Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)/Misericordias Domini
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Am Sonntage Misericordias Domini.
- 21. Denn dazu seid ihr berufen. Sintemal auch Christus gelitten hat für uns, und uns ein Vorbild gelaßen, daß ihr sollt nachfolgen Seinen Fußstapfen; 22. Welcher keine Sünde gethan hat, ist auch kein Betrug in Seinem Munde erfunden; 23. Welcher nicht wieder schalt, da Er gescholten ward, nicht drohete, da Er litte, Er stellete es aber Dem heim, der da recht richtet. 24. Welcher unsere Sünden selbst geopfert hat an Seinem Leibe an dem Holz, auf daß wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben; durch welches Wunden ihr seid heil geworden. 25. Denn ihr waret wie die irrende Schafe; aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.
WIr feiern heute den Sonntag, der seinen Namen vom guten Hirten trägt, weil man an ihm das schöne und herrliche Evangelium aus Joh. 10 liest, das von Christo, dem guten Hirten und Seiner Heerde handelt. Der Sonntag verdient durch seine evangelische Lection den auszeichnenden Namen „Sonntag des guten Hirten“. Er verdient ihn aber auch durch die epistolische Lection; denn auch diese handelt vom guten Hirten und Seiner Nachfolge. Evangelium und Epistel stehen in seltenem Einklang mit einander, in einem Einklang, den man nicht suchen muß, der auch keines Nachweises bedarf, sondern im Gegentheil so augenfällig ist, daß vielleicht ein jeder, dem man die Aufgabe machen würde, zum Evangelium eine entsprechende Epistel zu suchen, nach derselben Stelle der heiligen Schrift, nach unserem Texte greifen würde. Es fällt daher derjenige Eingang, welchen diese Epistelvorträge zu haben pflegen, diesmal ganz weg, oder geräth doch ganz kurz. Da ich gewöhnlich den Zusammenhang der Epistel mit dem Evangelio nachzuweisen pflege, diesmal aber, wie gesagt, kein Nachweis nöthig ist, so komme ich schnell zum Texte und kehre ihm alsbald Auge und Aufmerksamkeit zu.
Schon einmal, nämlich am sechsten Sonntag nach dem Erscheinungsfeste Christi, hat uns die Epistel Gelegenheit gegeben, darauf hinzudeuten, wie nach dem Willen des HErrn die Sklaven, also gerade diejenige Menschenklasse, welche so zu sagen, aller Menschenrechte verlustig ist und fast dem Thiere gleich steht, von dem HErrn auserwählt sind, die leuchtendsten Denkmäler und Zeugnisse Seiner umgestaltenden Gnade zu werden. Weil sie am tiefsten erniedrigt sind dem leiblichen Loose nach, sollen sie geistlich am höchsten erhöht werden, wie denn der HErr gerne die Niedrigen erhöhet, den Demüthigen Gnade erweist und mit denen zu Ehren wird, deren Gesellschaft von den stolzen Freien dieser Erde gerne gemieden wird. In jener Epistel des sechsten Epiphaniensonntags bildet gerade die Verklärung des Sklavenstandes die höchste Höhe. Das ist nun zwar in dem heutigen Texte nicht der Fall, der Text selbst redet von den Sklaven kein Wort. Aber ist uns die heutige Epistel ihrem Inhalte nach ganz ohne Zweifel ein Lieblingstext im Kirchenjahre, so dürfen wir uns doch aus seinem Zusammenhang mit den vorausgehenden Versen sagen, daß er um der Sklaven willen geschrieben ist, ja daß er geradezu an sie gerichtet ist, und daß ein jedes Wort und jeder Satz, den er enthält, erst dadurch zu seiner ganzen und eigenthümlichen Beziehung kommt, daß man sie als an Sklaven gerichtet auffaßt. Bei diesen meinen Worten fürchte ich, meine lieben Brüder, nicht, von dem oder jenem unter euch die Rede zu hören, daß eine solche Beziehung auf die Sklaven dem ganzen Texte seine großartige Allgemeinheit nehme. Es kann überhaupt| einem Texte durch seine nächste und richtigste Auffaßung nichts genommen, nichts entzogen werden, was ihm gebührt, und wenn auch irgend eine falsche Auffaßung vernichtet, ein dem oder jenem Leser lieb gewordener Gedanke genommen wird, so wird man doch immer durch die Heimkehr und Einkehr zum richtigen Verständnis des göttlichen Wortes nur gewinnen können; es kann ja nur Gewinn sein, wenn man die Worte des heiligen Geistes in Seinem Sinne faßt. Das gilt auch bei unserem heutigen epistolischen Texte. Das Wort Petri von dem Hirten und Bischof unserer Seelen und seiner Nachfolge, ein Wort an die Sklaven. Nimmt dieses Thema der Sache etwas? Wenn es ein Wort an die Sklaven ist, gehört es deshalb den Freien nicht auch? Wenn es so gar ein Wort nur an die Sklaven ist, verliert es deswegen seine Ausdehnung und seine Beziehung auf dich und mich, wenn doch in Christo JEsu der Sklave und der Freie Einer sind, wenn sich im Heiligtum kein Knecht und kein Freier, sondern eitel Knechte Christi, eitel Gefreiete und Erlösete Gottes befinden? Werfet die eitle Furcht weg, und gebt getrost den Sklaven dies heilige Wort als ihr besonderes Eigentum, da euch damit nichts entwendet wird und sich kein Sklave über Diebstahl und Entwendung beklagen wird, wenn auch ihr mit niedersitzet bei Seiner Mahlzeit, die reich und überflüssig genug ist, die ganze Welt zu sättigen.Der Stand des Sklaven ist ein Stand unverschuldeter Leiden. Frei geboren, oder schon in der Sklaverei geboren, findet sich so ein armer Sklave in der Unterthänigkeit und Gewalt eines fremden Willens und muß es sich gefallen laßen, daß über ihn, seine Zeit und seine Kraft willkürlich verfügt wird, und ihm so Arbeit, wie Leid je nach seines Herrn Wohlgefallen zufließt. Da wird denn in unserem Texte dem leidenden Sklaven gesagt, daß dies Leiden sein Beruf sei und der enge, schmale, heilige Pfad der Nachfolge Seines ewig guten Hirten. „Dazu seid ihr berufen, heißt es, denn auch Christus hat gelitten für euch und euch ein Vorbild gelaßen, daß ihr sollt nachfolgen Seinen Fußstapfen.“ Siehe da JEsum im Leiden, im unverschuldeten Leiden für andere, im stellvertretenden Leiden, – JEsus im Leiden ein Vorbild, ein Vorbild nach Gottes Absicht, in Deßen Fußstapfen wir alle, voran die berufenen christlichen Sklaven wandeln sollen! Der leidende Christus, unser Vorbild! Kannst du dir ein Vorbild denken, das ehrwürdiger, glänzender, und wenn auch nicht durch die Tiefe der Leiden, so doch durch die Tugend der Verleugnung und durch die Herrlichkeit des Zieles und Erfolges einladender wäre? Weißt du eine Nachfolge, die du lieber wählen möchtest, als Christo nach, durch die Schmach, durchs Gedräng von auß’ und innen, das Geraume zu gewinnen, deßen Pforten JEsus brach? Geht es zu tiefen Thalen, so hebt sichs doch auch wieder zu großen Höhen; sinkt man hinein in tiefe Leiden, so gelangt man doch hernach auch wieder zu großen Freuden, zu einem Glücke, das nimmer aufhört, zu einem Wohlsein, das keine Grenzen hat. Darum sieh nur auf den Anfänger und Vollender, den Vorgänger, den Herzog aller Heiligen, und wandle Ihm nach, so aber, daß du würdig erfunden wirst bis ans Ende und bis zum Ziele des Weges deinem HErrn nachzugehen. Um aber das zu können, so beschau dir das Beispiel deines Christus recht genau und präge dir den Weg damit recht fest ein, den du wandeln sollst!
St. Paulus beschreibt dir das Vorbild deines HErrn bis ins einzelne: „Er hat keine Sünde gethan, auch ist kein Betrug in Seinem Munde erfunden worden.“ Das sind die Worte Pauli, aber auch die Worte Jesaiä des Propheten im neunten Vers des dreiundfünfzigsten Kapitels seiner Weißagungen, also die Worte der Propheten und der Apostel, das Licht und die Ueberzeugung des alten und des neuen Testamentes, des Israel vor und nach der Geburt Christi, der Kirche aller Zeiten. In diesen Worten liegt uns JEsu Christi vollkommenes sittliches Vorbild klar und hehr aufgedeckt, und wir, Seine armen Nachfolger, würden bei der Erkenntnis unserer tiefen Armuth, Schwachheit, Bosheit, Sünde schon bei diesen ersten Grundzügen des Bildes Christi Lust und Muth der Nachfolge verlieren, wenn uns nicht die unbeschreibliche göttliche Anmuth des Bildes Christi anzöge, und Sein guter Geist uns bei all unserer Schwachheit auf Seinem Weg erhielte. Der heilige Jakobus in seinem wunderschönen Briefe sagt: der erst sei der vollkommene Mann, welcher auch in keinem Worte fehle. Wo wird man einen vollkommenen Mann finden, wo den, der auch in keinem Worte fehlt? Hier ist der vollkommene Mann, hier ist der Mensch ohne Tadel, JEsus Christus, der keine Sünde gethan, in deßen Munde kein Betrug, kein Falsch, kein Hehl, kein Irrtum erfunden ist, der untadelich Reine, an deßen Verhalten und Reden auch die Sonne des göttlichen Auges keinen Mangel fand und welchem der Vater zu dreien Malen vom Himmel her das Zeugnis gab, daß Er an Ihm Wohlgefallen habe.
Der dreiundzwanzigste Vers, der nun in unserm| Texte folgt, scheint nur eine Erläuterung des zweiundzwanzigsten zu sein und von nichts anderem zu sprechen, als von der Vollkommenheit JEsu im Gebrauche der Zunge. Er schließt sich eng an den Vers vorher an und führt die Rede desselben fort mit den Worten: „Welcher nicht wiederschalt, da Er gescholten wurde, nicht dräuete, da Er litte, es aber Dem anheimstellte, der da recht richtet.“ Doch darf man bemerken, daß dieser Vers, wenn überhaupt vom Gebrauche der Zunge, doch mehr vom Schweigen handelt, als vom Reden, daß er uns mehr ein Beispiel vom Nichtgebrauch, als vom Gebrauch der Zunge gibt. Der nicht wiederschilt, der nicht dräuet, sind nicht beide vielmehr Schweigende, als Redende? Und wenn einer dem gerechten Richter in der Höhe die Beurtheilung seiner Lästerer und Verfolger überläßt, sich selbst mit dem Urtheile gar nicht bemüht, geht nicht auch der, ich sage nicht bloß in äußerer, sondern auch in innerer Stille mitten hindurch durch seine Feinde, schweigt nicht ein solcher doppelt, äußerlich und innerlich?Diese Auslegung auf das Schweigen JEsu und auf die Empfehlung des Schweigens, welche in Seinem hohen Vorbild für die gescholtenen und leidenden Sklaven und für alle verfolgten und leidenden Christen ausgesprochen ist, wird auch ihr gewisses Recht behaupten, und man kann sagen, wer dem schweigenden Christus, der wie ein Lamm zur Schlachtbank und zum Scheerer geführt wurde, ohne Seinen Mund aufzuthun, in Seinem heiligen Schweigen nachfolge, der studire eine hohe Kunst und leiste in tiefer Stille mehr als viel tausend Zungen mit ihrem unermüdlichen Tönen.
Es liegt in dem Schelten eine gar mächtige Herausforderung zum Wiederschelten, wie sich denn auch die ganze Welt für entschuldigt hält, wenn sie nur den Anfang zum Schelten nicht machte, wenn nur ihr Schelten das bloße Echo des Scheltens anderer war. Ebenso liegt in der Ohnmacht des Leidenden, der sich seiner Verfolger nicht erwehren kann, ein starker Antrieb zum Drohen und zwar im Namen des Allerhöchsten, und man könnte wohl eine große Anzahl von Beispielen solcher aufbringen, die unter den Händen ihrer Peiniger und Mörder sich in unzählige Drohungen ergoßen haben. Wer unter kleinen Leiden, wie sie uns vorzukommen pflegen, auf sich selbst geachtet und über die Regung seiner Seele gewacht hat, der wird es wohl bestätigen, daß Schweigen, zumal inneres und äußeres, keine kleine Selbstverläugnung für den ist, dem Unrecht geschieht. Die meisten gehen in solchen Fällen den Weg des geraden Gegentheiles, und das Geschrei der Verfolgten und Leidenden ist allenthalben groß in der Welt. Seltener noch als das pure Schweigen ist aber die Seelenstille und der innere, feierliche Sabbath, da man sich in Verläumdung und Verfolgung bei dem Weh und Leid gar nicht aufhält, anderen beßeren Gedanken nachgeht und Gott dem HErrn das Urtheil über das erlittene Unrecht ganz und gar anheim gibt.
Das ist hohe Einfalt und große Tugend. Und doch wird mit dieser Erkenntnis der Sinn unseres Textesverses keineswegs erschöpft. Die einzelnen Worte des Verses sind denen der zehn Gebote zu vergleichen, die, wo sie verbieten, ein Gebot einschließen, und wo sie gebieten, ein Verbot in sich tragen. Unser HErr schalt nicht bloß nicht wieder, wenn Er gescholten ward, sondern Er segnete dagegen, Er drohete nicht bloß nicht, da Er litte, sondern Er betete voll Inbrunst für Seine Verfolger; Er stellte auch nicht bloß das Urtheil dem gerechten Richter anheim, sondern Er opferte sich auf und brachte Sein Blut und Leben zu einem Lösegeld für Seine Beleidiger dar. Die heilige Zurückhaltung, welche unser Vers im Ausdrucke braucht, muß uns ermuntern, zu den Worten Gottes diejenigen Zusätze zu machen, die wir nach andern Stellen desselbigen göttlichen Wortes machen dürfen, und eben damit das heilige Beispiel JEsu in seinen ganzen Glanz zu sehen. Es ist jedoch nicht bloß ein schweigender JEsus, der uns demnach vorgestellt wird, auch ist es nicht bloß die Absicht des heiligen Apostels, im Nichtgebrauch der Zunge einen Theil des rechten Gebrauches zu lehren. Es soll uns überhaupt nicht allein gezeigt werden, was einst ein Prediger seinem Volke im Leiden JEsu zeigte, daß man zu rechter Zeit reden, zu rechter Zeit schweigen solle, sondern, wenn uns der zweiundzwanzigste Vers unseres Texteskapitels die Sündlosigkeit JEsu im hellen Strahle zeigt, so offenbart uns der dreiundzwanzigste Sein liebevolles Herz und macht damit den würdigen Uebergang zum vierundzwanzigsten Verse, in welchem wir den vollkommenen| JEsus, den Menschensohn voll Liebe in Seinem priesterlichen Amte und in Seinem Hunger und Durst nach der heiligen Absicht Seines priesterlichen Amtes schauen. „Er hat unsere Sünden selbst geopfert an Seinem Leibe auf dem Holze, auf daß wir der Sünde abgestorben der Gerechtigkeit leben, durch welches Wunden ihr seid heil worden.“ So lautet der vierundzwanzigste Vers. Das priesterliche Amt JEsu erscheint in demselben als die Fülle Seiner göttlichen Liebe. Der Apostel hat gar nicht vor, eine Belehrung über das priesterliche Amt des HErrn zu geben, sondern seine ganze Absicht ist, den Sklaven und allen Christen in Christo JEsu das vollkommenste Vorbild für die Zeit der Verfolgung und ungerechten Behandlung der Menschen zu geben. So gar nicht ließ Er sich erbittern, so wenig machte Er sich der Sünden Seiner Feinde theilhaftig, so völlig verzieh Er allen denen, die Ihm Leiden und Jammer verursachten, daß Er durch Seine Wunden sie heilen wollte und die ungerechten Leiden, die Ihn trafen, zu Versöhnungsleiden machte, Seine Kreuzigung zu einer Aufopferung für uns und Sein Blutvergießen zu einer Herstellung eines vollkommenen Reinigungsmittels für alle Sünden. Ein höheres Beispiel der vollkommenen Liebe im Leiden läßt sich nicht geben, nicht auffinden, nicht denken. Juden und Heiden behandeln unsern HErrn also und überschütten Ihn mit solcher Pein und Noth, daß man Ihn für einen von Gott geschlagenen und gemarterten halten konnte. Die Menschen gehen darauf aus, Ihn zu tödten und vom Plane der Welt wegzuschaffen: himmelschreiend ist ihr Benehmen. Was aber thut Er? Er schreit, und Sein Blut schreit lauter, als die Ungerechtigkeit um Rache ruft, um Erbarmung, und die Schmerzen Seiner Leiden und Seines Todes, mit welchen Ihn die Bosheit überschüttet, weiß Er, ich wiederhole und möchte es tausend mal wiederholen, umzuwandeln in Versöhnungs- und Erlösungsschmerzen und in einen Opfertod, durch welchen die ganze Menschheit straffrei wird, ja so heil und umgewandelt, daß sie der Sünde abstirbt und der Gerechtigkeit lebt. So wird aus dem Uebelthäter, den Pilatus verdammte, zugleich der Hohepriester und das Opfer der Welt, und mit dem heillosesten verdammlichsten Morde des Heiligen Gottes vereinigt sich wunderbarlich die selige Absicht unserer ewigen Erlösung. Mit der That der tiefsten Finsternis fällt zusammen die That des größten Lichtes und der Liebe, und dicht neben der Bosheit der Juden erscheint sieghaft und triumphirend eine Liebe, welche es unternimmt und vermag, die gottlosen Mörder zu reinigen, zu heiligen und zu ihrer Beute zu machen.
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