Ein ultramontaner Geschichtsschreiber des Jahres Achtundvierzig
[771] Ein ultramontaner Geschichtsschreiber des Jahres Achtundvierzig. „Wie man immer über die innere Berechtigung oder Nothwendigkeit, sowie über die unmittelbaren Resultate der großen Sturmbewegung (von 1848) denken mag, so bleibt sie doch für alle Zeiten eine der bedeutungsvollsten und, wenn richtig erkannt und gewürdigt, lehrreichsten Erscheinungen der neuern Geschichte, indem sie einen festen Wendepunkt und Markstein zwischen der Vergangenheit und der Zukunft unseres Staatslebens bildet. Das Jahr 1848 hat zugleich eine ernste Warnungstafel für die Regierungen, wie für die Völker aufgerichtet, auf welcher in Lapidarschrift die Worte: Weisheit, Mäßigung, Ordnung! eingegraben stehen. Niemals vordem sind in einer so kurzen Spanne Zeit mit so geringfügigem Kraftaufwande so große, anscheinend festbegründete Regierungen umgestürzt worden – aber auch niemals hat der ungezügelte Freiheitsdrang der Völker sich ohnmächtiger erwiesen, aus sich heraus gesunde und dauernde Schöpfungen zu begründen.
Dieses Jahr ruft vor Allem mit der Stimme einer großen Nation in tausendfachem Echo den zunächst verantwortlichen[WS 1] Regierungen die Wahrheit in’s Bewußtsein, daß alle äußere Staatsmacht, wie sie in einem wohlgeschulten Beamtenheere und einer zahlreichen Armee geschaffen werden mag, im entscheidenden Augenblicke den Dienst versagt, wenn ihr nicht ein innerlich befriedigtes und darum zuverlässiges Volk zur Seite steht.“
Im Jahrgang 1872 der „Gartenlaube“ (S. 140) haben wir unseren Lesern „Parlamentarische Charaktere aus Preußen“ vorgeführt und als Nr. 1 vorangestellt: „Die Führer der Ultramontanen“, und zwar: Windthorst, August und Peter Reichensperger und Mallinckrodt. Diese Männer standen damals schon in einem Alter, wo ein Wandel der Grundsätze und Ueberzeugungen im Menschen ausgeschlossen ist. Wer nun heute jene vier Charakteristiken wieder liest, wird nicht in Zweifel sein, welcher von den dort Geschilderten die Worte niedergeschrieben haben kann, die in der Einleitung zu der oben bezeichneten Geschichte des Jahres Achtundvierzig zu lesen sind. Es ist Peter Reichensperger, in dessen „Erlebnisse“[1] uns von dem Herrn Verleger derselben noch vor deren Veröffentlichung freundlich ein Einblick gestattet worden ist.
Peter Reichensperger, der Bruder des älteren August Reichensperger, der als der eigentliche Papst oder Vater der katholischen Fraction bezeichnet wird, hat sich als einer der besten Redner des preußischen Parlamentarismus erwiesen und als „ein Idealist von reinem Bewußtsein und naivem Glauben, der den Katholicismus als ewige Wahrheit betrachtet, welcher Lüge und Schlamm der Zeit in ihrem Kern nichts anhaben können“, – und „der fest davon überzeugt ist, daß eine heilsame Staatspolitik mit den Interessen der katholischen Kirche nothwendig übereinstimmen müsse“.
Trotz dieser seiner Ueberzeugungen lag es ihm jedoch ernstlich daran, die Schroffheit des Culturkampfes zu mildern, indem er sich wenigstens bemühte, die Feindseligkeit der Curie und seiner Fraction, wenn sie allzu offenbar gegen das neue deutsche Reich gerichtet war, möglich zu bemänteln. Ein redliches Streben nach Mäßigung und gesetzlicher Haltung ging bisher aus allen seinen Reden hervor. Mit um so gespannterer Erwartung muß man einem Rückblicke in das eigene Leben gerade eines solchen Mannes entgegen sehen. Peter Reichensperger hat die Zeit der großen Bewegung vom Anfang bis zum Ende mit durchlebt; er hat mitten in der Handlung gestanden und ist mit seiner Persönlichkeit mehrmals in wichtigen und entscheidenden Augenblicken hervorgetreten. Allerdings hat er in Frankfurt am Main nur die Tage des Vorparlaments mit erlebt und folgte schon Mitte Mai der Wahl in die preußische Nationalversammlung. Um so genauer führt er uns in diese Berliner Sturmtage ein, Manches enthüllend, das bis jetzt der Oeffentlichkeit entzogen war, die ganze dortige Bewegung aber von dem Standpunkte aus schildernd, den er vertreten.
Wie von diesem Standpunkte aus in einem Auge, das wir unbedingt für das eines ehrlichen und rechtsliebenden Mannes halten, die Bilder der gepriesensten Volkshelden sich gestalten, wollen wir wenigstens in einigen Beispielen zeigen.
Seite 35 der „Erlebnisse“ lesen wir: „Robert Blum hatte sich durch eisernen Fleiß und angeborenes Talent als Autodidakt aus der kümmerlichsten Jugend zur Stellung eines angesehenen Volksmannes erhoben, indem er nach seinem eigenen Geständnisse in Leipzig den Ronge’schen Deutsch-Katholicismus unbehelligt von der sympathisirenden Polizei und Censur dazu benutzte, das Volk socialpolitisch zu erregen und an sich zu fesseln.
An Geist, Kraft und Klugheit, sowie an natürlicher, oft blendender Beredsamkeit mit den entsprechenden Schlagwörtern der Zeit und der erforderlichen Stentorstimme hat es ihm ebenso wenig gefehlt, wie an Rücksichtslosigkeit und jener tribunizischen Gewandtheit, welche mit dem Pöbel und seinen Fäusten kokettirt, damit dieselben sich vorbereiten, dem Kronprätendenten der Volksmajestät im gekommenen Augenblicke die Steigbügel zu halten. Er erwies sich im späteren Parlamente als der bedeutendste Führer der demokratischen Partei, und sein standrechtlicher Tod in Wien am 9. November desselben Jahres wegen erfolgreicher Aufforderung zum bewaffneten Widerstande und persönlicher Theilnahme am Barricadenkampfe gegen die Truppen des Feldmarschalls Windischgrätz hat einen nicht zu lüftenden Schleier über manche Verirrungen seiner Vergangenheit gezogen.“
Worin diese „Verirrungen seiner Vergangenheit“ bestehen, ist leider nicht verrathen; ob das ausführliche Lebensbild, das Hans Blum von seinem Vater in der „Gartenlaube“ gegeben, den „Schleier“ davor für unsere Gegner noch immer nicht genug gelüftet?
Seite 37 heißt es über Gagern und Bismarck: „Heinrich von Gagern war in der That ein ganzer deutscher Mann, dem auch meine wärmsten Sympathien trotz wesentlicher Gegensätze unserer politischen Bestrebungen stets zugehört haben. Bekanntlich ist Niemand verpflichtet, ein großer Mann oder gar eis[n] Genie zu sein; das Vaterland aber sieht mit gerechtem Stolze und mit Dank auf alle seine Söhne, die eine hervorragende [772] Begabung seinem Dienste mit Treue und Hingebung gewidmet haben, – und zu Diesen wird es ihn immerdar in erster Reihe zählen. Wenn der Fürst Bismarck die ihm von Busch (‚Graf Bismarck und seine Leute‘, Bd. II., S. 14) in den Mund gelegten wegwerfenden Worte über Gagern wirklich gesprochen haben sollte, so würde das wohl nur als eine Bestätigung dafür zu betrachten sein, daß Nachtischreden überhaupt durch eine besondere Inspiration beeinflußt werden.“
Eine schlimmere Aufnahme findet „der mehrgenannte Abgeordnete Temme, der durch seine rücksichtslose Uebertragung privatrechtlicher Formeln auf staatsrechtliche Angelegenheiten wie durch die Leidenschaftlichkeit seiner Sprache bei der Linken großes Ansehen erlangt hatte, während die Mehrheit der Versammlung sich vielleicht über Gebühr durch seine auffallende Mohrenphysiognomie mit Ohrringen, wolligem Haare und eingedrückter Nase von ihm abgestoßen fühlte.“
Dagegen spricht er über Waldeck sich folgendermaßen aus: „Zeitungsnachrichten besagten, daß die äußerste Linke in der Verfassungsurkunde nur Eine Kammer zulassen wolle, die weder aufgelöst, noch auch durch ein aufschiebendes Veto der Krone beschränkt sein solle. Gewiß ist, daß deren Mitglied Waldeck diesen Standpunkt bereits in seiner Berliner Candidatenrede eingenommen hat und daß er bald als das Haupt, ja als das lebendige Programm der demokratischen Partei in der Nationalversammlung, wie im Lande anerkannt worden ist. Eine nähere Betrachtung seiner für die weitere Entwickelung der Dinge so bedeutsam gewordenen Persönlichkeit zeigt, daß er zwar die zu jener Führerschaft erforderlichen Eigenschaften in hohem Maße besaß, aber das allgemeine Vertrauen nicht gewinnen konnte. Seine äußere Erscheinung war selbstbewußt imponirend, und seine hervorragende juristische Befähigung officiell anerkannt, indem er kaum zweiundvierzig Jahre alt 1844 als Hülfsarbeiter, dann als wirkliches Mitglied in den höchsten Gerichtshof berufen worden war, obgleich er schon damals die bäuerlichen Rechtsinteressen in Westfalen vom demokratischen Standpunkte aus lebhaft vertreten und sich den Namen des ‚Bauernkönigs‘ erworben hatte. In jüngeren Jahren hatte er sich auch in Dichtungen versucht, allein seine spätere öffentliche Wirksamkeit läßt in ihm nur noch den streng geschulten Juristen erkennen, der die logische Formel mit echt westfälischer Zähigkeit um so einseitiger auf das politische Gebiet übertrug, als ihm die staatswissenschaftlichen und volkswirthschaftlichen Doctrinen verhältnismäßig fremd geblieben zu sein scheinen. Jedenfalls fehlte ihm der ruhige staatsmännische Tact, der ihn und seine Partei vor Maßlosigkeit hätte bewahren können. Der idealistische Grundzug seines Wesens trat nur noch insofern hervor, als er unter Mißachtung der sprüchwörtlichen Wahrheit, daß das Beste der Feind des Guten ist, nicht blos nach dem begrifflich Vollkommensten strebte, sondern auch an die Möglichkeit seiner sofortigen Verwirklichung gegenüber einem Volke glaubte, welches seine relative Unreife von Tag zu Tag immer handgreiflicher vor Aller Augen erwies. Die leidenschaftliche Begeisterung, mit welcher er diese ideologischen Anschauungen vertrat, gab seinen die Phrasen und Schlagwörter des Tages nicht verschmähenden Reden eine wahrhaft zündende Kraft bei seinen Parteigenossen, obgleich ihm die hohe Beredsamkeit der englischen und französischen Meister der Tribüne versagt war. Wohl nicht mit Unrecht hat man auch von seinem brennenden Ehrgeize gesprochen, allein bei dem stets hervorgetretenen Adel seiner Gesinnung muß angenommen werden, daß derselbe nicht in einer persönlichen Schwäche, sondern der Stärke seiner Ueberzeugung wurzelte, daß gerade Er der Mann sei, das erstrebte Beste zu verwirklichen. Der wirkliche Verlauf der Ereignisse hat dies Selbstvertrauen nicht gerechtfertigt, sondern nur Enttäuschungen und Niederlagen ihm und seiner Partei eingebracht.“
Mit einer Stelle des Buches, welche die Vermögensverhältnisse des preußischen Königshauses betrifft, wollen wir die Mittheilungen aus dem selben schließen. Seite 37 lesen wir:
Bei der Frage der königlichen Civilliste haben die Regierungscommissare auf Erfordern der Commission eingehende Mittheilungen über die Dotationsverhältnisse unseres Königshauses gemacht, welche ich sofort skizzirte und dem Protocoll einverleibte. Meines Wissens sind aber diese Notizen nicht in die Handbücher unseres Staatsrechtes übergegangen, und sie verdienen wegen ihres allgemeinen Interesses eine summarische Wiedergabe. Eine eigentliche Civilliste besteht in Preußen nicht, vielmehr werden die Bedürfnisse der Krone, einschließlich der prinzlichen Apanagen, durch den Kronfideicommißfonds gedeckt, welcher aus einer von den Domanial-Einkünften vorab zu entnehmenden Jahresrente von 2½ Millionen Thalern nebst dem Goldagio von 73,000 Thalern besteht. Hierzu kommt das durch König Friedrich Wilhelm den Ersten aus angekauften Gütern testamentarisch begründete Hausfideicommiß, sowie der aus Ersparnissen des Königs Friedrich Wilhelm des Dritten gebildete Krontresor im Capitalbetrage von 6 Millionen Thalern nebst einem demnächst erzielten, nicht näher angegebenen weiteren Betrage. Dieser Krontresor hat folgende den opferwilligen Charakter des Königs kennzeichnende Entstehungsgeschichte. Seit den Kriegsjahren von 1806 u. f. hatte der König die Ausgaben der sogenannten Privatschatulle sehr beschränkt und demnach aus den Revenuen der Staatsdomainen eine bedeutende Summe weniger, als unter diesem Titel herkömmlich, entnommen. Als nun aber in Folge des Pariser Friedens die Staatscasse aus der den Franzosen auferlegten Contribution einen namhaften Zuwachs erhielt und den Beamten die sogenannten ‚Bons‘ ausgezahlt werden konnten, hielt man auch den König für berechtigt, sich aus derselben Quelle dasjenige, was er während der Kriegsdrangsale freiwillig entbehrt hatte, ersetzen zu lassen. Derselbe ließ die ihm solchergestalt erstattete Summe, zu welcher späterhin die Ueberschüsse der vorbezeichneten Kronfideicommißrente hinzutraten, abgesondert verwalten und machte den dadurch gebildeten Fonds zum Gegenstande einer testamentarischen Verfügung, wonach der Nachfolger in der Regierung über eine Summe von 3 Millionen frei zu verfügen befugt sein, dagegen eine Summe von 3 Millionen einen sogenannten eisernen, nur in Fällen der Noth angreifbaren Bestand bilden sollte.
Der Mehrbetrag des Krontresors, aus den ferneren Ersparnissen der auf 2½ Millionen fixirten jährlichen Rente entstanden, ist durch das Testament Friedrich Wilhelm’s des Dritten zu einem Fideicommißfonds für nachgeborene königliche Prinzen mit eventuellem Rückfalle an die Krone bestimmt worden. Diese Krondotation wurde durch das Gesetz vom 30. April 1859 um 500,000 Thaler, durch das Gesetz vom 27. Januar 1868 um 1 Million Thaler, endlich durch den Staatshaushaltsetat von 1873 um 1½ Millionen Thaler vermehrt, sodaß dieselbe dermalen neben dem Hausvermögen 16,719,000 Mark beträgt.“
Peter Reichensperger’s „Erlebnisse“ werden schon als eine Bereicherung unserer nicht übereifrig gepflegten Memoiren-Literatur, insbesondere aber als die Schrift eines so bedeutenden Parteimannes eine bevorzugte Aufnahme finden. Daß man auch auf dem entgegengesetzten Standpunkte Ursache hat, diesem Werke Beachtung zu schenken, haben wir mit diesen Mittheilungen bewiesen. Man wird im Lager der liberalen Zeitgenosen nach Waffen zur Bekämpfung manchen Angriffs suchen; man wird besonders gern zu Bernstein’s Schilderung jener Tage, zu Münch’s, K. Blind’s u. A. Erinnerungen und Erlebnissen zurückgreifen, und vielleicht ist durch Reichensperger’s Vorgang der Anstoß gegeben, daß mit der gleichen tagebuchartigen Genauigkeit und Ausführlichkeit auch vom deutschfreisinnigen Standpunkte aus jene ewig denkwürdige Zeit dargestellt wird.
- ↑ Vorlage: verantwortichen
- ↑ Erlebnisse eines alten Parlamentariers im Revolutionsjahre 1848. Von Peter Reichensperger. (Berlin, Julius Springer.)