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Erinnerungen an die älteste Thüringer Nachtigall

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Textdaten
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Autor: Friedrich Hofmann
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Titel: Erinnerungen an die älteste Thüringer Nachtigall
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 373–376
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[373]

Johann Albert Gottlieb Methfessel.

Erinnerungen an die älteste Thüringer Nachtigall.
Von Friedrich Hofmann.

So nennt denn dasselbe Städtlein Dreierlei sein eigen, das kein anderer Ort ihm nachthut in allen Thüringer Landen; es rühmt sich des größten Marktplatzes, der höchsten Brücke und der ältesten Nachtigall. Was den Marktplatz betrifft, so können wir es dem ungläubigen Leser billig überlassen, sich über dessen Größe selbst die beruhigende Gewißheit zu verschaffen. dagegen ist es eine Angabe untadeliger Fachmänner, nach welcher die Höhe der Brücke genau zwölfhundertundachtzehn Fuß (über der Meeresfläche) beträgt [374] denn ihr kühner Bogen verbindet die Glockenstuben der beiden mächtigen Thürme der Stadtkirche byzantinisch-gothischen Andenkens. Und an dem Alter der Nachtigall hat gleichfalls Niemand ein Recht zu zweifeln, da selbige am sechsten October 1784 geboren war, demnach am selben Datum dieses laufenden Jahres ihren fünfundachtzigsten Geburtstag gefeiert haben würde, wenn sie nicht schon am 23. März gestorben wäre.

Das Städtlein heißt aber Stadtilm und die Nachtigall hieß Johann Albert Gottlieb Methfessel.

Es war schon in der Kindheit dieses Thüringer Vogels Sitte, daß, wie die Alten sungen, so zwitscherten auch die Jungen, ferner daß, was ein Häkelein werden wollte, sich bei Zeiten bog. Um für diese weisen Lehren ein gutes Beispiel zu finden, werfen wir einen Blick in des Stadt-Cantors Wohnung. Wir können’s zum Fenster hinein besorgen, weil das Stübchen zu ebener Erde liegt. Da sitzen am Mittagstisch und zum Theil auf Bänken, wie sie in der Schul stehen, um das Elternpaar herum wohl an ein Dutzend Kinderlein, und zwar, wie sich's für einen gerechten Cantor und Organisten geziemt, wie die Orgelpfeifen. Und der Vater gebeut: „Albert, bete!“

Mit gefalteten Händchen und wohllautender Stimme hebt der Knabe seinen langen Spruch an, kommt auch geläufig damit zu Ende und hat nur noch das Vaterunser daran zu fügen, so ist er fertig. Immer begehrlicher haftet aber sein Auge an seinem Leibgericht, dem Milchreis in der großen Schüssel. Da steht er an der Bitte: „Unser täglich Brod gieb uns heute“, – und so wenig Falsch ist in dem braven Jungen, daß er den lieben Gott nicht belügen kann, nein, er betet ehrlich heraus, wie es ihm sein Herz dictirt: „Unser heutiges Brod gieb uns täglich!“ –

Der Schlag von alten Cantoren, wie sie damals wohl auch anderwärts, insbesondere aber in Thüringen daheim waren, ist nahezu ausgegangen. Sie waren es, die den ganzen Wald musikalisch stimmten, nicht die vielen fürstlichen Capellen allein, wie vornehme Hof- und Kammerschreiber dafür halten wollen. Daß der ganze Wald noch heute klingt und singt, das haben diese alten Cantoren gethan, die ja alle zugleich als Schulmeister ihr Stück Arbeit mit den lieben Augäpfeln des Volks hatten; aus diesen aber zogen sie die Kräfte für die Soli und Chöre ihrer Kirchenmusiken empor, die ja von je als der Cantoren höchster Triumph anerkannt worden sind. Wer sah es dem Manne nicht auf hundert Schritte an, daß er Bakel und Tactirstab in derselben gewaltigen Faust hielt? daß sein majestätischer Blick Heere von Noten und Schaaren von Kindern – Noten- und Kinderköpfe mit gleicher Strenge und Gewissenhaftigkeit – zu beherrschen gewohnt war? Alles, auch die häusliche Sprache, nahm musikalisches Gewand an; an des Vaters Antlitz lernten die Kinder, was Harmonie und Dissonanz, was Dur und Moll, Piano und Fortissimo zu bedeuten habe, und wenn die Mutter ihm den Abendtrunk aus dem großen Steinkrug in ein Glas einschenken wollte, war es ein wohlverstandenes Wort, wenn er sprach: „Nein, liebe Alte, gieb mir nur gleich die Partitur her.“ –

Vor Allem gehörte aber Das zum Unterschied zwischen Damals und Jetzt, daß für jene alten Cantoren und Organisten die Musik etwas so Erhabenes war, wie die Andacht und das Gebet, deren Werth sie auch nicht nach Geld abschätzten. Die Musik war ihre Liebe, ihre Freude, ihr Trost, ihr Stolz, ihre Gesundheit, ihr Glück. Wo hätte ein solcher Alter je geklagt: „Meine musikalischen Leistungen werden mir zu schlecht bezahlt“? – Was ihm schlecht bezahlt wurde, konnte nur die Schulmeisterei sein: die Musik war sein Ehrenamt, sein Ehrenkleid, und was Werkeltags in der Schule gesungen und musicirt wurde, erschien seinem Auge nur als ein schmückender Saum am Alltagsrock. – Und eben darum, weil die Frau Musica des Vaters Herzallerliebste war, so ging ihm auch Nichts über die Sorge, seine Kinder sammt und sonders und möglichst frühzeitig in den Dienst seiner Madonna einzuweihen. Aus den Cantorenhäusern sind der deutschen Tonkunst ihre größten Meister hervorgegangen. – Jetzt ist’s freilich damit anders, die Berufsbezeichnung wird zugleich als eine billige Art von Belohnung benutzt; denn wenn ein armer Dorfschullehrer sein fünfzigjähriges Amtsjubiläum begeht, folglich so alt ist, daß er nicht mehr singen kann, so erhält er den Titel „Cantor“.

Auch unsere Nachtigall hat zuerst in einem solchen Thüringer Waldhäuschen gezwitschert. Von den Söhnen des alten Cantors Methfessel verriethen der älteste, Friedrich, und unser Albert ungewöhnliche Begabung für Musik. Es müßten freilich sehr alte Leute sein, die es gesehen hätten, aber von Hörensagen wissen’s Viele im Städtchen, was für ein rührendes Bild es gewesen, wenn der Vater mit dem Söhnchen auf dem Schooß auf der Orgelbank saß und Beide gemeinsam die Claviatur bearbeiteten. Albert’s Händchen verrichteten auf dem Manual, was sie eben ermachen konnten; das ihm Unmögliche besorgte Papa. Und fest sitzen mußte der kleine Reiter, mit gutem Schluß um des Vaters Knie, denn es durfte ihm Aug’ und Hand nicht beirren, wenn der Fuß des betreffenden väterlichen Beines auf dem Pedal das Seine that. Auch ein tüchtiger Sänger ward Albert schon als Knabe, und selbst die landüblichen Saiteninstrumente hingen für ihn nicht vergeblich an der Wand der Stadtilmer Cantorei; insbesondere hatte er es auf der Guitarre später zu hoher Meisterschaft gebracht. Schon im zwölften Jahre versuchte er sich in der Composition, und natürlich waren es Kirchenmusikstücke, zu denen sich der junge Geist kühn emporschwang, und die der Vater in der großen Kirche selbst aufführen ließ. Das Gefühl dieser Stunden soll einmal Jemand nachempfinden! – Außerdem war in dieser Stadtilmer Knabenzeit ihm noch das Denkwürdige widerfahren, daß die einzige, aber ungeheuere Ohrfeige, welche er von seinem Vater wegen unbefugten Rosenblätterrauchens aus einer alten abgelegten väterlichen Tabakspfeife erhalten, ihn für sein ganzes Leben zum abgesagten Rauchfeind machte.

Nach den Kirchenmusiken der zweite Stolz der alten Cantoren war – ein Sohn als Pfarrherr. Sie ließen sich’s sauer werden um die Erfüllung dieses Wunsches. Dem Cantor Methfessel ging’s aber übel damit. Schon hatte er die schweren Kosten des Studirens an seinen Sohn Friedrich gewendet, der 1796 endlich als Hauslehrer ihm aus dem Brod gekommen war, aber gleich darauf die Theologie mit der Hauslehrerstelle an denselben Nagel hing und sich ausschließlich der geliebten Musik zuwandte. Dafür sollte nun Albert die Kanzelehre des Hauses sichern, und zu diesem Behufe bezog er nach der Confirmation das Gymnasium zu Rudolstadt. Während nun Friedrich von seinem musikalischen Zugvogelleben nacheinander nach Alsbach, Rhena, Ratzeburg, Probstzella, Saalfeld, Koburg und Eisenach geführt wurde und nach und nach vierzehn Liedersammlungen herausgab, die den Vater so mit ihm versöhnten, daß er wieder nach Stadtilm zurückkehrte, flatterte auch Albert zu Rudolstadt in den bezaubernden Netzen der Musik. Nicht nur die treffliche fürstliche Capelle trug dazu bei, sondern auch der öffentliche Singchor, dem er sogleich beigetreten und dessen Präfect er später drei Jahre lang war. Solche Singchöre bestanden früher in den meisten Städten mit Gymnasien, welch’ letztere Baß und Tenor stellten, während die Rathsschulen die Alt- und Discantstimmen dazu lieferten. Diese „vollständigen Chöre“ hatten gegen die Verpflichtung, an hohen Feiertagen bei den Thurm- und Kirchenmusiken mitzuwirken, das Recht, wöchentlich zwei Mal auf den Straßen und bei „halben und ganzen Leichen“[1] um bestimmte Bezahlung zu singen. Ich weiß das sehr genau, denn ich selbst war mehrere Jahre Subpräfect und endlich sogar Präfect des Chors in Koburg und habe in den Straßen und auf dem Gottesacker meiner Vaterstadt mit meinem Chor viele hundert Male gesungen für die Lebendigen und für die Todten.

Mein College Methfessel war freilich ein anderer Präfect, als ich, denn er stattete die Singbücher seines Chors mit vielen selbstcomponirten Liedern, Motetten und Cantaten aus. Dazu sang er selbst wunderschön, war der liebenswürdigste Camerad und wegen seiner stets sorgsamen, netten äußern Haltung auch in den Familien bis zuhöchst hinauf gern gesehen. Trotz alledem lernte er brav, ward besonders ein fester Lateiner für’s ganze Leben und konnte schon 1807 mit voller Reife die Universität beziehen.

Es ist anzunehmen, daß er es in Leipzig anfangs redlich mit der Theologie meinte, schon seinem Vater zu Liebe, den damals der harte Schlag getroffen, daß seinen Sohn Friedrich im schönsten Mai und mitten aus der Composition einer großen Oper „Doctor Faustus“ der Tod abholte. Daß aber auch die Musik als heimliche Geliebte viel gefährlicher ist, wie als offenbar Verlobte, zeigte sich schon nach einem Jahr: auch Albert benutzte den Nagel, an welchen sein Bruder die Theologie gehangen hatte, und warf sich mit Leib und Seele Frau Musica in die Arme. Es [375] that nicht länger anders gut, der Melodienstrom drang mächtiger aus der jungen Seele heraus, als die Dogmatik hinein, das von je sang- und klangvolle Leipzig that das Uebrige und zum schönsten Glück winkte ihm noch die Fürstin von Rudolstadt, sich lieber für die Stellung ihres Kammersängers, als ihres Hofpredigers, vorzubereiten. Von dieser seiner huldvollen Gönnerin unterstützt, genoß er in Dresden den Unterricht des berühmten Kammersängers Francesco Ceccarelli aus Foligno, bis er selbst als ein solcher mit dem Jahre 1810 in Rudolstadt einziehen konnte.

Das Saalthal von Rudolstadt ist wegen seiner Anmuth bekannt; hat es doch unsern ernsten Schiller bis zum Verlieben und Verloben entzückt. Methfessel verwandelte es in ein musikalisches Wonnemeer, in welchem er fröhlich und frei über alle Thüringer Berge und Thäler schwamm. Nur ein Mal wäre er beinahe eingefangen worden, und zwar – seines Titels wegen! Es war just zur Rheinbundszeit, als Methfessel auf einem musikalischen Ausflug vor Hildburghausen ankam. Da das Bataillon im napoleonischen Dienst auswärts war, so stand die Land-Miliz Wache. Ein Mann mit der sogenannten Salzmetze dieser Truppe auf dem Kopf fragte am Thor unsern Wanderer nach Namen und Stand! „Methfessel, Kammersänger aus Rudolstadt,“ lautet die Antwort. – „Kammersänger?“ wiederholt der Mann; so was ist ihm noch nicht vorgekommen. Er ruft den Corporal, der das Verhör wiederholt. Dieselbe Antwort, dasselbe Staunen. „Was? Kammersänger? Ihne wolln mr die Späßle vertreib’! Marsch auf die Schloßwach’!“ commandirt der Corporal. Während sich aber die nöthige Begleitungsmannschaft aufstellt, überlegt er sich doch die Sache noch einmal. Mit großen Schritten auf und abgehend murmelt er: „Kammerdiener, Kammerhusar, Kammerjungfer, Kammerjäger, Kammermusicus – Kammersänger“ – und „Jo jo – me hattere – es gittere doch!“ (Ja ja, man hat deren, es giebt deren doch) ausrufend, entläßt er die Miliz und gestattet dem wie ein Kobold lachenden Methfessel seinen Einzug in Hildburghausen.

In Rudolstadt war es auch, wo die große Zeit der deutschen Erhebung ihn selbst zum ewig unvergänglichen Theil seines Kunstwirkens erhob: zu jenem Liederschatz, welcher, wie der deutsche Student nirgend in der Welt seines Gleichen hat, ebenso unser alleiniges Ureigenthum ist: das deutsche Commersbuch, das sich von allen anderen Gesang- oder Liederbüchern geistlicher und weltlicher Art so gründlich unterscheidet, wie sein Titel es gründlich bezeichnet. Nur wer weiß, was ein „Commers“ zu bedeuten hat, weiß das große Verdienst zu würdigen, welches Methfessel durch dieses „Commersbuch“ sich nicht blos um die gesammte deutsche Studentenwelt, sondern auch um dasjenige Philisterium erworben hat, welches aus bemoosten Häuptern besteht. Die ewige Jugend mit ihrer Vaterlands- und Freiheitsliebe, ihrer Liebeslust und Freundschaftsbegeisterung, ihrer Ehrenverfechtung bis zu dem tollsten Humor des Trinkgelags, dies Alles klingt und singt aus dem Buch heraus und selbst noch im ältesten Herzen wider. Methfessel selbst nennt sein Commersbuch (Vorrede zur fünften Auflage) „eine Frucht der deutschen Burschenschaft in Jena, jenes merkwürdigen, unvergeßlichen Vereins, mit dessen hervorragendsten Führern, Wesselhöft, v. Binzer, Horn, Riemann und Möller mich innige Freundschaft verband“.

Damals herrschte in jeder Beziehung noch Wahrheit im Lied. Man sang nicht blos um zu singen, sondern man verlangte einen innern Grund dazu und für die jeweilige Veranlassung das angemessene Wort. In einer verräucherten Kneipe oder im gasstrahlenden Concertsaal vierstimmig den „deutschen Wald hoch dort droben“ anzustimmen, – das war unseren Tagen vorbehalten. Jetzt singt man „Hinaus in die Ferne!“ und rührt sich nicht vom Platz dabei. Als Methfessel dieses sein Dicht- und Tonwerk zum ersten Male sang, schritt er mit der Guitarre im Arm den „Freiwilligen“ voran, welche aus Rudolstadt in den Befreiungskrieg zogen.

Es war eben eine jugendlichere Zeit. Wir müssen als Zeugen dafür Spohr’s Selbstbiographie citiren welche Folgendes erzählt: Im Frühling 1818 wanderten fünf Männer von honnettem Aeußern mit dem Ränzel auf dem Rücken die Bergstraße hinauf über Heidelberg zum Mannheimer Musikfest: es waren Spohr und Methfessel mit drei Thüringer Freunden. Methfessel hatte die Guitarre an der Seite hängen, und jeder der drei Thüringer trug ein Waldhorn auf dem Ranzen. Wo sie durch ein Dorf oder Städtchen kamen, da bliesen sie, spielten und sangen, von einem Schweife jubelnder Zuhörer gefolgt, stiegen auf die Burgen, ließen sich Essen und Trinken hinaufbringen und ihre Rundgesänge und Hornfanfaren in das weite blühende Land hinaustönen. Auf dem Heidelberger Schlosse, wo Methfessel besonders durch seine komischen Lieder ergötzte, die er meisterhaft zur Guitarre sang, wurden sie erkannt und von einer Deputation des Heidelberger Gesangvereins eingeladen, die Neckarfahrt nach Mannheim auf dem festlich geschmückten Schiffe des Vereins mitzumachen. Da begannen dann die fünf Wanderer ihr Blasen und Singen aufs Neue, bis sie in Mannheim landeten und dort als Ehrengäste begrüßt wurden. ‚Ja sogar eine Wohnung in einem Privathause wurde mir angetragen‘ fügt Spohr hinzu. Er lehnte aber dankend ab und schlief mit seinen Freunden auf der Streu, weil es in den überfüllten Wirthshäusern keine Betten mehr gab. – „Dies,“ so bemerkt hierzu Riehl in seiner wohlthuenden Charakteristik des Alten, „war in derselben Zeit, wo Spohr nach dem Erscheinen des Faust und der Zemire auf der Höhe seines Ruhms stand und Methfessel seiner größten Popularität sich erfreute. Wie anders pflegen jetzt unsere gefeierten Componisten zu den Musikfesten zu reisen! Sie können darum wohl noch Lieder vom Wandern singen, aber kein Lied, welches jeder Wanderer singt.“

Troubadourfahrten, wie die erzählte, ferner die mit dem Clarinettvirtuosen Joh. Sim. Hermstedt aus Langensalza, die durch gemeinsame Aufführung der von Methfessel componirten Stücke für Clarinette und Guitarre ein Triumphzug für Beide wurde, eine Rheinreise und Zusammenkünfte mit Spohr, Romberg, Weber mochten ihm endlich das Rudolstädter Leben zu engbegrenzt erscheinen lassen. Zwar wies er, auf Bitten des Hofs, einen Ruf als Operndirector in Prag zurück, konnte aber einige Jahre später einer Einladung nach Hamburg um so weniger widerstehen. Die Glanzpunkte seines Hamburger Lebens waren die Gründung der ersten Liedertafel Norddeutschlands und – in demselben Jahre, 1825 – sein gemeinsames Auftreten mit „Deutschlands erstem Improvisator“, das ich in dem Artikel mit dieser Ueberschrift (Jahrgang 1867, Seite 809) bereits geschildert habe.

O. L. B. Wolff und Methfessel – welche Schicksalsgenossen! Zu Freudenbringern geboren, Beide ausgestattet mit herzengewinnender, geistiger und körperlicher Anmuth, Beide hoch begabt für die seltene Kunst augenblicklichen Producirens und mit redlichem Fleiß jeder in hohem Grade ausgebildet in seiner Kunst – welch’ irdisches Glück mußte, bei kluger Benutzung solcher schafferüstigen Kraft, Beiden zum Schutz für ein sorgenfreies Alter sich ansammeln! Aber freilich – vom Dichten und vom Trachten erfordert jedes eine ganze Seele für sich, und darum ist der Poetenseufzer so gerecht:

Ihr Trachter in Ehren,
Uns Dichtern auch wären
Die sorgenumnachteten
Augen zu lichten,
Wenn die für uns trachteten,
Für die wir dichten.

Da Beide dem Troubadourleben ihre Zukunft nicht anvertrauen mochten, so griffen Beide nach dem noch jetzt sogenannten „sicheren Brod“ einer Anstellung. Zur selben Zeit (1832), wo Wolff nach Jena zog, um dort nach wenigen Jahren öffentlicher Ehre und häuslichen Glücks nach und nach zu verkümmern, ging Methfessel als Hof-Capellmeister nach Braunschweig und dort einem schließlich nicht besseren Schicksal entgegen.

Methfessel’s Tüchtigkeit in seinen musikalischen Leistungen steht für uns außer Zweifel, seine Thätigkeit als Operndirigent fand Anerkennung und seine Compositionen, namentlich für Männergesang, dem bis zu seinem Ende sein ganzer Geist gehörte, haben seinen Namen nicht aus dem Gedächtniß der Zeitgenossen verschwinden lassen. Damit können wir hier abschließen, um ungestört den Mann selbst noch ein wenig zu genießen.

Auch sein äußeres Leben gestaltete sich freundlich; er fand an der jugendlichen Sängerin Louise Emilie Lehmann eine in Liebenswürdigkeit mit ihm wetteifernde Gattin, die ihn mit zwei Töchtern beschenkte. Aber viel zu kurz war die reine Freude: schon im Jahre 1842 nöthigte ihn ein schweres Gehörleiden zur Niederlegung seines Amtes; eine geringe Pension trat an die Stelle der bisherigen Einnahme. Sein Fleiß und Ruf brachte wohl etwas [376] Gleichgewicht für den Ausfall, die Sorge war im Kampf mit dem heiteren Lebensgeist dennoch oft genug siegreich, und der unverwüstliche Humor hatte dann einen harten Stand in der sonst so hellen Seele. Da traf ihn (am 14. Mai 1854) der schwerste Schlag seines Lebens, der Tod seiner Gattin. Von den Jahren, die diesem Unglück folgten, gehören viele zu den recht freudenlosen des greisen Mannes, namentlich seitdem zu dem Gehörleiden noch eine Augenschwäche sich gesellte, die endlich in den grauen Staar überging. Weder recht hören, noch recht sehen können bei der Lebhaftigkeit des Geistes und der Gesundheit des Körpers, wie Methfessel Beides genoß, wahrlich, das will ertragen sein!

Eine Tugend Methfessel’s, welche den Leuten der auf Tact und Maß so streng angewiesenen Tonkunst sehr nahe liegen sollte und dennoch dem Musikantenblut so schwer fällt, war die Regelmaßigkeit und Mäßigkeit seines Lebens, mit welcher allerdings ein sichtliches Sträuben gegen das Altwerden und Altaussehen gleichen Schritt hielt. Mittags liebte er einen guten Tisch und wo möglich auch fröhliche Gesellschaft, weshalb der daheim Vereinsamte es vorzog, im „Wiener Hofe“ zu essen, wo er natürlich mit Aufmerksamkeit behandelt und bald für alle Fremden durch seinen sprudelnden Humor, seinen unerschöpflichen Anekdotenreichthum und seine Liebenswürdigkeit, besonders gegen die Damen, ein Gegenstand der Bewunderung wurde.

Sein Gang war im Alter langsam, aber ausdauernd, und er ging gern allein, obwohl dies wegen seines Gesichts- und Gehörmangels nicht immer ohne Gefahr für ihn blieb. Beim Bahnhof in Braunschweig war er einst nahe daran, unter einen Wagen zu kommen. Die ersten Glückwünschenden tröstete er damals über den kleinen Schrecken mit der Bemerkung: „Der alte Methfessel wird jetzt so oft übergangen, daß er zur Abwechselung auch einmal überfahren werden kann.“

Er arbeitete, soweit es seine Augen gestatteten, jeden Tag, componirte fort bis an’s Ende und war in der Korrespondenz ebenso unermüdlich als ungeduldig. Als ich ihm einmal in einer gar nicht so dringenden Sache nicht sofort antwortete, erhielt ich in drei Tagen noch fünf Briefe von ihm. Ueber die Photographie zu dem Porträt, welches die Gartenlaube heute von ihm mittheilt, schrieb er mir: „Sehen Sie sich ’mal das Bild genau an; es ist so ähnlich, daß mir einst ein Freund sagte, es sei noch ähnlicher als ich!“ Der Schluß eines seiner letzten Briefe lautete: „Die Mittheilungen, welche ich jetzt bearbeite, nenne ich ‚Erinnerungen, Lebensbilder und Reiseskizzen von Albert Methfessel‘.“ Leider sind diese unvollendet, ja wohl gar unangefangen geblieben.

Des Alten letzte große Freude in Braunschweig war das Jubiläum, mit welchem am 6. October 1864 sein achtzigstes Geburtsfest begangen wurde und an dem die deutsche Sängerwelt, durch die Müller’sche „Neue Sängerhalle“ angeregt, durch Ehrengaben und Grüße freudig Theil nahm. Bei dieser Gelegenheit erhielt er von der Universität Jena das Ehrendiplom eines Doctors der Philosophie.

Endlich wurde doch das Alter auch über ihn Herr; dazu kamen die Alltagssorgen, die dem so Hochbetagten mancherlei für ihn schwere Entbehrungen auferlegten, und häuslicher Kummer, der ihn schließlich bewog, Braunschweig zu verlassen und bei seiner älteren Tochter, der Gattin des Pastors zu Heckenbeck bei Gandersheim, Zuflucht für seine letzten Lebenstage zu suchen. Hier kam er zu Anfang des köstlichen Mai des vorigen Jahres an, und wie freute er sich, „im Grünen“ zu sitzen, denn jeder Freude war sein kindliches Gemüth so gern offen, und mit welch echtem Dichterherzen wußte er sich zu freuen! Aber schon zu Anfang August pochte ernstlich der Tod an: ein Schlaganfall nahm ihm den Rest von Hör- und Sehkraft und lähmte ihm die Sprache. Ein entsetzlicher Zustand für den immer hastiger fortarbeitenden, nur in der Mittheilung seligen Geist! Noch einmal siegte die urkräftige Natur der alten Wald-Nachtigall: „Die Sprache hat sich gebessert,“ konnte er Mitte September in einem Bulletin an seine Freunde verkünden. „Meine Stimme ist gefügiger geworden, wenn auch nur auf eine halbe Octave reducirt, g—d. Mit diesen fünf Tönen kann man noch viel dictiren. Also: Non omnis moriar!“

Nach einem schweren Winter brachte der lachende Frühling den Alten an das letzte Ziel. Die Auflösung des im Tonreich fortarbeitenden Geistes kündigte sich bei ihm ähnlich wie bei Rückert an. „Weißt Du, mir ist heute so urweltlich zu Muthe,“ sprach der Dichter an seinem Todestage zu seiner Tochter Marie. „Horizont, darunter Wasser – endlos, gestaltlos.“ Und ein andermal hörte er „die Quellen des Paradieses“ rauschen. Methfessel hörte mehrere Wochen lang vor seinem Tode eine „Geister-Capelle“, die ihm die allerschönste Musik vortrug und ihn wahrhaft beglückte, bis es ihm endlich des Schönen doch zu viel wurde: die Musik seines überreizten Gehirns ließ ihn nicht mehr schlafen. Da vermuthete er, daß auch Feinde sich in diese Capelle eingeschlichen haben müßten, an die er nicht selten laute Worte richtete. „Liebe Freunde und Feinde, manche schöne Stunde verdanke ich Euch, jetzt aber will ich Ruhe haben!“ – Und diese fand er, freilich nach schwerem Todeskampf, am dreiundzwanzigsten März, früh halb zwei Uhr, der wunderbaren Zeit, wo die meisten Seelen vom Leibe scheiden.

Albert Methfessel, dessen Melodien viele Tausende gesungen haben und noch singen werden, ist am fünfundzwanzigsten März auf dem Dorfkirchhof von Heckenbeck ohne Sang und Klang in die Erde gelegt worden. Das ist das Härteste, was ihm zu guter Letzt widerfahren konnte. Dieses Vergehen muß wieder gut gemacht werden. Wie der alte Nürnberger Grübel würde auch Methfessel für sein Grab sich nichts gewünscht haben, als: „a Stala und an Weidenbahm“. Ihr deutschen Sänger allerorts, verschafft es ihm: „einen Stein und eine Trauerweide“, aber singt dann auch bei der Weihe der Stätte, wie sich’s gebührt. So traurig scharrt man keine Nachtigall ein, am wenigsten die älteste von Thüringen!



  1. Chorgeschäftliche Benennung für die Leichenbegängnisse, je nachdem dabei der ganze oder nur der halbe Chor zu singen hat.