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Erinnerungen eines liberalen Achtundvierzigers

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Textdaten
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Titel: Erinnerungen eines liberalen Achtundvierzigers
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 819-820
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[819] Erinnerungen eines liberalen Achtundvierzigers.[1] Wenn wir bei Erwähnung der „Erlebnisse eines alten Parlamentariers im Revolutionsjahre 1848, von Peter Reichensperger“ neulich (S. 771) den Wunsch aussprachen, es möge auch von freisinniger Seite aus recht bald eine Beleuchtung der denkwürdigen Zeit von 1848 im Buchhandel erscheinen, so ist dieser Wunsch überraschend schnell in Erfüllung gegangen: vor uns liegen die „Erinnerungen“ eines Mannes, welcher der Theilnahme unserer Leser sicher ist, weil er ein treuer Freund der Freiheit und der „Gartenlaube“ war. Als solchen haben wir ihn noch an seinem Grabe gefeiert, als wir ihm (Jahrg. 1881, S. 823) unsern Nachruf widmeten. Es ist unser J. D. H. Temme.

Temme’s „Erinnerungen“ beschränken sich zwar nicht auf die Darlegung seiner Erlebnisse während des Revolutionsjahres von 1848, sondern sie enthüllen uns das ganze Bild seines Lebens von seiner Kindheit auf der rothen Erde Westfalens an bis zu seinen Greisentagen auf dem freien Boden seiner zweiten Heimath, der Schweiz. Mehr als die Hälfte des Buches behandelt die Zeit der Revolution von 1848 und die Folgen derselben; da aber den heutigen Nachkommen seiner nunmehr größtentheils heimgegangenen Zeit- und Kampfgenossen Temme fast nur als Revolutionsmann und Romandichter vor Augen steht, so ist es ein besonderes Verdienst dieser „Erinnerungen“, auch die erste, vor der Revolutionszeit liegende Hälfte seines Lebens zu allgemeinerer Kenntniß zu bringen, die uns eine Reihe höchst interessanter Bilder erschließt und mit dem schnöden Lohn endigt, den die Reactions-Justiz jener Zeit ihm für dreiunddreißig in hohen Richterwürden und mit anerkannter Gewissenhaftigkeit vollbrachte Dienstjahre zu Theil werden ließ.

Wenn Reichensperger in seinem Buche aus der Geschichte von 1848 die Lehre zieht: „wie ohnmächtig sich der ungezügelte Freiheitsdrang der Völker erwiesen, aus sich heraus gesunde und dauernde Schöpfungen zu begründen“ - so zeigt uns Temme, wie schwach auf der entgegengesetzten Seite die Fähigkeit zur Gesetzgebung war und wie gemeine Wege oft die Reaction ging, um wieder obenauf zu kommen. Hier und da ergänzen sich auch Beide in Ver- und Enthüllungen.

Wir haben uns durch die lockende Parallele gleich in das Jahr 1848 leiten lassen. Der Raum gestattet uns nicht, den Leser an den zwanzig Abschnitten des Buches auch nur vorbeizuführen. Da aber Temme der gegenwärtigen Generation als Romandichter am nächsten steht, so wollen wir ihn hier lieber die Frage beantworten lassen, die er selbst stellt: „Wie ich belletristischer Schriftsteller wurde?“ Temme war als Marburger Student krank bei einem Freund in Halle. Als er sich im Zustande der Genesung befand und Beide der Geldmangel drückte, schlug der Freund vor, man solle gemeinsam einen Roman schreiben, in dem abwechselnd Jeder ein Capitel übernähme. Wirklich kam das Manuscript glücklich zu Stande, wurde an Gottfried Basse in Quedlinburg geschickt und erzielte ein hübsches Honorar und aufmunternde Einladung zu weiterem Schaffen. Dieser Erfolg gab Temme den Muth, später, nachdem er als Gerichtsassessor mit 600 Thalern Gehalt geheirathet hatte, seine Einnahme durch eine Reihe von Erzählungen und Novellen zu vermehren. Da er als Beamter seinen Namen nicht nennen durfte, schrieb er unter dem [820] Namen „Heinrich Stahl“ und später als „Verfasser der Neuen Deutschen Zeitbilder“. Die Fortsetzung dieser Thätigkeit geschah im Zuchthause zu Münster. Seine Autorschaft ward ruchbar, und sofort ging die Polizei mit allen Mitteln zur Unterdrückung derselben vor: es wurde, in aller Stille, sogar den Leihbibliotheken bei den härtesten Strafen verboten, Romane von Temme zu halten und auszugeben. Kein Buchhändler wollte und konnte noch etwas von ihm zum Drucke bringen.

„Endlich,“ erzählt er (S. 518), „fand ich einen Verleger in dem Verlagsbuchhändler Hermann Schultze zu Leipzig, dem früheren wegen seiner Freisinnigkeit gemaßregelten Berliner Stadtrathe, und Ernst Keil forderte mich auf, ihm Erzählungen und Novellen für die ‚Gartenlaube‘ zu schreiben. Durch die ‚Gartenlaube‘ wurde ich weithin bekannt. Dem deutschen Volke wurde ich durch sie wieder näher gebracht. Wie die ‚Gartenlaube‘ mich zur Mitarbeiterschaft aufgefordert hatte, so wurden mir Einladungen von manchen anderen angesehenen, selbst den am meisten verbreiteten Zeitschriften.“

Doch auch die Kehrseite sollte dieser glänzenden Medaille der Anerkennung nicht fehlen. Temme sollte die ganze Frechheit des Nachdrucks verspüren, durch den wenige Autoren so schwere Verluste zu erleiden hatten, wie gerade er, der plötzlich so viel und gern gelesene Romandichter. Er zählt eine lange Reihe von Kämpfen gegen den Nachdruck auf, die alle vergeblich waren bis auf einen, wobei ihm der Oberprocurator in Cleve zu seinem Rechte verhalf. Die Entschädigung, die ihm dieser von dem Nachdrucker erwirkte, ließ Temme der Wittwe eines Landwehrunterofficiers aus dem Wittgensteinischen zukommen, der bei dem Sturm auf die Düppler Schanzen im Jahre 1864 gefallen war.

Um das Jahr 1866 gab er jeden Schritt gegen seine Nachdrucker auf und verschaffte sich auf diese einfachste Weise Ruhe.

Ist auch das vorliegende Buch aus Theilen zusammengesetzt, die zu verschiedenen Zeiten niedergeschrieben worden sind, je nachdem diese oder jene Erinnerung besonders lebhaft in dem Verfasser auftauchte, so giebt das Ganze doch ein interessantes Bild des schicksal-, thaten- und leidenreichen Lebens eines Mannes, der zu den würdigsten Repräsentanten der großen Kampfzeit gehört, ohne welche die Sehnsucht der Nation nach „Kaiser und Reich“ schwerlich sobald erfüllt worden wäre. Wie Jeder von jenen hervorragenden Repräsentanten der freiheitlichen Bewegung von 1848 verdient auch J. D. H. Temme die dankbare Theilnahme der Nation und ein Denkmal in unserer Literatur.

  1. „Erinnerungen von J. D. H. Temme“. Herausgegeben von Stephan Born. Mit Temme’s Bildniß. Leipzig, Ernst Keil, 1883.