wie Arndt, Jahn etc. trafen. Bei der Pflege der Verwundeten in den Spitälern hatte sich Fichte’s Gattin, die in seinem Geiste handelte, ein Nervenfieber zugezogen; indem er die durch seine Pflege Wiedergenesene in seine Arme schloß, athmete er den Keim der entsetzlichen Krankheit ein. Fichte starb am 27. Januar 1814 im kräftigen Mannesalter. War es ihm auch nicht vergönnt, sich durch kriegerische Thaten auszuzeichnen, so legte sein Eintritt in den Berliner Landsturm ein herrliches Zeugniß ab für den Geist, der ihn beseelte, und daß er jeden Augenblick bereit war, sein Leben für das Vaterland und die Freiheit einzusetzen, nachdem er durch seine Reden an die deutsche Nation den gesunkenen Muth seines Volkes aufgerichtet, die Verzweifelten erhoben, die Schwachen gestärkt und gleichsam die Saat gesät, aus der die geharnischten Krieger des Befreiungskampfes emporstiegen. Auch Fichte war ein Held, nicht blos des Gedankens, sondern auch der That, und verdient neben Scharnhorst, Gneisenau und Blücher dreist genannt zu werden, wenn er auch nur im Berliner Landsturm als Gemeiner diente.